L 3 U 2659/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 11 U 5628/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 U 2659/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 17. April 2012 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Feststellung einer Berufskrankheit (BK).

Der am 04.09.1955 geborene Kläger war in seiner von 1984 bis 2010 währenden Beschäftigung bei dem Unternehmen T. Schleifmittel in L. bei der beklagten Berufsgenossenschaft gesetzlich unfallversichert.

Am 04.04.2011 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Anerkennung einer BK. Er sei auf Grund chemischer Einwirkungen während seiner Berufstätigkeit lungenkrank geworden. Er gelte seit nahezu zwei Jahrzehnten als Nichtraucher. Auf Nachfrage der Beklagten teilte er mit, er sei von 1984 bis 2010 als Produktionsmitarbeiter eingesetzt gewesen und dabei mit Chemikalien in Berührung gekommen. Es sei zwar eine Gesichtsmaske getragen worden, dennoch seien Atembeschwerden und auch Atemnot aufgetreten. Eine Absaug- und Belüftungseinrichtung sei vorhanden gewesen, habe aber nicht ausgereicht.

Die Beklagte holte bei dem behandelnden Internisten des Klägers, Dr. B., den Befundbericht vom 29.03.2011 ein. Darin ist ausgeführt, der Kläger habe sich an jenem Tage – erstmals – dort vorgestellt; er habe angegeben, (bereits) während seiner Berufstätigkeit nachts und morgens Husten mit Schleim (Farbe nicht bekannt) gehabt zu haben; der Husten habe sich verstärkt, seit er im Januar (2011) arbeitslos geworden sei; er habe in Ruhe Dyspnoe, könne aber auch 10 km joggen mit Stechen, aber ohne Atemnot. Dr. B. hat ferner angegeben, der Kläger sei seit 18 Jahren Nichtraucher, die Nase sei offen, Allergien beständen nicht. Hierzu wurden Allergietests gegen NaCl, Histamin, Gräser, Roggen, Birke, Eiche, Esche, Beifuß, Spitzwegerich, zwei Hausstaubmilbenarten, Hund, Katze, Pferd sowie verschiedene Schimmelpilze einschließlich Penicilium notatum durchgeführt, die jeweils keine bzw. eine geringe (Histamin) Intoleranz ergaben. Es bestehe, so Dr. B. weiter, eine ventilatorisch normale Lungenfunktion, im Metacholintest bei 200 mcg (µg) Hyperreagibilität, eine "Staublunge" liege nicht vor, eine chronische Bronchitis – in Folge der Staubinhalation – sei von einem Asthma abzugrenzen, die im Metacholintest gesehene mittelgradige bronchiale Hyperreagibilität lenke den Verdacht auf ein Asthma. Als Diagnose war eine chronische Bronchitis angegeben, differenzialdiagnostisch ein Asthma bronchiale. Ferner hatte Dr. B. einen Z.n. (Zustand nach) Nikotinabusus (5 packyears) und Alkoholentwöhnung notiert.

Die frühere Arbeitgeberin des Klägers teilte mit, sie habe den Kläger wegen Verstoßes gegen die Anzeigepflicht bei Abwesenheit gekündigt. Ferner machte sie Angaben zu den Tätigkeiten des Klägers in ihrem Unternehmen und den möglichen Expositionen gegenüber Tonerde (Al2O3), Zirkonoxid (ZrO2) und Stäuben an den Schmelzöfen.

Unter dem 04.06.2011 teilte der Hausarzt des Klägers, Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. E., der Beklagten mit, der Kläger habe am 07.02.2011 erstmals über Schmerzen der linken Flanke beim Husten geklagt. Es habe dort eine alte Rippenfraktur bestanden. Bei anamnestisch angegebenem Z.n. langer Staubexposition habe er den Kläger zum Pulmologen überwiesen. Am 18.04.2011 habe der Kläger über nächtliche Atemnot geklagt. Bei einer Lungenfunktionsprüfung habe sich eine deutliche Restriktion und Obstruktion gezeigt.

Die Beklagte zog die Akten des Versorgungsamts beim Landratsamt W. über den Kläger bei. Die darin befindlichen medizinischen Unterlagen betrafen im Wesentlichen die Alkoholkrankheit des Klägers. In dem Bericht der Radiologin Dr. E. vom 02.03.2011 war verzeichnet, eine Röntgenuntersuchung habe keine pulmonale Stauung und keine Pleuraergüsse gezeigt.

