L 4 R 3773/12 B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 21 R 5639/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 3773/12 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 09. August 2012 wird zurückgewiesen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Kläger betreibt die Ablehnung der gerichtlichen Sachverständigen, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie - Psychotherapie, Dr. W. (im Folgenden: Dr. W.) wegen Besorgnis der Befangenheit.

Streitgegenstand im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Stuttgart (SG) zu Aktenzeichen S 21 R 5639/11 ist die Zuerkennung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Im Zuge der medizinischen Sachaufklärung beauftragte das SG am 09. Februar 2012 Ärztin für Neurologie und Psychiatrie - Psychotherapie Dr. W. mit der Erstellung eines Gutachtens nach Untersuchung des Klägers. Dr. W. untersuchte den Kläger am 25. Februar 2012 im Beisein seines Sohnes und erstattete unter dem 15. Mai 2012 ihr schriftliches Gutachten. Darin stellte sie die Diagnosen Polytoxikomanie und Polyintoxikation, funktionelle cervikale und thorakale Schmerzen ohne fassbares neurologisches oder neuroradiologisches Korrelat sowie Normvariante der Persönlichkeit mit demonstrativ-akzentuierten und histrionischen Zügen. Sie führte aus, dass die vom Kläger geklagten Beschwerden vermehrtes Schwitzen, Angstzustände, Panik, Schlafstörungen und depressive Verstimmungen Ausdruck der Polyintoxikation, nämlich von Neben- und Wechselwirkungen der von ihm gleichzeitig eingenommenen Antidepressiva, Stimmungsaufheller, Schmerzmittel mit opioidähnlicher Wirkung und zusätzlichen Procaininfusionen seien. Weiterhin beschrieb sie u.a., der Kläger trage eine Leibbinde über der Oberbekleidung, also ohne jede Wirkung, ohne dass Kreuzschmerzen vorhanden seien. Im Ergebnis hielt Dr. W. den Kläger nach kontinuierlichem Absetzen der meisten Medikamente für leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens sechs Stunden werktäglich für leistungsfähig. Das Gutachten wurde dem klägerischen Bevollmächtigten am 21. Mai 2012 zur Stellungnahme binnen vier Wochen, mit der Anregung, die Klage zurückzunehmen, übersandt. Nach dem Beschwerdevorbringen habe er dieses am 23. Mai 2012 erhalten und es am selben Tag an den Kläger weitergeleitet. Der Kläger habe am 11. Juni 2012 in der Kanzlei seines Bevollmächtigten angerufen, sich völlig aufgelöst gezeigt und angegeben, im Rahmen der Begutachtung von der Sachverständigen beschimpft und beleidigt worden zu sein. Daraufhin habe sein Bevollmächtigter ihn aufgefordert, den Verlauf der Begutachtung schriftlich zu schildern, was er (der Kläger) mit Schreiben vom 12. Juni 2012 getan habe. In diesem von ihm mitunterzeichneten Schreiben schildert der Sohn des Klägers, die Sachverständige habe die Beschwerdeschilderung des Klägers unterbrochen und ihn als Lügner und Tablettensüchtigen bezeichnet, ihn angeschrien und ihm das Sprechen verboten. Er, der Kläger, habe dann nichts mehr sagen können, sei wie versteinert gewesen, sei aber auch nicht mehr zu Wort gekommen. Die Sachverständige habe ihn, den Kläger, gefragt, ob Ehefrau und Töchter Kopftuch trügen und seine Antwort, wonach seine Ehefrau, nicht aber seine Töchter ein Kopftuch trügen, mit: "Gott sei Dank, dass Ihre Töchter kein Kopftuch tragen", kommentiert. Er, der Kläger sei nach der Untersuchung in einem noch schlechterem Zustand gewesen als zuvor, er habe geweint und zwei Nächte nicht schlafen können. Am darauffolgenden Montag habe er seinen behandelnden Psychiater aufgesucht, den Vorfall geschildert und ein weiteres Beruhigungsmittel erhalten.

Mit Schreiben vom 18. Juni 2012, beim SG eingegangen am selben Tag, lehnte der Kläger die Sachverständige Dr. W. wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Fragen nach der Religionszugehörigkeit und nach dem Tragen eines Kopftuchs von Familienangehörigen hätten in einer Untersuchung nichts verloren. Ihn als tablettensüchtig zu bezeichnen, sei abwegig, da er nur die ihm verordneten Medikamente einnehme. Das Gutachten problematisiere nicht, ob er, der sich schon seit Jahren in nervenärztlicher Behandlung befinde, überhaupt in der Lage sei, die von der Sachverständigen so bezeichnete "Tablettensucht" zu überwinden. Der langjährige Verlauf zeige, dass dies offenkundig nicht der Fall sei, ganz abgesehen davon, dass damit nicht mehr von einer auch nur dreistündigen Erwerbsfähigkeit ausgegangen werden könne. Zu Recht weise der behandelnde Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Härter in seinem Arztbrief vom 12. Juni 2012 darauf hin, dass bei ihm, dem Kläger, auch eine Rentenneurose zu diskutieren sei.

