L 12 AS 2558/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 8 AS 1507/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 2558/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 1. Juni 2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit steht die Ablehnung der Gewährung von Arbeitslosengeld II wegen fehlender Erwerbsfähigkeit.

Die im April 1953 geborene Klägerin erkrankte im Alter von drei Jahren an einer Poliomyelitis. Als Folge besteht bei ihr eine inkomplette, beinbetonte, motorische Tetraplegie ohne Steh- und Gehfähigkeit mit Rollstuhlpflichtigkeit, eine hohe rechtskonvexe thorakale Skoliose mit einem Cobbwinkel von 87 Grad sowie eine Dysplasiecoxarthrose beidseits mit hoher Hüftgelenksluxation rechts. Sie ist schwerst pflegebedürftig und bedarf rund und die Uhr der Hilfe zweier Pflegekräfte. Es ist ein Grad der Behinderung von 100 anerkannt, außerdem die Merkzeichen G, aG, B, H und RF. Die Klägerin bezieht Leistungen der Pflegestufe III und Hilfe zur Pflege. Sie hat Abitur, erwarb 1983 ihren Abschluss als Diplom-Psychologin und macht seit 1988 mit Unterbrechungen (Fortführung seit Oktober 2003) eine psychotherapeutische Fort- und Weiterbildung mit dem Ziel der Approbation als Psychotherapeutin bzw. bereitet sich auf die Prüfung als Psychotherapeutin vor.

Seit Januar 2005 bezog die Klägerin Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom Beklagten ohne Anrechnung jeglichen Einkommens. Zur Klärung der vom Beklagten aufgeworfenen Frage, ob die Klägerin doch Einkommen aus einer beruflichen Tätigkeit erziele, erklärte sie mit Schreiben vom 6. August 2010, dass sie weder selbständig noch freiberuflich tätig sei oder gewesen sei. Sie beabsichtige aber die Aufnahme einer freiberuflichen Tätigkeit nach Abschluss ihrer Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin. Hierzu legte sie u.a. ein Attest des Internisten F. aus ihrer langjährigen Hausarztpraxis vom 11. Juni 2010, wonach die Klägerin zu 100 Prozent hilfs- und pflegebedürftig sei, und ein Gutachten der Pflegefachkraft C. H. vom 11. Juni 2010 zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI, welches die Pflegestufe III bestätigte, vor. In einer gutachtlichen Äußerung nach Aktenlage vom 9. September 2010 gelangte Dr. W. vom ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit H. zu der Einschätzung, dass die Klägerin wegen dauerhafter wesentlicher Herabsetzung ihrer körperlichen Belastbarkeit auf Dauer nicht in der Lage sein werde, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Unter Bezugnahme auf diese Einschätzung teilte der Beklagte der Klägerin im Oktober 2010 mit, dass die Leistungsvoraussetzungen des SGB II nicht mehr vorlägen, forderte sie zur Beantragung von Erwerbsminderungsrente auf und stellte die Leistungen ein. Dem kam die Klägerin nicht nach, worauf der Beklagte Leistungen weitergewährte und für die Klägerin den Rentenantrag stellte. Sie legte ein Attest des Internisten Dr. S. aus ihrer langjährigen Hausartzpraxis vom 4. November 2010 vor. Dieser führte aus, die Klägerin habe trotz ihrer Schwerstbehinderung eine Ausbildung als Diplompsychologin und eine Zusatzausbildung als Psychotherapeutin gemacht, im Rahmen der letzten habe sie bis 2009 auch ganztägig gearbeitet. Die Klägerin stehe jetzt kurz vor ihrer Approbationsprüfung und sei fest entschlossen, auch danach ganztätig zu arbeiten. Sie sollte eine Chance erhalten, ihren Beruf ganztätig auszuüben. Falls sich herausstellen sollte, dass sie den Anforderungen nicht gewachsen sei, müsste neu befundet werden.

Mit Bescheid vom 14. Dezember 2010 lehnte die Deutsche Rentenversicherung Bund den Rentenantrag mangels Mitwirkung der Klägerin ab.

