L 10 U 2115/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 11 U 1425/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 2115/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteils des Sozialgerichts Konstanz vom 14.04.2011 abgeändert. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 09.11.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.05.2010 verurteilt, dem Kläger Verletztengeld vom 25.11.2003 bis zum 04.09.2004 zu gewähren.

Die Beklagte hat dem Kläger ein Viertel seiner außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt (noch) die Gewährung von Verletztengeld bis zum 04.09.2004.

Der im Jahr 1949 geborene Kläger ist als selbständiger Dachdeckermeister bei der Beklagten mit einem Anspruch auf Verletztengeld ab der siebten Woche der Arbeitsunfähigkeit (§ 50 Abs. 2 der Satzung der Beklagten, Bl. 78 SG-Akte) freiwillig versichert. Am Nachmittag des 05.09.2003 erlitt er einen Arbeitsunfall. Um einen Auffahrunfall auf der Autobahn zu vermeiden, musste er eine Vollbremsung durchführen. Hierdurch wurde er nach vorn und rückwärts gegen die Nackenstützen geschleudert und zog sich eine leichte Zerrung der Halswirbelsäule und eine Prellung des Brustkorbes zu (so die rechts- bzw. bestandskräftigen Feststellungen im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15.10.2009, L 6 U 2062/07, und im Bescheid der Beklagten vom 09.11.2009, Bl. 745, 756 VA).

Nach diesem Ereignis begab sich der Kläger erstmals am 07.10.2003 in die Behandlung des Orthopäden und Chirurgen Dr. M. , der ihn von da an fortlaufend wegen einer akuten Cervicobrachialgie arbeitsunfähig schrieb (nahtlose Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sind in der Verwaltungsakte bis zum 11.02.2007 dokumentiert). Die Arbeitsunfähigkeit wurde mehrmals im Auftrag der privaten Krankenversicherung des Klägers gutachtlich überprüft und bestätigt (u.a. von Dr. K. im März und Mai 2004 sowie von Dr. K. im Februar 2005, Bl. 108, 157 u. 421 VA). Der Kläger gab im Verlauf vielfältige, sich ausweitende Beschwerden (z.B. Schwindel, Taumel, Gang- und Gedächtnisstörungen) an, die u.a. als Ausdruck eines Halswirbelsäulen-Schulter-Syndroms, einer Hemihypalgesie, eines hirnorganischen Psychosyndroms, eines Bandscheibenschadens der Halswirbelsäule und einer Hirnstammsymptomatik angesehen wurden (z.B. AU-Checkup-Gutachten von Dr. R. vom Juni 2006, Bl. 550 VA). Eine erste neurologische Untersuchung erfolgte in diesem Zusammenhang im Januar 2004 durch die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. K. (Bl. 69 VA u.a. mit der Annahme eines Verdachts auf eine unfallbedingte Kompression der Halswirbelsäule im Bereich C3 bis C6).

Auf der Grundlage der gutachtlichen Untersuchung des Klägers im Juli 2004 sah der Chefarzt der Abteilung für Unfallchirurgie in der O. R. Prof. Dr. M. eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung der Kopfgelenke und der Halswirbelsäule, die er auf den Arbeitsunfall zurückführte. Auf Grund der damaligen Funktionseinschränkungen ging er von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vom Hundert (v.H.) aus und regte die Einholung eines neurologischen Zusatzgutachtens an. Dieses erstellte Dr. K. nach Untersuchung des Klägers im September 2004. Sie diagnostizierte u.a. durch den Unfall verschlimmerte Wurzelreizsyndrome der Halswirbelsäule und leichte kognitive Störungen (Differentialdiagnose hirnorganisches Psychosyndrom), die sie ebenfalls als unfallbedingt ansah. Sie ging von fortbestehender Arbeitsunfähigkeit wegen der Symptomatik der Halswirbelsäule, möglicherweise auch auf Grund des Psychosyndroms aus. Letzteres hielt Prof. Dr. M. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom Dezember 2004 (Bl. 300 VA) nicht wirklich für schlüssig. Die in seinem Gutachten beschriebenen funktionellen Einschränkungen müssten erfahrungsgemäß bei Annahme einer leichte Halswirbelsäulendistorsion bis zum Ablauf des ersten Folgejahres nach dem Unfallereignis so weit zurückgegangen sein, dass die Bedeutung des Unfallereignisses bei Fortbestehen von Beschwerden zu Gunsten anderer Ursachen immer mehr in den Hintergrund trete. Eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit halte er aus unfallchirurgisch-orthopädischer Sicht nach wie vor nicht mehr für gegeben.