Die Sachverständige nahm mit Schreiben vom 06. Juli 2012 Stellung zu dem Vorbringen. Die ihr unterstellten Äußerungen stellte sie in Abrede. Sie habe eine Bemerkung über die Vielzahl der vom Kläger eingenommenen Medikamente gemacht, ihn aber sicher nicht als tablettensüchtig bezeichnet. Die Frage nach dem Kopftuch habe sie gestellt, aber die Antwort nicht kommentiert. Der Kläger verkenne offensichtlich die Bedeutung der Diagnose Rentenneurose. Diese besage, dass jemand mit allen Mitteln Rente begehre und daher trotz der besten Therapien nicht gesunde. Insgesamt sei auffällig, dass der Kläger die Einwendungen gegen die Begutachtung erst nach Erhalt des Gutachtens und nicht unmittelbar nach der Untersuchung vorbringe, was den Gedanken nahe lege, dass das für ihn negative Gutachtensergebnis ausschlaggebend sei.

Mit Beschluss vom 09. August 2012 lehnte das SG das Ablehnungsgesuch ab. Hinsichtlich der Umstände der durchgeführten Untersuchung sei das Gesuch verspätet und deshalb unzulässig, da das Ablehnungsgesuch unverzüglich nach Kenntnis der das Gesuch begründenden Umstände, zumindest aber binnen zwei Wochen analog § 406 Zivilprozessordnung (ZPO) eingereicht werden müsse. Soweit der Kläger Gründe aus dem Gutachten und der ergänzenden Stellungnahme der Sachverständigen herleite, sei der Antrag nicht verspätet, aber unbegründet. Ein Grund, der geeignet sei, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der Sachverständigen zu rechtfertigen, liege nicht vor. Weder das Gutachten noch die ergänzende Stellungnahme ließen den Schluss zu, sie habe das Gutachten nicht unvoreingenommen oder unparteilich erstattet. Einwendungen gegen die angemessene Bewertung der erhobenen Befunde beträfen ausschließlich die im Rahmen der Beweiswürdigung zu beantwortende Frage, ob das Gutachten überzeugend sei und das Gericht ihm folge. Eine Besorgnis der Befangenheit begründe dies nicht.

Gegen den am 10. August zugestellten Beschluss hat der Kläger am 03. September 2012 Beschwerde eingelegt. Zur Begründung hat er vorgetragen, das Ablehnungsgesuch könne auch hinsichtlich der Untersuchungssituation nicht verfristet sein, denn er habe nicht gewusst, dass man eine Sachverständige wegen Befangenheit ablehnen könne. Nachdem er dies durch Hinweisschreiben seines Bevollmächtigten vom 11. Juni 2012 erfahren habe, habe er umgehend vorgetragen. Das SG setze sich in seinem Beschluss nicht ausreichend mit den vorgetragenen Befangenheitstatsachen auseinander, insbesondere zu der Frage nach dem Kopftuch und den Anmerkungen in der ergänzenden Stellungnahme zur Rentenneurose.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 09. August 2012 aufzuheben und das Ablehnungsgesuch gegen die Sachverständige Dr. Wagner für begründet zu erklären.

Die Beklagte hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.

II.

Die Beschwerde ist gemäß § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Ein Ausschluss der Beschwerde kann weder mit einer unmittelbaren noch mit einer entsprechenden Anwendung des § 172 Abs. 2 SGG begründet werden. Nach der genannten Vorschrift können u. a. Beschlüsse über die Ablehnung von Gerichtspersonen nicht mit der Beschwerde angefochten werden. Sachverständige sind jedoch keine Gerichtspersonen. Auch eine analoge Anwendung des § 172 Abs. 2 SGG kommt mangels ausfüllungsbedürftiger Regelungslücke nicht in Betracht (ebenso Landessozialgericht [LSG] Baden-Württemberg, 10. Senat, Beschluss vom 18. Juli 2012 – L 10 R 2296/12 B – veröffentlicht in Juris; LSG Baden-Württemberg, 8. Senat, Beschluss vom 25. Juni 2012 – L 8 SB 1449/12 B -, veröffentlicht in Juris; LSG Baden-Württemberg, 6. Senat, Beschluss vom 14. Februar 2011 – L 6 VG 5634/10 B -; LSG Baden-Württemberg, 13. Senat, Beschluss vom 25. Juli 2011 - L 13 R 2186/11 B -; LSG Baden-Württemberg, 13. Senat, Beschluss vom 10. Oktober 2012 - L 13 R 5773/11 B -, alle nicht veröffentlicht; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 04. Januar 2011 - L 4 KR 324/10 B – veröffentlicht in Juris; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 118 Rdnr. 12o sowie Leitherer, a.a.O., § 172 Rdnr. 3 und 6e; a.A. LSG Baden-Württemberg, 7. Senat, Beschluss vom 27. Januar 2010 - L 7 R 3206/09 B -, veröffentlicht in Juris).

Die statthafte Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Sie ist jedoch unbegründet. Denn das SG hat das Ablehnungsgesuch gegen die gerichtliche Sachverständige Dr. W. zu Recht abgelehnt. Das Ablehnungsgesuch ist, soweit es auf Umstände der Untersuchungssituation gestützt wird, unzulässig; soweit Gründe aus dem Gutachten selbst vorgetragen werden, unbegründet.