Auf ihren Fortzahlungsantrag vom 29. Dezember 2010 bewilligte der Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 12. Januar 2011 Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. Januar bis 28. Februar 2011 in Höhe von 736 Euro monatlich. Gleichzeitig veranlasste er mit Einverständnis der Klägerin deren Begutachtung durch den Orthopäden Dr. S.-. In seinem Gutachten vom 7. Februar 2011 gelangte dieser zu dem Ergebnis, dass die Klägerin aufgrund ihrer hochgradigen Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter den üblichen Bedingungen nicht erwerbsfähig sei. Unter entsprechender Hilfeleistung durch anwesendes Pflege-/Assistenz-Personal bestehe für die Tätigkeit als Psychotherapeutin eine 4 bis 6-stündige Erwerbsfähigkeit, zeitweise sicherlich auch darüber hinausgehend im Sinne einer Vollschichtigkeit unter Einhaltung entsprechender Pflegepausen.

In einem Gutachten nach Aktenlage vom 17. Februar 2011 gelangte Dr. W. unter Auswertung des fachorthopädischen Gutachtens erneut zu dem Ergebnis, dass die Klägerin auf Dauer täglich weniger als drei Stunden erwerbstätig sein könne. Mit Schreiben vom 23. Februar 2011 wurde die Klägerin daraufhin aufgefordert, Leistungen nach dem SGB XII zu beantragen. Den Fortzahlungsantrag der Klägerin vom 1. März 2011 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 2. März 2011 ab und leitete ihn an das Amt für soziale Angelegenheiten der Stadt H.weiter. Die Klägerin sei nicht erwerbsfähig und erfülle damit nicht die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch nach dem SGB II.

Die Klägerin legte Widerspruch hiergegen ein. Seit ihrem dritten Lebensjahr lebe sie unter den Bedingungen ihres postpoliomyelitischen Syndroms. In diesem Zustand habe sie die Schule durchlaufen, studiert und in ihrem Beruf gearbeitet. Sie habe sich immer selbst beworben. Rente wegen Erwerbsunfähigkeit werde sie nicht beantragen, da sie arbeitsfähig sei. Ihr Gesundheitszustand habe sich in den ganzen Jahren nicht verschlechtert. Sie sei als Dipl.-Psychologin und Psychotherapeutin arbeitsfähig.

Mit Bescheid vom 15. März 2011 bewilligte der Beklagte der Klägerin Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. bis 31. März 2011 in Höhe von 736 Euro weiter und meldete gleichzeitig einen Erstattungsanspruch nach §§ 102 ff SGB X gegenüber der Stadt H. an. Ab 1. April 2011 gewährte die Stadt H. der Klägerin Leistungen nach dem SGB XII (Bescheid vom 15. April 2011).

In einer gutachtlichen Äußerung vom 22. März 2011 gelangte Dr. W. nach erneuter Überprüfung der medizinischen Sachlage zum gleichen Ergebnis wie in seinen vorherigen Äußerungen. Mit Widerspruchsbescheid vom 29. März 2011 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 27. April 2011 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben. Sie hat sich auf ihre Widerspruchsbegründung, die Auskunft des Hausarztes und das fachorthopädische Gutachten, das ihres Erachtens ihre Erwerbsfähigkeit bestätige, berufen. Sie habe einen Anspruch darauf, dass ihr Leistungen zuerkannt werden, die zum Ausgleich körperlicher Beeinträchtigungen dienen. Soweit sie auf Arbeitsassistenz ständig angewiesen sei, müssten entsprechende Leistungen durch den zuständigen Träger zur Verfügung gestellt werden und nicht im Hinblick auf die benötigte Hilfeleistung eine Erwerbsfähigkeit verneint werden.