Der Unfallchirurg Prof. Dr. S. nahm - im Rahmen des zwischenzeitlich anhängigen, auf Feststellung eines Arbeitsunfalles gerichteten Klageverfahrens vor dem Sozialgericht Konstanz S 5 U 3112/04 (nachfolgend L 6 U 2062/07) - nach Untersuchung des Klägers im Februar 2005 an, dass die noch angegebenen Kopfschmerzen und eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule, sowie weitere Beschwerden nicht auf den Arbeitsunfall zurückzuführen seien. Die Vielzahl der gestellten nervenärztlichen Diagnosen sei bei einer leichteren Zerrung der Halswirbelsäule absolut untypisch. Nach solchen Zerrungen bestehe Arbeitsunfähigkeit erfahrungsgemäß für vier bis sechs Wochen.

Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. Dr. W. sah sich im Rahmen der gutachtlichen Untersuchung vom Juni 2005 wegen einer Aggravation nicht in der Lage, beim Kläger objektive Störungen nachzuweisen. Auf Grund der dokumentierten Vorbefunde hielt er es zwar für möglich, jedoch nicht im Sinne eines Vollbeweises hinreichend wahrscheinlich, dass der Arbeitsunfall auf dem neurologisch-psychiatrischen Fachgebiet einen Schaden verursacht habe. Bei der Begutachtung gab der Kläger gegenüber Prof. Dr. Dr. W. an, ein halbes Jahr nach dem Unfall auf einer Treppe gestürzt zu sein.

Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. M. , der den Kläger auf dessen Antrag gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) im Januar 2008 gutachtlich untersuchte, führte sämtliche von ihm geltend gemachten Beschwerden auf den Arbeitsunfall zurück.

Die Ärztliche Direktorin der Radiologischen Klinik des Universitätsklinikums T. Prof. Dr. E. sah nach Auswertung der bereits vorhandenen bildgebenden Befunde aus den Jahren 2003 bis 2005 sowie auf Grund der von ihr selbst durchgeführten Bildgebung im November 2008 keine Hinweise auf unfallbedingte Veränderungen des cranio-cervicalen Übergangsbereichs.

Mit Bescheid vom 09.11.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.05.2010 lehnte die Beklagte (u.a.) die Gewährung von Verletztengeld auf Grund des Arbeitsunfalls ab. Gestützt auf die Gutachten von Prof. Dr. S. und Prof. Dr. Dr. W. bezog sie sich auf medizinische Erfahrungswerte, wonach eine Zerrung der Halswirbelsäule sowie eine Prellung des Brustkorbes in maximal sechs Wochen nach dem Unfallereignis (hier also bis 17.10.2003) folgenlos verheile. Da die Arbeitsunfähigkeit erst ab dem 07.10.2003 festgestellt worden sei, bestehe kein Anspruch auf Verletztengeld.

Deswegen hat der Kläger am 10.06.2010 beim Sozialgericht Konstanz Klage erhoben. Das Sozialgericht hat Prof. Dr. S. und Prof. Dr. Dr. W. mit der Erstellung ergänzender Gutachten nach Aktenlage beauftragt. Prof. Dr. S. hat wiederholt, bei einer allenfalls leichten Halswirbelsäulenzerrung spreche die unfallärztliche Erfahrung für eine Arbeitsunfähigkeit von ca. vier bis sechs Wochen. Entgegen der Auffassung von Prof. Dr. M. sei eine erhebliche Einwirkung von Beschleunigungskräften bei dem Arbeitsunfall nicht nachgewiesen, insbesondere sei der Vollbeweis einer Substanzschädigung der Halswirbelsäule nicht geführt. Prof. Dr. Dr. W. hat ausgeführt, auf seinem Fachgebiet hätte auf Grund des Arbeitsunfalls zu keiner Zeit Arbeitsunfähigkeit vorgelegen. Zu beachten sei, dass mit dem vom Kläger angegebenen Sturz zum Jahreswechsel 2003/2004 ein mögliches Konkurrenzereignis zur Diskussion stehe.