Nach § 60 SGG i. V. m. § 42 ZPO kann ein Richter - für Sachverständige gilt Entsprechendes (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 406 Abs. 1 ZPO) - wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Dies ist nicht erst dann der Fall, wenn der Richter oder Sachverständige tatsächlich befangen ist, sondern schon dann, wenn ein Beteiligter bei Würdigung aller Umstände und bei vernünftigen Erwägungen Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit und der objektiven Einstellung des Richters bzw. Sachverständigen zu zweifeln. Ein im Rahmen gebotener Verfahrensweise liegendes Verhalten kann keinen Ablehnungsgrund begründen.

Das Ablehnungsgesuch ist nach § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 406 Abs. 2 Satz 1 ZPO bei dem Gericht, von dem der Sachverständige ernannt ist, vor der Vernehmung des Sachverständigen zu stellen, spätestens jedoch binnen zwei Wochen nach seiner Ernennung. Nach Satz 2 der Regelung ist die Ablehnung zu einem späteren Zeitpunkt nur zulässig, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass er ohne sein Verschulden verhindert war, den Ablehnungsgrund früher geltend zu machen. Das Gesuch muss dann unverzüglich (vgl. § 121 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -) gestellt werden. Zweck des § 406 Abs. 2 Satz 2 ZPO ist nämlich die Beschleunigung des Verfahrens (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 118 Rdnr. 12l m.w.N.). Das Ablehnungsgesuch ist noch nach der Gutachtenserstattung möglich, wenn dem Beteiligten der Ablehnungsgrund vorher nicht bekannt war, insbesondere wenn sich dieser erst aus dem Gutachten oder den Umständen im Rahmen der Begutachtung ergibt. Das Ablehnungsgesuch muss dann aber unverzüglich nach Kenntnis des Befangenheitsgrundes gestellt werden, wobei der Beteiligte aber eine den Umständen nach angemessene Zeit zur Prüfung und Überlegung hat. Wird ein Sachverständiger wegen der Umstände im Rahmen der Untersuchung abgelehnt, ist grundsätzlich eine Zeit von wenigen Tagen ausreichend, da die Geltendmachung des Ablehnungsgrundes keiner sachlichen Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Gutachtens bedarf (Keller a.a.O. m.w.N.). Vorliegend ist das Ablehnungsgesuch vom 18. Juni 2012 hinsichtlich der Umstände der Untersuchung durch die Sachverständige Dr. W. verspätet. Denn die Untersuchung durch die Sachverständige Dr. W. erfolgte am 25. Februar 2012. Die vom Kläger behaupteten Vorgänge während der Untersuchung waren ihm an diesem Tag bekannt. Er hätte damit dies unverzüglich geltend machen müssen und nicht die Übersendung des Gutachtens durch das SG abwarten dürfen. Gründe, die den Kläger gehindert hätten, das Ablehnungsgesuch gegen die Sachverständige Dr. W. aufgrund der von ihm behaupteten Vorgänge während der Untersuchung unverzüglich nach der Untersuchung geltend zu machen, sind nicht erkennbar. Unkenntnis über die Möglichkeit der Ablehnung entlastet den rechtskundig vertretenen Kläger nicht.

Hinsichtlich der aus dem Inhalt des Gutachtens geltend gemachten Befangenheitsgründe ist das Ablehnungsgesuch nicht verspätet, da es innerhalb der vom SG gesetzten Frist zur Stellungnahme eingegangen ist (vgl. Keller, a.a.O. m.w.N.). Die geltend gemachten Einwände gegen die Annahme einer Polytoxikomanie, deren Überwindbarkeit, die Annahme des vollschichtigen Leistungsvermögens des Klägers trotz der Polytoxikomanie, die von der Sachverständigen Dr. W. in ihrer ergänzenden Stellungnahme erwähnte Rentenneurose und deren Bedeutung für das Leistungsvermögen, sind nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen, sondern rügen letztlich Mängel, Unzulänglichkeiten oder Fehlerhaftigkeit des Gutachtens. Dies reicht zur Ablehnung eines Sachverständigen jedoch nicht aus, denn es ist nicht Aufgabe des Ablehnungsverfahrens, sondern des Verfahrens in der Hauptsache, die inhaltliche Richtigkeit und Überzeugungskraft eines Gutachtens zu überprüfen. Das Ablehnungsverfahren dient allein dazu, die Beteiligten eines Rechtsstreits vor der Unsachlichkeit des als Gehilfe des Gerichts in das Verfahren eingebundenen Gutachters aus einem in seiner Person liegenden Grund zu bewahren (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 10. Oktober 2012 - L 13 R 5773/11 - nicht veröffentlicht; Beschluss vom 25. Juni 2012 - L 8 SB 1449/12 B - veröffentlicht in Juris). Sowohl die Annahme einer Polytoxikomanie als auch das Vorliegen einer Rentenneurose und deren Auswirkungen auf das Leistungsvermögen unterliegen der Würdigung des SG im Urteil.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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