Auf das Ersuchen der Stadt H. nach § 45 SGB XII hat die Deutsche Rentenversicherung Bund im Rahmen der Prüfung der in § 41 Abs. 3 SGB XII genannten Voraussetzungen am 22. August 2011 aufgrund gutachtlicher Stellungnahme der beratenden Ärztin H. vom 17. August 2011 festgestellt, dass die Klägerin zumindest seit 1. Januar 2003 unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs. 2 SG VI sei und es unwahrscheinlich sei, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden könne. Die Beratungsärztin Hempel gelangte hierbei zu der Einschätzung, dass die Klägerin zwar keine kognitive Einschränkungen habe und sehr intelligent sei, jedoch 24 Stunden am Tag einer Pflege bezüglich der körperlichen Gebrechen bedürfe. Bei einer Tätigkeit als Psychotherapeutin wäre ebenfalls eine ständige Arbeitsassistenz notwendig, selbst Aktenbearbeitung sei nicht ohne Hilfe möglich.

Hierauf erklärte die Stadt H. sich gegenüber dem Beklagten zur Erbringung von Leistungen nach dem IV. Kapitel SGB XII an die Klägerin ab 1. März 2011 bereit und erstattete dem Beklagten das bereits für März 2011 an die Klägerin erbrachte Arbeitslosengeld II.

Die Klägerin hat ein sozialmedizinisches Gutachten des Dr. K. vom 9. November 2011 aus einem beim SG gegen den Sozialhilfeträger geführten Rechtsstreit vorgelegt. Er gelangt zu dem Ergebnis, bei der Beurteilung, ob bei der Klägerin Erwerbsunfähigkeit vorliege, seien die medizinischen Befundunterlagen nicht eindeutig. Den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes könne die Klägerin aufgrund ihrer Behinderung nicht gerecht werden. Bei einem Beschäftigungsverhältnis bräuchte sie nicht nur einen barrierefreien Zugang, sondern in der Tat ständige persönliche Arbeitsassistenz am Arbeitsplatz, beim Toilettengang wären zwei Assistenten erforderlich. Solche Arbeitsplätze seien zurückliegend offenbar aufgrund persönlicher Beziehungen und bei Kostenbeteiligung von Sozialeinrichtungen zeitlich begrenzt verfügbar gewesen, würden jedoch nach seiner Kenntnis nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt angeboten.