Dr. B. übersandte unter dem 04.05.2011 ergänzend die einzelnen Messwerte der Lungenfunktionsprüfung vom 29.03.2011.

In ihrer Stellungnahme vom 12.07.2011 lehnte die zuständige staatliche Gewerbeärztin Dr. G. (R. Stuttgart) die Anerkennung einer BK nach Nr. 4302 der BK-Liste ab. Die Atembeschwerden seien erst nach dem Ende der Berufstätigkeit festgestellt worden. Zuvor habe der Kläger ihretwegen nie einen Arzt aufgesucht. Auch der Arbeitgeber habe von den vermeintlichen Lungenbeschwerden nichts gewusst. Es spreche viel dafür, dass das hyperreagible Bronchialsystem die Hustenanfälle und die Brustbeklemmung verantworte. Eine obstruktive Lungenerkrankung wurde nicht festgestellt.

Mit Bescheid vom 09.08.2011 lehnte die Beklagte daraufhin die Anerkennung einer BK nach Nrn. 4301 oder 4302 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) ab. Diese BKen setzten eine durch allergisierende bzw. chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankung bzw. Rhinopathie voraus, die auf eine berufliche Tätigkeit zurückzuführen seien. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt.

Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.10.2011 zurück.

Deswegen hat der Kläger am 21.10.2011 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben. Seine Erkrankung müsse auf seine Berufstätigkeit zurückgeführt werden. Ein Nikotinkonsum habe nicht vorgelegen. Für die Anerkennung habe es keine Bewandtnis, ob die angeschuldigte Berufstätigkeit weiterhin ausgeübt werde. Er legte auch den Bescheid des Versorgungsamts beim LRA W. vom 27.12.2011 vor, mit dem ihm ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 zuerkannt worden war, unter anderem wegen eines Bronchialasthmas und eines hyperreagiblen Bronchialsystems.

Das SG hat Dr. B. schriftlich als sachverständigen Zeugen vernommen. Er hat unter dem 24.01.2012 mitgeteilt, der Kläger sei zuletzt am 25.05.2011 bei ihm gewesen, er habe während der Behandlung über nächtlichen und morgendlichen Husten mit Schleimbildung seit 26 Jahren geklagt, er mache dafür seine Berufstätigkeit ("Tonerde in den Schmelzofen schaufeln") verantwortlich, die Beschwerden hätten sich seit Beginn der Arbeitslosigkeit verstärkt. Es bestehe eine normale ventilatorische Lungenfunktion. Er – der Zeuge – habe unter dem Verdacht auf Asthma eine inhalative Steroidtherapie begonnen, jedoch sei der Kläger zu den vereinbarten Kontrollen nie erschienen.

Am 21.03.2012 hat der Kläger dem SG mitgeteilt, er sei nicht mehr unter der bekannten Wohnanschrift erreichbar, er gelte als obdachlos. Er hat den Beschluss des Amtsgerichts Bad S. vom 15.09.2011 vorgelegt, mit dem ihm unter anderem verboten worden war, seine ehemalige Wohnung wieder zu betreten.

Mit Gerichtsbescheid vom 17.04.2012 hat das SG die Klage abgewiesen. Die BKen Nrn. 4301 und 4302 der BK-Liste setzten u. a. voraus, dass die obstruktive Atemwegserkrankung zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen habe, die für die Entstehung, Verschlimmerung oder das Wiederauftreten der Krankheit ursächlich gewesen seien oder dies sein könnten. Dass dies bei dem Kläger der Fall gewesen sei, stehe bereits nicht fest. Während seiner Berufstätigkeit habe er wegen einer Lungenerkrankung keine ärztliche Behandlung in Anspruch genommen. Ein behandlungsbedürftiger Zustand sei erst nach dem Ende seiner Berufstätigkeit während einer Arbeitslosigkeit entstanden. Auch Dr. B. teile die Einschätzung, dass keine BK angenommen werden könne.

Dieser Gerichtsbescheid ist am 21.04.2012 an der (früheren) Wohnanschrift des Klägers durch Einwurf in den Hausbriefkasten zugestellt worden.