Mit Urteil vom 14.04.2011 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es sei nicht wahrscheinlich, dass der Arbeitsunfall Folgen hatte, die sich dergestalt über die sechste Woche nach dem Vorfall hinaus auswirkten, dass der Kläger seine berufliche Tätigkeit aus Gesundheitsgründen nicht mehr ausüben konnte. Das Sozialgericht hat sich auf die Gutachten von Prof. Dr. S. und Prof. Dr. Dr. W. gestützt. Die Bewertung von Prof. Dr. M. hat es nicht für überzeugend erachtet. Soweit dieser einerseits nur eine leichte Halswirbelsäulenzerrung oder Befindlichkeitsstörung ohne unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit angenommen habe, andererseits aber eine zumindest zeitweise fortwirkende rentenberechtigende MdE bejahte, sei nicht einsichtig, wie diese Begründungsebenen in Deckung zu bringen seien. Prof. Dr. Dr. W. habe für sein Fachgebiet Unfallfolgen überzeugend verneint. Den Gutachten von Dr. M. und Dr. K. könne nicht gefolgt werden. Dr. M. habe seiner Beurteilung lediglich die subjektive Beschreibung des Klägers mehrere Jahre nach dem Unfallereignis zugrundelegt. Es sei nicht nachzuvollziehen, warum Schäden der Halswirbelsäule zu kognitiven Störungen führten, obwohl eine Hirnschädigung nicht nachgewiesen sei. Vor allem werde dem Gutachten von Dr. M. durch das Gutachten von Prof. Dr. E. die Grundlage entzogen. Nach diesem Gutachten sei auch die von Dr. K. angenommene Myelopathie nicht nachgewiesen. Auf die weiteren Ausführungen des Sozialgerichts wird Bezug genommen.

Gegen das ihm am 29.04.2011 zugestellte Urteil hat der Kläger am 23.05.2011 Berufung eingelegt. Der Kläger trägt vor, Prof. Dr. S. habe nur eine nicht nachvollziehbare Vermutung geäußert. Prof. Dr. Dr. W. habe ihn nur 15 Minuten gesehen. Seine Behauptung, er - der Kläger - habe aggraviert, sei eine Unverschämtheit. Im Übrigen sprächen seine fortlaufenden Beschwerden und der selbst in dessen Gutachten beschriebene Muskelhartspann gegen eine nur leichte Zerrung. Prof. Dr. M. habe im Rahmen seiner Begutachtung eindeutig festgestellt und dargelegt, dass weiterhin Behandlungsbedürftigkeit auf Grund der durch den Unfall verursachten Gesundheitsschäden bestanden habe. Der Kläger hat Zahlen zu den Umsätzen seines Unternehmens vorgelegt und im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage vom 06.09.2012 angegeben, sein Betrieb sei während der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit weitergelaufen, er selbst habe aber zunächst nicht gearbeitet. Aus den dargestellten Umsätzen sei nicht auf einen Gewinn zu schließen. Er habe in den Jahren nach dem Unfall nicht von dem Betrieb leben können, sondern Eigentum veräußern müssen. Wegen des weiteren Vorbringens des Klägers wird auf dessen Schriftsätze vom 20.01.2012 und 19.02.2012 Bezug genommen.

Der Kläger beantragt zuletzt nur noch,

die Beklagte unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Konstanz vom 14.04.2011 und unter Abänderung des Bescheids vom 09.11.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.05.2010 zu verurteilen, ihm Verletztengeld ab der siebten Woche nach dem 07.10.2003 bis zum 04.09.2004 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte trägt zur Erwiderung vor, Prof. Dr. M. habe in seiner ergänzenden Stellungnahme vom Dezember 2004 seine früheren Aussagen relativiert. Auf Grund der Ausführungen von Prof. Dr. S. und Prof. Dr. Dr. W. könne eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit über die sechste Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus nicht begründet werden.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 SGG zulässige Berufung des Klägers, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 09.11.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.05.2010 nur insoweit, als darin die Gewährung von Verletztengeld abgelehnt wurde und zwar - nach der im Berufungsverfahren vom Kläger vorgenommenen Einschränkung seines Antrags - nur betreffend den Zeitraum von dem Beginn der siebten Woche nach der hier ab dem 07.10.2003 bescheinigten Arbeitsunfähigkeit bis zum 04.09.2004 (Ablauf des Folgejahres nach dem Arbeitsunfall). Für die Zeit ab dem 05.09.2004 ist das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts mithin rechtskräftig geworden.