Mit Gerichtsbescheid vom 1. Juni 2012 hat das SG die Klage als unbegründet abgewiesen. Nach § 8 SGB II sei erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande sei, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Diese Voraussetzungen erfülle die Klägerin nicht. Der Begriff der Erwerbsfähigkeit lehne sich an dem Begriff der Erwerbsminderung im Rentenversicherungsrecht an. Übliche Bedingungen des Arbeitsmarktes beträfen die konkrete Ausgestaltung von Beschäftigungsverhältnissen aufgrund gesetzlicher Regelungen (Tarifverträgen, gesetzlichen Vorgaben, betrieblicher Übung) oder selbständigen Tätigkeiten. Grundsätzlich seien notwendige Arbeitsunterbrechungen nach Art und Umfang zu berücksichtigen. Zusätzlich erforderliche betriebsunübliche Pausen könnten die Erwerbstätigkeit dabei ausschließen. Üblich seien Bedingungen dann, wenn Beschäftigungsverhältnisse oder selbständige Tätigkeiten in der Mehrzahl oder zumindest in beachtlicher Zahl unter Beachtung derartiger Bedingungen eingegangen oder ausgeübt würden. Die Erwerbsfähigkeit orientiere sich immer am Restleistungsvermögen des Betroffenen. Hierbei seien sowohl die individuellen gesundheitlichen Einschränkungen der Person als auch mögliche rechtliche Einschränkungen zu berücksichtigen. Zweifel an der Erwerbsfähigkeit seien vor allem dann angezeigt, wenn eine Schwerstbehinderung vorliege oder wenn Pflegebedürftigkeit beantragt oder bereits anerkannt sei. Infolge der inkompletten Tetraparese bedürfe die Klägerin einer vollen Pflege, ihr sei weder der Transfer zur Toilette noch die Nahrungsaufnahme eigenständig möglich. Bei sämtlichen Handhabungen des täglichen Lebens sei sie auf fremde Hilfe angewiesen. Hierfür seien rund um die Uhr zwei Pflegepersonen an ihrer Seite. Sie sei in der Lage, den Elektrorollstuhl über einen Joystick selbst zu steuern und ihren Kopf nach rechts und links, vorne und unten alleine zu bewegen. Mit der linken Hand könne sie auf einer Standard-PC-Tastatur schreiben. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gebe es üblicherweise keine Arbeitsplätze für Menschen, die aufs schwerste in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt und in ihrer täglichen Lebensgestaltung vollkommen abhängig von Hilfspersonen seien. Wie alle Gutachter übereinstimmend ausgeführt hätten, wäre die Klägerin vollständig auf Arbeitsassistenz angewiesen. Das eigenständige Ausfüllen eines Arbeitsplatzes sei der Klägerin in keinster Weise möglich. Sie bräuchte eine eigens für sie konfigurierte Arbeitsumgebung mit einem geschützten Rahmen (wie wohl zeitweilig in der Vergangenheit unter erheblicher Kostenbeteiligung weiterer Sozialleistungsträger geschehen). Ein auf die Klägerin zugeschnittener Arbeitsplatz würde aber gerade nicht den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes entsprechen, sondern eher einem geschützten Rahmen wie bei einem Schonarbeitsplatz oder in einer Einrichtung für behinderte Menschen. Derartige Arbeitsplatzgestaltungen unterfielen aber gerade nicht den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes. Der Vortrag der Klägerin, sie könne mit entsprechender Arbeitsassistenz in ihrem angestrebten Beruf als Psychotherapeutin täglich vier bis sechs Stunden arbeiten, werde zwar auch von dem orthopädischen Gutachten des Dr. S.-F. bestätigt. Jedoch beziehe sich diese Annahme nicht auf einen derzeit konkret vorhandenen Arbeitsplatz bzw. eine konkret ausgeübte selbständige Tätigkeit, sondern werde erst für die Zukunft angestrebt. Das BSG messe nur dem Umstand, dass jemand eine Tätigkeit konkret ausübe, einen stärkeren Beweiswert zu. Das SG stelle nicht in Abrede, dass die Klägerin ggf. tatsächlich in der Lage sei, vier bis sechs Stunden täglich in ihrem angestrebten Beruf als Psychotherapeutin zu arbeiten. Derzeit gebe es jedoch keine Anhaltspunkte dafür, ob sich dies realisieren lasse. Der Sachverständige Dr. K. sehe in seinem Pflegegutachten hierfür nur eine theoretische Möglichkeit. Die Klägerin habe ihre Zusatzausbildung noch nicht beendet, insofern sei nicht auf zukünftige Pläne abzustellen, sondern auf die gegenwärtige Situation. Keine Relevanz habe auch der Hinweis des Klägerbevollmächtigten, dass noch kein Verfahren des § 44a SGB II durchgeführt worden sei. § 44a SGB II stelle nur eine Zuständigkeitsregelung dar.

Gegen den am 12. Juni 2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 15. Juni 2012 Berufung eingelegt. Die Entscheidung des SG berücksichtige nicht die gesetzliche Wertung des § 33 SGB IX, der hier mit heranzuziehen sei. Danach seien Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu erbringen, um die Erwerbsfähigkeit Behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen nicht nur zu erhalten oder zu verbessern, sondern herzustellen oder wieder herzustellen. Damit gehe der Gesetzgeber davon aus, dass die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit unter Berücksichtigung von derartigen Leistungen zu erfolgen habe. Wenn sie bei entsprechender Arbeitsassistenz in der Lage wäre, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig zu sein, könne die Erwerbsfähigkeit nicht verneint werden. Nicht relevant sei vor diesem Hintergrund, ob es der Klägerin tatsächlich gelinge, einen Arbeitsplatz zu finden. Das SG habe auch verkannt, dass die Klägerin erfolgreich ein Psychologiestudium absolviert habe und auch in diesem Bereich tätig sein könne. Soweit das SG darauf abstelle, dass eine Tätigkeit der Klägerin in der Vergangenheit nur mit erheblichen Aufwendungen anderer Sozialleistungsträger ermöglicht worden sei, spreche dies nicht gegen eine Leistungsgewährung, sondern gerade dafür, da solche Leistungen ebenfalls davon abhingen, dass eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt möglich sei.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Mannheim vom 1. Juni 2012 sowie des Bescheides des Beklagten vom 2. März 2011 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 15. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. März 2011 zu verpflichten, ihr ab 1. April 2011 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist auf die Feststellungen des ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit und das Gutachten des Dr. S.-F. vom 7. Februar 2011.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie der Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG hat keinen Erfolg.

1. Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft (§ 143 SGG) und insgesamt zulässig.

Es fehlt insbesondere nicht am Rechtschutzbedürfnis. Unabhängig davon, ob das begehrte Arbeitslosengeld II höher als die an seiner Stelle von der Klägerin seit 1. April 2011 bezogene Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII wäre, kann der Klage das Rechtsschutzbedürfnis nicht abgesprochen werden (vgl. BSG, Urteil vom 16. Mai 2012 - B 4 AS 105/11 R - Juris m.w.N.). Die Klägerin hat ein rechtlich schützenswertes Interesse an der Klärung, welche Leistungen ihr zustehen. Insoweit kann dahinstehen, ob ein schutzwürdiges Interesse der Klägerin auch im Hinblick auf die beim Verbleib im System des SGB II möglicherweise zu beanspruchenden Eingliederungsleistungen besteht (offen gelassen in BSG, Urteil vom 16. Mai 2012, a.a.O.).

Die Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG ist auch nicht im Hinblick darauf, dass der geltend gemachte Anspruch der Klägerin gegen den Beklagten durch die Leistungserbringung des Sozialhilfeträgers bereits (teilweise) als erfüllt im Sinne des § 107 Abs. 1 SGB X gelten könnte, unzulässig. Eine rechtskräftige Verurteilung dem Grunde nach schließt nicht den Einwand aus, der ausgeurteilte Leistungsanspruch sei durch die Gewährung einer den Anspruch ausschließenden Sozialleistung und den dadurch begründeten Erstattungsanspruch des subsidiär zuständigen Leistungsträgers gemäß § 107 SGB X als erfüllt anzusehen (BSG a.a.O. m.w.N.). Insgesamt bestehen infolgedessen keine Bedenken gegen die Zulässigkeit der Leistungsklage und gegen die damit zusammenhängende mögliche Verurteilung dem Grunde nach, selbst wenn auszuschließen sein sollte, dass die Klägerin gegen den Beklagten für den hier streitigen Zeitraum noch einen Anspruch auf einen Zahlbetrag an Arbeitslosengeld II haben könnte.

2. Die Berufung ist aber unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit ab 1. April 2011.

Streitgegenstand ist der Bescheid des Beklagten vom 1. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. März 2011, mit dem der Beklagte Leistungen nach dem SGB II für die Zeit ab 1. März 2011 abgelehnt hat, allerdings in der Fassung, die er durch den Bescheid vom 15. März 2011, mit dem Leistungen für die Zeit vom 1. bis 31. März 2011 gewährt wurden, erhalten hat. Der streitige Zeitraum erstreckt sich damit auf die Zeit ab 1. April 2011. In Fällen ablehnender Verwaltungsentscheidungen ist Streitgegenstand die Zeit bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht (BSG, Urteile vom 27. September 2011 - B 4 AS 160/10 R - , vom 16. Mai 2007 - B 11b AS 37/06 R - , vom 31. Oktober 2007 - B 14/11b AS 59/06 R -, jeweils m.w.N., jeweils Juris). Die Klägerin hat insoweit ihren Antrag auch nicht zeitlich beschränkt. Streitig sind mithin Leistungen für den Zeitraum vom 1. April 2011 bis zum 18. Januar 2012.