Am 18.06.2012 hat der Kläger Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Er trägt vor, er habe sich seit dem 17.04.2012 in einer stationären Behandlung zur Alkoholtherapie befunden. Hierzu legt er die Bescheinigung der Klinik vom 29.05.2012 vor. Den Gerichtsbescheid habe er erst verspätet erhalten. Insoweit beantrage er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. In der Sache trägt er vor, er habe schon während seines Arbeitslebens ab 1984 Schmerzen gehabt, aber um seinen Arbeitsplatz gefürchtet.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 17. April 2012 aufzuheben und unter Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 09. August 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05. Oktober 2011 festzustellen, dass bei ihm eine Berufskrankheit nach Nr. 4301 bzw. Nr. 4302 der Berufskrankheiten-Liste vorliegt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt den angegriffenen Gerichtsbescheid und ihre Entscheidungen.

Auf Bitten des Senats hat die Krankenkasse des Klägers, die AOK Baden-Württemberg Unterlagen eingereicht, darunter das Vorerkrankungsverzeichnis des Klägers mit Eintragungen vom 12.01.1995 bis 06.09.2011.

Der Senat hat den behandelnden Arzt des Klägers, Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. O., schriftlich als sachverständigen Zeugen vernommen. Dieser Zeuge hat unter dem 22.08.2012 mitgeteilt, der Kläger sei in der dortigen Praxis mindestens seit dem 17.12.1993, wahrscheinlich schon viele Jahre länger, in Behandlung. Der Verdacht einer obstruktiven Bronchitis sei erstmals am 07.02.2011 geäußert worden. Weitere Angaben dieses Arztes betreffen die anderen Erkrankungen des Klägers.

Ferner hat der Senat den früheren Betriebsarzt der T. Schleifmittel, Dr. F., schriftlich als sachverständigen Zeugen vernommen. Dieser Zeuge hat unter dem 28.07.2012 bekundet, der Kläger sei in der Korundschmelze beschäftigt gewesen, er sei 1999, 2002, 2005 und 2008 betriebsärztlich untersucht worden, 2001 sei er mit einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von 3,0 ‰ am Arbeitsplatz angetroffen worden, daraufhin seien seit 2003 Leber- und Blutbildkontrollen mit normgerechten Ergebnissen durchgeführt worden, 2004 habe es eine Entgiftung gegeben.

Die Nachfolgerin Dr. F. als Betriebsärztin bei T. Schleifmittel, Ärztin für Allgemein- und Betriebsmedizin B., hat unter dem 06.09.2012 mitgeteilt, sie selbst habe den Kläger nicht behandelt. Sie hat die dort vorhandenen betriebsärztlichen Untersuchungsberichte des Klägers vom 24.05.1993 bis zum 06.02.2008 sowie weitere Unterlagen vorgelegt.

Der Senat hat den Kläger persönlich angehört. Wegen des Ergebnisses wird auf das Protokoll der nichtöffentlichen Sitzung vom 13.12.2012 verwiesen.

In dem genannten Erörterungstermin haben beide Beteiligte auf eine mündliche Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die Berufung des Klägers, über die der Senat nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) im Einvernehmen mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist nach §§ 105 Abs. 2 Satz 1, 143 SGG statthaft.

2. Sie ist auch ansonsten zulässig. Insbesondere ist sie nicht nach Ablauf der in § 151 Abs. 1 SGG genannten Frist von einem Monat erhoben, sondern fristgerecht.

Die Berufungseinlegungsfrist beginnt mit der Zustellung der in vollständiger Form abgefassten angefochtenen Entscheidung. Zugestellt wird nach § 63 Abs. 2 Satz 1 SGG von Amts wegen nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung, also den §§ 166 ff. ZPO. Eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten ist nach § 180 Satz 1 ZPO nur zulässig und wirksam, wenn diesen Briefkasten "der Adressat eingerichtet" hat und also noch unterhält. Auch aus dem Verweis auf § 178 Abs. 1 ZPO in § 180 Satz 1 ZPO ergibt sich, dass eine wirksame Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten nur dann zulässig ist, wenn der Adressat in "seiner" Wohnung nicht angetroffen worden ist. Die Beachtung dieser Voraussetzungen wird zwar nach § 182 Abs. 1 Satz 1 ZPO durch eine ordnungsgemäß errichtete Zustellungsurkunde bewiesen. Für diese Urkunde gilt jedoch nach § 182 Abs. 1 Satz 2 ZPO auch § 418 ZPO, sodass nach § 418 Abs. 2 ZPO der Gegenbeweis der Unrichtigkeit offen steht, da dies das baden-württembergische Landesrecht nicht ausschließt (vgl. §§ 22 ff. Gesetz zur Ausführung des Gerichtsverfassungsgesetzes und von Ver¬fah¬rens¬gesetzen der ordentlichen Gerichtsbarkeit). Für diesen Gegenbeweis sind die Anforderungen des Strengbeweisverfahrens nicht erforderlich.