Das Sozialgericht hat die hier maßgebliche Anspruchsgrundlage (§ 45 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VII), die gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 SGB VII zur Gewährung von Verletztengeld ergangene Satzungsregelung der Beklagten, die im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Grundsätze über den ursächlichen Zusammenhang zwischen Unfallereignis und länger andauerndem Gesundheitsschaden sowie die im Unfallversicherungsrecht anzuwendenden Beweismaßstäbe umfassend und zutreffend dargestellt. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat darauf Bezug.

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien ist der Senat entgegen der Auffassung des Sozialgerichts zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger im noch streitgegenständlichen Zeitraum infolge des Arbeitsunfalls arbeitsunfähig war.

Auf Grund der medizinischen Unterlagen und der Angaben des Klägers - auch im Erörterungstermin gegenüber dem Berichterstatter - steht für den Senat fest, dass der Kläger in diesem Zeitraum seine selbständige Tätigkeit als Dachdeckermeister nicht bzw. jedenfalls nicht in einem Umfang ausübte bzw. ausüben konnte, der Arbeitsunfähigkeit ausschloss. Die stundenweise Fortführung der Arbeit, die hier angesichts der Position des Klägers als selbständiger Unternehmer bei fortgeführtem Gewerbe im organisatorischen Bereich durchaus angenommen wird, beendete die Arbeitsunfähigkeit nicht (hierzu: Ricke und Brandts in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, § 45 SGB VII Rdnr. 3 und § 44 SGB V Rdnr. 32). Hinsichtlich des Vorliegens von Arbeitsunfähigkeit stützt sich der Senat u.a. auf die Gutachten von Dr. K. und Dr. K. , die im Auftrag der privaten Krankenversicherung des Klägers nach Untersuchungen im März und Mai 2004 sowie im Februar 2005 das weitere Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit überprüften und jeweils bestätigten. Losgelöst von der im Rahmen dieser Begutachtung letztlich nicht maßgeblichen Kausalitätsfrage schließt der Senat aus, dass Dr. K. und Dr. K. zu Lasten ihrer Auftraggeberin - dem privaten Krankenversicherungsunternehmen - unzutreffend, ohne sachliche Rechtfertigung und ohne das Beschwerdevorbringen des Klägers zu hinterfragen, eine fortdauernde Arbeitsunfähigkeit bescheinigten. Vielmehr lagen im Mai 2004 beim Kläger - so Dr. K. - u.a. Blockierungen an der Halswirbelsäule, eine schmerzhaft verspannte paravertebrale Muskulatur und eine eindeutig eingeschränkte Reklination des Kopfes vor (Bl. 160 VA). Prof. Dr. M. sah im Juli 2004 zwar nicht die von Dr. K. im Mai 2004 beschriebene Rückbildung der Muskulatur im Bereich der rechten Hand und des rechten Unterarms (Bl. 185 VA), bestätigte jedoch eine - behandlungsbedürftige - schmerzhafte Bewegungseinschränkung der Kopfgelenke und der Halswirbelsäule und beschrieb zudem eine vermehrte Prominenz des Muskulus trapezius rechts gegenüber links mit leicht vermehrter Spannung der Trapezius-Muskulatur rechts gegenüber links sowie eine Druckempfindlichkeit am rechten Ellenbogengelenk. Im August 2004 bestand eine deutliche Fehlhaltung der Halswirbelsäule nebst starkem paravertebralen Hartspann (Arztbrief von Dr. M. , Bl. 239 VA). Auch im September 2004 waren - so Dr. K. - noch eine Schonhaltung der rechten Schulter und des rechten Armes, eine deutlich endgradig eingeschränkte Kopfbewegung nach rechts und eine ausgeprägt verbackene paravertebrale Halswirbelsäulen- und Schultermuskulatur vorhanden. Im Übrigen beschrieb selbst Prof. Dr. S. noch im Februar 2005 eine durch eine Einschränkung der Beweglichkeit der Halswirbelsäule funktionelle Behinderung des Klägers (Bl. 359 VA), die er diagnostisch freilich nicht wie Dr. M. als akute Cervicobrachialgie, sondern als ?allenfalls? chronische Schmerzhaftigkeit einordnete (Bl. 357 VA).

Der Senat ist ferner der Überzeugung, dass der Kläger ab Januar 2004 verschiedene, dem neurologisch/psychiatrischen Fachgebiet zuzuordnende Krankheitssymptome entwickelte, die einer Arbeitsaufnahme ebenfalls entgegen standen. Für einen echten Leidensdruck hinsichtlich der von ihm geltend gemachten Gefühlsstörungen, Schwindel, Gangunsicherheit sowie Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen (s. die Zusammenfassung von Prof. Dr. Dr. W. Bl. 394 VA) sprechen die von ihm in Anspruch genommenen ärztlichen Untersuchungen: so die Erstellung eines MRT durch Dr. V. im Mai 2004 und die Konsultation von Dr. M. im August 2004. Zwar beschrieb Prof. Dr. Dr. W. anlässlich der Begutachtung im Juni 2005 nachvollziehbar aggravatorische Verhaltensweisen (z.B. beim Romberg-Stehversuch und Unterberger-Tretversuch, Bl. 392 VA). Der Zeitpunkt seiner Begutachtung lag jedoch Monate nach dem Ende des jetzt noch streitgegenständlichen Zeitraums (September 2004). Innerhalb des streitgegenständlichen Zeitraums wurde ärztlicherseits keine Aggravation beschrieben. Vielmehr erachtete Dr. K. die Beschwerden des Klägers (Kopfschmerzen, Schmerzen im rechten Arm und in der rechten Hand, Kribbeln in beiden Händen) ausdrücklich für glaubhaft (Bl. 162 VA). Letztlich bezieht der Senat die Auffassung von Prof. Dr. Dr. W. im Wesentlichen auf das von ihm insoweit nachvollziehbar nicht feststellbare Ausmaß der Beschwerden, nicht aber auf das Vorliegen von Beschwerden überhaupt. Denn ansonsten wäre widersprüchlich, dass er selbst trotz seiner Bedenken Cervikalgien und cervikogene Kopfschmerzen diagnostizierte (Bl. 390 VA) und in seinem ergänzenden Gutachten wegen des Beginns der Verschlechterung der Symptomatik auf ein Konkurrenzereignis - Treppensturz - hingewiesen hat (Bl. 58 SG-Akte). Für den Senat steht damit fest, dass beim Kläger im Laufe des streitgegenständlichen Zeitraums Beschwerden wegen Gefühlsstörungen, Schwindel, Gangunsicherheit sowie Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen bestanden, auch wenn das genaue Ausmaß und die Ursache nicht feststeht (dazu sogleich).

Der Senat geht auf der Grundlage des überzeugenden Gutachtens von Dr. E. davon aus, dass entgegen den gutachtlichen Auffassungen von Dr. K. und Dr. M. keine unfallbedingten Veränderungen des cranio-cervicalen Übergangsbereichs, die das Hinzukommen der eben genannten Beschwerden erklären könnten, nachgewiesen sind. Zudem hat Prof. Dr. Dr. W. überzeugend dargelegt, dass entgegen den knappen Ausführungen von Dr. K. keine posttraumatische Belastungsstörung zu diagnostizieren ist. Es ist in der Tat unzutreffend, die als Arbeitsunfall anerkannte Vollbremsung als Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß anzusehen (Bl. 66 SG-Akte). Derartiges hat im Übrigen auch der Kläger selbst nicht geltend gemacht. Soweit Dr. K. eine Angespanntheit, extreme Ängstlichkeit, Nervosität, Schlafstörungen und Störungen des Gedächtnisses und der Merkfähigkeit als Ausdruck einer psychischen Erkrankung ansah (Bl. 261 f.), ist dies hingegen durchaus überzeugend. Die genauere diagnostische Zuordnung kann jedoch - wie nachfolgend noch dargestellt wird - angesichts der Beschränkung des streitgegenständlichen Zeitraums letztlich dahingestellt bleiben.