Die Ablehnung der Leistungsgewährung für diesen Zeitraum ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat keinen Anspruch auf die begehrten Leistungen.

Leistungen nach dem SGB II erhalten nach § 7 SGB II Personen, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).

Erwerbsfähig ist nach § 8 Abs. 1 SGB II, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Zuständig für die Feststellung, ob ein Arbeitsuchender erwerbsfähig ist, ist gemäß § 44a Abs.1 Satz 1 SGB II in der ab 1. Januar 2011 geltenden Fassung die Agentur für Arbeit. Diese Aufgabe wird gem. § 44b Abs. 1 Satz 2 SGB II durch den Beklagten als gemeinsame Einrichtung der Agentur für Arbeit und des kommunalen Trägers wahrgenommen. Der Entscheidung können gemäß § 44a Abs. 1 Satz 2 SGB II der kommunale Träger, ein anderer Träger, der bei voller Erwerbsminderung zuständig wäre und die Krankenkasse, die bei Erwerbsfähigkeit Leistungen der Krankenversicherung zu erbringen hätte, widersprechen. Vorliegend hat der Beklagte die Feststellung getroffen, dass die Klägerin nicht erwerbsfähig ist. Ein Widerspruch der in § 44a Abs. 1 Satz 2 SGB II genannten Stellen liegt nicht vor. Die Stadt H. als kommunaler Träger hat die Leistungsverpflichtung ab 1. März 2011 anerkannt, die Deutsche Rentenversicherung Bund am 22. August 2011 aufgrund einer ärztlichen Stellungnahme vom 17. August 2011 in Übereinstimmung mit der Feststellung des Beklagten die volle Erwerbsminderung auf Dauer festgestellt.

Diese Feststellung ist zutreffend. Zur Annahme der Erwerbsfähigkeit müssen die vorhandenen Fähigkeiten eine Tätigkeit "unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" ermöglichen. Es handelt sich hier um eine Formulierung, die aus dem Rentenrecht übernommen wurde (vgl. § 43 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI)). Eine ähnliche Formulierung findet sich außerdem in § 119 Abs. 5 Nr. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) a.F. bzw. in § 138 Abs. 5 Nr. 1 SGB III n.F., wonach nur derjenige den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht, der eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des (für ihn in Betracht kommenden) Arbeitsmarktes ausüben kann. Wie das SG zutreffend ausgeführt hat, kann bei der Konkretisierung der in § 8 SGB II verwendeten Formulierung insbesondere die Rechtsprechung zu den genannten Regelungen des SGB VI berücksichtigt werden. Die Frage, ob jemand eine Tätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben kann, stellt sich immer, wenn ein Arbeitsuchender trotz gesundheitlicher Probleme an sich bestimmte Verrichtungen im erforderlichen zeitlichen Umfang noch ausüben könnte, aber nur unter Umständen, die eine Verwertung seiner Resterwerbsfähigkeit am Arbeitsmarkt von vornherein als unrealistisch und Eingliederungsbemühungen der Agentur für Arbeit als sinnlos erscheinen lassen. Trotz einer etwa noch bestehenden "theoretischen" Resterwerbsfähigkeit ist in solchen Fällen das Sozialhilfesystem zuständig (Bender in Gagel, SGB II/SGB III, § 8 SGB II Rn. 28). Es genügt also nicht, dass die für eine Erwerbstätigkeit erforderlichen Verrichtungen mindestens drei Stunden am Tag bewältigt werden können. Dies muss vielmehr auch unter Umständen möglich sein, wie sie am allgemeinen Arbeitsmarkt üblich sind. Dabei ist die Üblichkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt insbesondere von den einschlägigen Regelwerken (Gesetz, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarungen) geprägt. In quantitativer Hinsicht genügt es zur Annahme von Üblichkeit, dass es eine beachtliche Zahl von Arbeitsverhältnissen gibt, in denen unter den jeweils fraglichen Umständen gearbeitet wird (Bender a.a.O. Rn. 29 m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind im Fall der Klägerin nicht erfüllt, wie das SG bereits zutreffend ausgeführt hat. Diesen Ausführungen schließt sich der Senat nach eigener Prüfung vollumfänglich an und verweist zur Vermeidung von Wiederholungen insoweit auf die Entscheidungsgründe des SG.