Diesen Gegenbeweis hat der Kläger geführt. Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger nicht mehr unter seiner früheren Adresse wohnte, an der am 21.04.2012 der angegriffene Gerichtsbescheid in den Briefkasten gelegt wurde. Dies hatte er schon unter dem 19.03.2012 auch dem SG mitgeteilt und hierzu den Wegweisungsbeschluss des AG Bad S. vorgelegt. Ebenso hat er im Berufungsverfahren durch Vorlage der Bescheinigung vom 29.05.2012 ausreichend nachgewiesen, dass er sich seit dem 17.04.2012 in der Fachklinik F. aufhielt.

Wann genau der Kläger den angegriffenen Gerichtsbescheid erhielt und also die Berufungsfrist ausgelöst wurde (§ 189 ZPO), ist zwar nicht bekannt. Der Senat geht jedoch davon aus, dass dies nicht vor dem 29.05.2012 geschehen ist, denn an diesem Tag hatte die F.-Klinik die eingereichte Bescheinigung ausgestellt.

Hiervon ausgehend ist die am 18.06.2012 bei dem SG eingegangene Berufung fristgerecht erhoben. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 Abs. 1 SGG, wie sie der Kläger - hilfsweise - beantragt hat, war daher nicht notwendig; sie wäre aber ohnedies ebenso zu gewähren gewesen.

3. Die Berufung ist jedoch nicht begründet.

a) Gegenstand des Verfahrens ist die Feststellung einer BK nach Nrn. 4301 oder 4302 der Anlage 1 zur BKV (§ 9 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VII]). Etwaige andere BKen, auch eine BK nach § 9 Abs. 2 SGB VII ("Quasi-BK" oder "Wie-BK"), können in diesem Gerichtsverfahren nicht geltend gemacht werden. Mit dem angegriffenen Bescheid vom 09.08.2011 hat die Beklagte allein über eine BK nach Nrn. 4301/4302 entschieden. Soweit das vorangegangene Verwaltungsverfahren umfassender geführt worden war, hat es sich durch diesen Bescheid auf die genannten BKen verengt.

b) In diesem Rahmen ist die Klage des Klägers nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 und – in erweiternder Auslegung - § 55 Abs. 1 Halbsatz 1 Nr. 3 SGG als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage zulässig, aber nicht begründet. Bei dem Kläger war die geltend gemachte BK nicht festzustellen. Der ablehnende Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Als Versicherungsfall gilt nach § 7 Abs. 1 SGB VII auch eine BK. BKen sind zum einen ("Listen-BK") die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet (Berufskrankheiten-Verordnung, BKV) und die ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit erleidet (§ 9 Abs. 1 SGB VII). Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der BKV solche Krankheiten als BKen zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann BKen auf bestimmte Gefährdungsbereiche beschränken oder mit dem Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten versehen.

Gemäß diesen Vorgaben lassen sich bei einer Listen-BK im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten, die ggf. bei einzelnen Listen-BKen einer Modifikation bedürfen: Die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen" und "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. BSG, Urteile vom 27.06.2006 - B 2 U 20/04 R - in SozR 4-2700 § 9 Nr. 7 und vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - in SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Ein Zusammenhang ist hinreichend wahrscheinlich, wenn nach herrschender ärztlich-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen ihn spricht und ernste Zweifel an einer anderen Ursache ausscheiden (vgl. BSG a.a.O.).