Der Senat ist trotz der dargestellten Unklarheiten und Unsicherheiten davon überzeugt, dass der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum auf Grund einer schmerzhafte Bewegungseinschränkung der Kopfgelenke und der Halswirbelsäule, Beschwerden am rechten Ellbogen, (in ihrem Ausmaß unklare) Gefühlsstörungen, Schwindel und Gangunsicherheit nicht in der Lage war, seine Tätigkeit als Dachdecker mit 95% Außendiensttätigkeit auf Leitern und Gerüsten sowie anteilig über Kopf in vollem Umfang auszuüben (Arbeitsplatzbeschreibung anlässlich des AU-Checkup-Gutachtens von Dr. K. , Bl. 432 VA). Damit lag Arbeitsunfähigkeit vor.

Soweit Prof. Dr. Dr. W. in seinem ergänzenden Gutachten ausgeführt hat, auf seinem Fachgebiet habe zu keiner Zeit Arbeitsunfähigkeit vorgelegen, hat er ausdrücklich nur eine isolierte Betrachtung seines Fachgebiets vorgenommen und insbesondere die erheblichen Auswirkungen der anderweitig festgestellten eingeschränkten Kopf- und Halswirbelsäulenbeweglichkeit auf die Tätigkeit als Dachdecker nicht berücksichtigt.

Hinsichtlich der Ausführungen von Prof. Dr. M. zur Arbeitsunfähigkeit ist zu beachten, dass sich diese allein auf die Frage der ?unfallbedingten? (dazu s.u.) Arbeitsunfähigkeit bezogen. Das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit wurde von ihm nicht in Frage gestellt.

Der Senat ist davon überzeugt, dass die bis 04.09.2004 bestandene Arbeitsunfähigkeit (s.o.) rechtlich wesentlich durch den Arbeitsunfall mitverursacht war (an dieser Stelle wird noch einmal ausdrücklich auf die Ausführungen des Sozialgerichts zu den in der Rechtsprechung herausgearbeiteten Grundsätzen für die wertende Entscheidung über die Wesentlichkeit einer Ursache - S. 10 des Urteils - Bezug genommen). Er stützt sich dabei auf die Erfahrungswerte, die in der unfallmedizinischen Literatur wiedergegeben werden, und auf das Gutachten von Prof. Dr. Maurer.

In der unfallmedizinischen Literatur finden sich zu der Frage, wie lange Arbeitsunfähigkeit nach Halswirbelsäulendistorsionen angenommen werden kann, unterschiedliche Angaben. In Schönberger/Mehrtens/Valentin, ?Arbeitsunfall und Berufskrankheit?, 8. Auflage, S. 464 wird für leicht- bis mittelgradige Halswirbelsäulendistorsionen von einer Arbeitsunfähigkeit von null bis sechs Wochen ausgegangen. Auch in Fritze/Mehrhoff ?Die ärztliche Begutachtung?, 7. Auflage, S. 220 wird dargestellt, die Mehrzahl der Halswirbelsäulendistorsionen heile nach einer Zeitdauer von etwa vier bis acht Wochen folgenlos aus. Gleichzeitig wird jedoch auf gutachterliche Probleme in den Fällen hingewiesen, in denen Beschwerden fortbestehen. In Rompe/Erlenkämper/Schiltenwolf/Hollo ?Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane?, 5. Auflage, S. 662 wird angegeben, dass sich aus zahlreichen Untersuchungen ergeben habe, dass unbehandelte Halswirbelsäulenbeschwerden schneller abklingen, als behandelte und dass ein einfaches Fitness-Programm die Wiederherstellung im Vergleich zu Patienten ohne Rehabilitationsmaßnahmen noch nach neun Wochen um 30 % verlangsamt habe. Zur hier nicht streitgegenständlichen Bewertung der MdE wird in Fritze/Mehrhoff (a.a.O.) ausgeführt wird, dass sich nach einer Halswirbelsäulendistorsion ohne manifeste Schäden ein Halswirbelsäulensyndrom eventuell mit pseudoradikulärer Schmerzsymptomatik oft im Sinne einer vorübergehender Verschlimmerung gutachtlich mit einer MdE zwischen 10 und 30 v.H. bis zum Ablauf des ersten, selten des zweiten Unfalljahres bewerten lässt.