Nichts anderes ergibt sich aus dem Berufungsvorbringen, das im Wesentlichen das Vorbringen der Klägerin aus dem Widerspruchs- und Klageverfahren wiederholt und vertieft. Die Umstände des Falles lassen nicht die Feststellung zu, dass trotz der gravierenden Leistungseinschränkungen der Klägerin von einer Erwerbsfähigkeit der Klägerin aufgrund tatsächlicher Erwerbstätigkeit ausgegangen werden könnte, wie das SG bereits ausgeführt hat. Erwerbsfähigkeit setzt nicht nur voraus, dass der Versicherte in der Lage ist, "unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes eine Tätigkeit zu verrichten", sondern darüber hinaus, dass er damit in der Lage ist, "erwerbstätig" zu sein, d.h. unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ein Erwerbseinkommen zu erzielen (vgl. zu § 43 Abs. 3 SGB VI: BSG, Beschluss vom 31. Oktober 2012 - B 13 R 107/12 B - und Urteil vom 19. Oktober 2011 - B 13 R 78/09 R - BSGE 109,189). Diese Voraussetzung ist bei der Klägerin nicht gegeben. Sie übt weder in der Zeit seit April 2011 noch hat sie während des SGB II- Leistungsbezugs von Januar 2005 bis März 2011 eine Tätigkeit ausgeübt, mit der sie ein Erwerbseinkommen erzielt hätte, das zur Reduzierung ihrer Hilfebedürftigkeit hätte beitragen können. Zwar trägt sie vor, nach Abschluss ihrer Zusatzausbildung eine Tätigkeit als Psychotherapeutin - ggf. mit entsprechender Unterstützung - ausüben zu können, doch diesen Abschluss hat sie noch immer nicht erreicht. Damit fehlt es an der Möglichkeit der Ausübung einer solchen Tätigkeit derzeit bereits deshalb, weil die Klägerin nicht über die erforderliche Approbation verfügt.

Auch die Tatsache, dass die Klägerin trotz ihrer Einschränkungen ein Psychologiestudium absolviert hat und eine Ausbildung zur Psychotherapeutin macht, lässt entgegen dem Vorbringen der Klägerin gerade nicht den Schluss auf ihre Erwerbsfähigkeit zu. Im Gegenteil legt der Umstand, dass die Klägerin die Mindestdauer der Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin im Sinne des § 5 Abs. 1 des Gesetzes über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten von drei Jahren (in Vollzeit) bzw. von fünf Jahren (in Teilzeit) bereits um viele Jahre überschritten hat ohne bislang den Abschluss erlangt zu haben, den Schluss näher, dass bereits die Ausbildung für die Klägerin eine gravierende Belastung darstellt.

Zutreffend ist der Hinweis der Klägerin auf Art. 27 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, wonach es Menschen mit Behinderung ermöglicht werden soll, mitten in der Gesellschaft zu leben und zu arbeiten, sowie der Hinweis auf § 33 SGB IX, der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit Behinderung regelt. Allerdings folgt daraus nicht, dass die Klägerin im Hinblick auf etwaige Unterstützungsmöglichkeiten zwingend dem Leistungssystem des SGB II zuzuordnen ist. Vielmehr richtet sich die Frage der Erwerbsfähigkeit als Kriterium zur Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen dem SGB II- und dem SGB XII-Leistungsträger nach dem vorhandenen Restleistungsvermögen des Betroffenen, wie bereits vom SG zutreffend dargestellt. Dies führt im Hinblick auf die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit Behinderung aus § 33 SGB IX auch nicht zu einem Nachteil für die Klägerin, da der Träger der Sozialhilfe gemäß §§ 6 Abs. 1 Nr. 7, 5 Nr. 2, 33 SGB IX gerade auch Träger der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 SGB IX sein kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved