L 1 U 1303/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 1 U 7023/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 1303/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 22.02.2012 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung einer Berufskrankheit (BK) nach der Nummer 1303 und nach der Nummer 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) im Streit.

Der 1938 geborene Kläger stellte am 20.03.2001 bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten Antrag auf Feststellung seiner Gesundheitsbeschwerden als BK, wozu er auch auf ein hirnorganisches Psychosyndrom mit Persönlichkeitsstörung und depressive Verstimmungszustände verwies. Der Kläger brachte diese Beschwerden in Verbindung mit seiner beruflichen Tätigkeit als Spritzlackierer und Entgrater bei verschiedenen Arbeitgebern bis zum 18.11.1986. Bei seinen Tätigkeiten hatte der Kläger nach den von der Beklagten aufgenommenen Ermittlungen Umgang mit Spezialverdünnung, Decklacken, Polyesterharz, Aceton, Beschleuniger, lufttrocknendem Motorenlack und Feinstäuben. Die Beklagte zog außerdem eine Vielzahl von Befundberichten der behandelnden Ärzten des Klägers bei. Der Beklagten lag unter anderem ein Bescheid des Versorgungsamtes S. vor, durch den ab 03.03.2000 ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 sowie das Merkzeichen "G" festgestellt worden waren. Als Behinderungen waren hierin anerkannt eine psychische Behinderung, eine chronische Bronchitis, eine Lungenventilationsstörung, degenerative Veränderungen an Hals- und Lendenwirbelsäule mit Funktionsbeeinträchtigung und zeitweiligen Muskelreizerscheinungen, sowie eine Neigung zu Hypotonie mit Schwindelerscheinungen.

Der von der Beklagten beauftragte Gutachter Dr. P. (Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin C.-R.) stellte am 23.11.2001 eine obstruktive Atemwegserkrankung sowie ein hirnorganisches Psychosyndrom, verbunden mit einer Persönlichkeitsstörung und depressiven Verstimmungszuständen fest. Unter Hinweis auf die Ausführungen des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) vom 24.09.2001, wonach eine weit grenzwertunterschreitende Lösungsmittelexposition stattgefunden habe, sei nicht von einer relevanten Schadstoffbelastung auszugehen. Auch eine eventuelle Gefährdung durch Isocyanate sei aus den Akten nicht ersichtlich; insofern wurden auf Wunsch des Gutachters weitere Ermittlungen durchgeführt, zu denen Dr. P. am 29.04.2002 die Auffassung vertrat, dass eine relevante Lösemittelexposition unter Tragen einer Schutzmaske allein für den Zeitraum von 1971 bis 1973/1974 nachgewiesen werden könne. Bei der Tätigkeit seit 1981 habe keinerlei Lösemittelexposition bestanden. Da der Krankheitsverlauf sich gegenläufig zur Exposition erst Anfang der 80er Jahre entwickelt habe und 1986 eine Verschlimmerung des Leidens eingetreten sei, zudem eine depressive Erkrankung als Hauptsymptom nicht charakteristisch für eine Lösemitteleinwirkung sei, handele es sich beim Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein schicksalsbedingtes Leiden. Die Anerkennung einer BK nach der Nummer 1303 oder einer BK nach der Nummer 1317 der BKV wurde nicht empfohlen. Der Staatliche Gewerbearzt Dr. G. schloss sich dem mit Stellungnahme vom 27.05.2002 im Hinblick auf die BK nach der Nummer 1317 der BKV an.

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 24.06.2002 lehnte die Rechtsvorgängerin der Beklagten die Gewährung von Leistungen und die Feststellung der geltend gemachten Berufskrankheiten unter Hinweis auf das Gutachten des Dr. P. ab.

Der Kläger sprach am 24.02.2011 bei der Beklagten vor und beantragte erneut die Anerkennung seiner Erkrankungen als BK sowie die Gewährung einer Verletztenrente. Er legte zur Begründung den bereits aktenkundigen Bescheid des Versorgungsamtes S. vor, durch den ab 03.03.2000 ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 sowie das Merkzeichen "G" festgestellt worden waren (vgl. Bl. 114, 217 der Verwaltungakte).

Die D. R. (DRV) teilte auf Anfrage der Beklagten mit, dass der Kläger Altersrentenbezieher sei und ärztliche Unterlagen bei ihr nicht mehr vorlägen.

Mit Bescheid vom 28.03.2011 lehnte die Beklagte die Rücknahme des bestandskräftigen Bescheides vom 24.06.2002 nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ab. Es lägen keine Erkenntnisse oder Hinweise vor, die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Ablehnungsbescheides begründeten.

Seinen deswegen eingelegten Widerspruch begründete der Kläger damit, dass seine Altersrente zu niedrig sei und die in seinem Berufsleben erworbenen Erkrankungen nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 19.07.2011 zurückgewiesen.

Der Kläger hat am 17.08.2011 Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben, mit der er zugleich die Anerkennung einer BK nach der Nummer 4302 der Anlage 1 zur BKV geltend gemacht hat (Aktenzeichen S 1 U 4788/11; vgl. hierzu das Parallelverfahren L 1 U 1304/12 bei dem erkennenden Senat). Das SG hat die vorliegende Klage mit Beschluss vom 13.12.2011 abgetrennt und unter dem Aktenzeichen S 1 U 7023/11 fortgeführt.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage auf Anerkennung der Berufskrankheiten Nummern 1303 und 1317 der Anlage 1 zur BKV mit Gerichtsbescheid vom 22.02.2012 als unbegründet abgewiesen. Mit dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten des Dr. P. komme die Kammer zu dem Ergebnis, dass ein schicksalsmäßiger Krankheitsverlauf anzunehmen sei. Neue Tatsachen seien im Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X nicht vorgetragen worden. Auch eine zwischenzeitliche Verschlimmerung der psychiatrischen Erkrankungen könne einen Kausalzusammenhang mit der Ende 1986 aufgegebenen Berufstätigkeit nicht mit der erforderlichen notwendigen Wahrscheinlichkeit begründen. Der Gerichtsbescheid ist dem Kläger am 29.02.2012 zugestellt worden.

Am 27.03.2012 hat Herr M. D. als Bevollmächtigter des Klägers beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) Berufung eingelegt. Die Berufskrankheit könne durch ein Gutachten einer Klinik für Arbeitsmedizin nachgewiesen werden, welches vom SG jedoch nicht eingeholt worden sei. Es werde beantragt, ein Gutachten bei einer Klinik für Arbeitsmedizin einzuholen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 22.02.2012 sowie den Bescheid der Beklagten vom 28.03.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2011 aufzuheben und die Beklagte unter Rücknahme ihres Bescheides vom 24.06.2002 zu verurteilen, bei ihm das Vorliegen von Berufskrankheiten nach den Nummern 1303 und 1317 der Anlage 1 zur BKV festzustellen und aus diesem Grund eine Verletztenrente zu gewähren, hilfsweise die Einholung eines Gutachtens einer Klinik für Arbeitsmedizin.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Mit Senatsbeschluss vom 27.08.2012 ist Herr M. D. als Bevollmächtigter des Klägers im vorliegenden Verfahren zurückgewiesen worden. Am 30.08.2012 ist im LSG ein Erörterungstermin durchgeführt worden.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten sowie die Akten des SG und des LSG Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143 f. und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung ist nicht begründet.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X in der seit dem 18.01.2001 geltenden Fassung ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Ziel des § 44 SGB X ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zu Gunsten letzterer aufzulösen (BSG SozR 3-1300 § 44 Nr. 24). Ist ein Verwaltungsakt rechtswidrig, hat der betroffene Bürger einen einklagbaren Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsaktes unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde (BSGE 51, 139, 141 = SozR 3900 § 40 Nr. 15; BSG SozR 2200 § 1268 Nr. 29). Auch wenn der Versicherte schon wiederholt Überprüfungsanträge nach § 44 SGB X gestellt hat, darf die Verwaltung einen erneuten Antrag nicht ohne Rücksicht auf die wirkliche Sach- und Rechtslage zurückweisen. Entsprechend dem Umfang des Vorbringens des Versicherten muss sie in eine erneuten Prüfung eintreten und den Antragsteller bescheiden (BSG, Urteil vom 05.09.2006 - B 2 U 24/05 R -, BSGE 97, 54 m.w.N.).

Die Voraussetzungen einer Korrektur der angegriffenen Entscheidungen der Beklagten nach dieser Vorschrift liegen jedoch nicht vor, da Anhaltspunkte für eine unrichtige Rechtsanwendung oder für die Annahme eines unzutreffenden Sachverhalts nicht vorliegen. Das SG hat demgemäß die Klage zu Recht abgewiesen.

Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VII]). Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). In Nr. 1303 der Anlage 1 zur BKV sind Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe oder durch Styrol als BK aufgeführt. Nach der Nr. 1317 der Anlage 1 zur BKV sind auch eine Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische als BK anerkannt.

Anhaltspunkte dafür, dass eine der genannten Berufskrankheiten beim Kläger vorliegt, sind weiterhin nicht vorhanden. Der Kläger hat im Überprüfungsverfahren lediglich einen bereits bekannten Bescheid des Versorgungsamtes S. vorgelegt, dem sich für die entscheidende Frage der Verursachung seiner Erkrankung keine wesentlichen Anhaltspunkte entnehmen lassen. Auch der Vortrag des Klägers, dass seine Erkrankungen sich verschlimmert hätten, legt es nicht nahe, die Frage nach der Kausalität seiner Leiden neu zu bewerten. Schließlich sind auch seine Ausführungen zu seiner aus seiner Sicht zu niedrigen Altersrente kein hinreichender Grund für weitere Ermittlungen oder eine andere Entscheidung im Sinne von § 44 SGB X. Auch sonst sind aus den Akten keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass bei den Ablehnungsentscheidungen der Beklagten eine falsche Tatsachengrundlage bestand oder eine unrichtige Rechtsanwendung erfolgte. Die vom Kläger hilfsweise beantragte Einholung eines Gutachtens einer Klinik für Arbeitsmedizin war daher nicht veranlasst.

Zur Vermeidung von Wiederholungen wird daher nach § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden und ausführlichen Entscheidungsgründe in dem angegriffenen Gerichtsbescheid des SG Bezug genommen, denen der Senat sich ausdrücklich anschließt. Danach ist davon auszugehen, dass die vom Kläger für seinen Überprüfungsantrag angeführten Erkrankungen (obstruktive Atemwegserkrankung, hirnorganisches Psychosyndrom, Persönlichkeitsstörung und depressive Verstimmungszustände) nicht auf seine beruflichen Gesundheitsbelastungen zurückzuführen sind. Denn beim Kläger hat nur eine vorübergehende Lösungsmittelexposition stattgefunden. Die erst wesentlich später und nach dem Ende der Lösungsmittelexposition aufgetretenen Erkrankungen können angesichts des geschilderten Krankheitsverlaufs nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit mit der Berufstätigkeit des Klägers in Verbindung gebracht werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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