Daraus schließt der Senat, dass auch nach leicht- bis mittelgradigen Halswirbelsäulendistorsionen das Fortbestehen von Beschwerden über die sechste bzw. achte Woche hinaus nicht generell ausgeschlossen wird. Ansonsten kämen gutachtliche ?Probleme? (s.o. Fritze/Mehrhoff) nicht in Betracht, eine sogar bis zum Ablauf des zweiten Folgejahres in Betracht gezogene MdE wäre ausgeschlossen (s.o. Fritze/Mehrhoff) und die Ausführungen von verlangsamten Heilungsverläufen bei behandelten Erkrankungen blieben unbeachtet (s.o. Rompe/Erlenkämper /Schiltenwolf/Hollo). Dabei ist zu beachten, dass sich die hier für den streitgegenständlichen Zeitraum genannten Beschwerden bei der Tätigkeit des Klägers als Dachdecker in besonderer Weise nachhaltig auswirken.

Vor diesem Hintergrund überzeugt die Auffassung von Prof. Dr. Spier, der von einer maximalen unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit von sechs Wochen ausgeht, nicht. Prof. Dr. S. berücksichtigt aus Sicht des Senats allein die eben dargestellten nach der unfallmedizinischen Literatur und nach seiner eigenen ärztlichen Erfahrung regelmäßig zu erwartenden Arbeitsunfähigkeitszeiten nach Halswirbelsäulendistorsionen. Er setzt sich jedoch inhaltlich nicht mit der ebenfalls in der unfallmedizinischen Literatur - wie eben dargestellt - bestätigten Möglichkeit des Vorliegens von Fällen, in denen die Arbeitsunfähigkeit länger andauert, auseinander. Dazu hätte aber angesichts des Beschwerdeverlaufs, der von ab dem 07.10.2003, also kurz vor der eigentlich nach der Ansicht von Prof. Dr. S. anzunehmenden Ausheilung der Beschwerden, beginnenden erfolglosen Behandlungen, einem intensiven Befassen mit der Erkrankung (Bl. 378 VA) und gezieltem Aufsuchen eines Spezialisten (?Dr. V. habe ihm alles genau geschildert, wodurch einige Dinge plötzlich einen Sinn ergeben hätten? - anamnestische Angabe der Ehefrau - Bl. 379; dem überragende Kenntnisse zugeschrieben werden: ??in die genialen Feststellungen von Dr. V. eingeschwenkt?? - so Dr. M. - Bl. 673 VA) geprägt ist, Veranlassung bestanden. Wie eben dargestellt, ist in der unfallmedizinischen Literatur anerkannt, dass unbehandelte Halswirbelsäulenbeschwerden schneller abklingen als behandelte. Nachdem hier aber dem Kläger von Seiten zahlreicher Ärzte (einschließlich der Gutachter der privaten Krankenversicherung - auch wenn die Beurteilung der Kausalität dort keine Bedeutung hatte und deren nicht näher begründete Einschätzung zur Kausalitätsfrage daher nicht einfach übernommen werden kann) immer wieder ein Zusammenhang seiner Beschwerden mit der bei dem Arbeitsunfall erlittenen Halswirbelsäulendistorsion bestätigt wurde, überzeugt die von Prof. Dr. S. vertretene Auffassung nicht, dass der Verlauf was die Arbeitsunfähigkeit anbelangt im Sinne eines Entweder-Oder ab der siebten Woche quasi unwiderleglich nichts mehr mit dem Unfall zu tun haben könne.

Der Senat entnimmt dem Gutachten von Prof. Dr. Maurer, dass die schmerzhafte Bewegungseinschränkung der Kopfgelenke und der Halswirbelsäule bis zum Ablauf des ersten Folgejahres nach dem Unfallereignis als unfallbedingt anzusehen ist. Dies ist angesichts des eben beschriebenen Verlaufs der Behandlungen des Klägers überzeugend und steht - wie eben dargestellt - durchaus im Einklang mit der unfallmedizinischen Literatur, wonach verzögerte Heilungsverläufe und fortdauernde Funktionsbeeinträchtigungen sogar bis zum Ablauf des zweiten Unfalljahres nicht gänzlich unbekannt sind (Fritze/Mehrhoff, a.a.O.).

Der Senat geht allerdings auch davon aus, dass die Arbeitsunfähigkeit bis zum 04.09.2004 auch durch Beschwerden am rechten Ellbogen, (unklare) Gefühlsstörungen, Schwindel nebst Gangunsicherheit bedingt war (s.o.). Dies steht jedoch der Annahme einer (mit) unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit nicht entgegen, selbst wenn hier davon ausgegangen wird (dazu sogleich), dass es hinsichtlich dieser Beschwerdebilder an einem Unfallzusammenhang fehlt. Der Senat geht zwar durchaus davon aus, dass diese - fraglich durch den Arbeitsunfall verursachten - Beschwerdebilder bis September 2004 für das Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit mehr und mehr an Bedeutung gewannen. So beschrieb u.a. Prof. Dr. M. einen Verlauf der Erkrankung mit immer neuen Diagnosen und neuen Beschwerden. Rein rechnerisch mögen diese hinzugekommenen Beschwerden am Ende des streitgegenständlichen Zeitraums sogar in ihrer Bedeutung für die Arbeitsunfähigkeit überwogen haben. Gestützt auf die Einschätzung von Prof. Dr. M. in seiner ergänzenden Stellungnahme kann jedoch ausgeschlossen werden, dass sie bis dahin bereits die überragende Bedeutung hatten. Denn erst nach Ablauf des ersten Folgejahres ging er davon aus, dass die Bedeutung des Unfallereignisses in den Hintergrund trat (Bl. 305 VA).

Soweit Prof. Dr. M. in eben dieser Stellungnahme weiter ausführte, eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit ?bis heute? (Bl. 304 VA), also Dezember 2004, zu bezweifeln, betrifft dies nicht (mehr) den noch streitgegenständlichen Zeitraum. Soweit er in eben dieser Stellungnahme eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit ?nach wie vor nicht mehr für gegeben? erachtete (Bl. 305 VA) bezieht sich dies auf die Zeit nach Ablauf des ersten Jahres nach dem Unfall. Denn diese Zusammenfassung am Ende der ergänzenden Stellungnahme knüpft an die vorausgehenden Ausführungen an. Dort ließ Prof. Dr. M. keinen Zweifel daran, dass die in seinem Hauptgutachten beschriebenen funktionellen Einschränkungen (Kopfgelenke und Halswirbelsäule, s.o.) bis zum Ablauf des ersten Folgejahres auf das Unfallereignis zurückzuführen waren und diese erst anschließend in den Hintergrund traten.

Soweit das Sozialgericht gegen die Auffassung von Prof. Dr. M. eingewandt hat, ihm hätten das röntgenologische Gutachten von Prof. Dr. E. nicht vorgelegen, so dass er seine Beurteilung auf eine weniger aussagekräftige Befundlage stützen musste, ist dem entgegen zu halten, dass Prof. Dr. M. in seiner ergänzenden Stellungnahme nur hinsichtlich krankhafter Veränderungen auf dem neurologischen Fachgebiet (insbesondere wegen der geltend gemachten Schwäche bei der Fingerbeweglichkeit, Bl. 304 VA) einen weiteren neurologischen Aufklärungsbedarf sah. Die Abklärung dieser Störungen ist für die hier zu treffende Entscheidung jedoch nicht (mehr) ausschlaggebend, da sie als nicht unfallbedingt unterstellt werden können, ohne dass sich am Ergebnis etwas ändern würde. Angesichts des nur noch streitgegenständlichen Zeitraums bis 04.09.2004 kommt es nicht mehr darauf an, ob die nicht dem unfallchirurgischen Fachgebiet zuzuordnenden Beschwerden dem Arbeitsunfall zuzuordnen sind. Damit kann auch dahingestellt bleiben, inwieweit der von Prof. Dr. Dr. W. als ?konkurrierendes Ereignis? (Bl. 65 SG-Akte) angesehene Treppensturz Folge schon bestehender neurologisch/psychiatrischer Gesundheitsstörungen (Schwindel) oder erst Auslöser (ggf. weiterer) solcher Störungen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt die vom Kläger erst im Berufungsverfahren vorgenommene Einschränkung des streitgegenständlichen Zeitraums.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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