Die beiden geltend gemachten BKen sind in der Anlage 1 zur BKV beschrieben als durch allergisierende (Nr. 4301) bzw. durch chemisch-irritative oder toxische Stoffe (Nr. 4302) verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen (einschließlich Rhi¬no¬pathie), die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können. Mit dieser Zusatzklausel hat die Bundesregierung bei diesen beiden BKen von der ausdrücklichen Ermächtigung in § 9 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 SGB VII Gebrauch gemacht und nicht jede berufsbedingte obstruktive Atemwegserkrankung als BK anerkannt, sondern nur solche, die ein so erhebliches Ausmaß erreicht haben, dass sie zur Aufgabe der Berufstätigkeit gezwungen haben bzw. die Wiederaufnahme der ggfs. belastenden Berufstätigkeit verhindern. Dies bedeutet, dass der Versicherte gezwungen gewesen sein muss, alle gefährdenden Tätigkeiten aufzugeben. Als Folge dieses Zwangs muss die Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit tatsächlich erfolgt sein. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, liegt die geltend gemachte BK nicht vor (vgl. BSG, Urt. v. 30.10.2007, B 2 U 4/06 R, SozR 4-5671 Anl. 1 Nr. 2108 Nr. 5 sowie Urt. v. 18.11.2008, B 2 U 14/07 R, Juris) und ist nicht anzuerkennen. Diese zusätzliche Voraussetzung führt daher dazu, dass für die Anerkennung einer der beiden BKen in der Regel der Nachweis erbracht sein muss, dass die Verschlechterung der Lungenfunktion mit zunehmender Atemstrombegrenzung - bereits - während der angeschuldigten Gefährdung stärker war als nach dem natürlichen Verlauf zu erwarten (Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung, Stand 2/11, Nr. M 4301 S. 14). Dieser Nachweis kann zwar auch nach dem Ende der Tätigkeit geführt werden, aber er muss sich auf die Zeit der Berufstätigkeit beziehen.

aa) Bei dem Kläger ist bereits keine obstruktive Atemwegserkrankung nachgewiesen.

"Obstruktive Atemwegserkrankung" ist der Sammelbegriff für Krankheiten des broncho-pul-mo¬na¬len Systems, die mit obstruktiven Ventilationsstörungen einhergehen. Darunter fallen demnach die allergische Rhinopathie, das Asthma bronchiale und die chronische obstruktive Bronchitis bzw. chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD). Die unspezifische bronchiale Hyperreagibilität ist kein eigenständiges Krankheitsbild in diesem Sinne, sondern Ausdruck der gesteigerten Bereitschaft der unteren Atemwege, mit Obstruktion zu reagieren (Mehrtens/Brandenburg, a.a.O., M 4301 S. 7). Fehlt es bei einer Krankheit des Versicherten an der Obstruktion, liegen die Voraussetzungen einer obstruktiven Atemwegserkrankung nicht vor (Mehrtens/Brandenburg, a.a.O. m.w.N.). Eine obstruktive Ventilationsstörung entsteht durch eine Verringerung des Atemwegs¬quer¬schnitts, der die gesamte Atemwegsgeometrie umfasst. Die Folge ist die Atemstrombegrenzung in der Ausatemphase (exspiratorische Atemstrombegrenzung). Es wird zwischen zentralen und peripheren obstruktiven Ventilationsstörungen unterschieden (zu allem Schönberger/Mehr¬tens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, S. 995 f.).

Der für die Diagnose einer obstruktiven Lungenerkrankung (hier: COPD) maßgebliche Wert der Lungenfunktionsprüfung, insbesondere der Spirometrie, ist die Einsekundenkapazität (FEV1). Nach ihrer Einschränkung wird die COPD in vier Schweregrade eingeteilt: I (FEV1 &8805; 80 %: I; 50 bis unter 80 %: II; 30 bis unter 50 %: III; unter 30 %: IV; vgl. Schönberger/Mehr-tens/Va¬len¬tin, a.a.O., S. 997). Die Einstufungen der internationalen Klassifikation der Krankheiten der WHO (ICD-10, hier zitiert nach www.dimdi.de) weichen hiervon nur in Einzelpunkten ab (ICD-10 Nr. J44-0 ff.). Die Vitalkapazität (VC) hingegen ist bei einer primären obstruktiven Lungenerkrankung, wie sie die Nrn. 4301 und 4302 der BK-Liste verlangen, nicht unbedingt eingeschränkt. Die Diagnose einer obstruktiven Erkrankung setzt daher auch voraus, dass die Einsekundenkapazität im Verhältnis zur Vitalkapazität nennenswert herabgesetzt wird. So setzen alle Stufen der COPD voraus, dass das Verhältnis FEV1/VC ( 70 % beträgt (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 997). Ist - auch - die VC (v. a. die Totalkapazität der Lunge) herabgesetzt, sodass ggfs. ein höherer Verhältniswert besteht, liegt - auch - eine restriktive Lungenerkrankung vor, die ggfs. im Vordergrund steht. Weitere, klinische Indizien für eine obstruktive Lungenerkrankung im Sinne der genannten BKen sind asthmatische Symptome, Husten mit Auswurf, Atembeklemmungen, ein Giemen der Lungen und ggfs. eine Hyperreagibilität, nachgewiesen durch unspezifische Provokationen der Lunge (Mehrtens/Schönber¬ger/Valentin, a.a.O., S. 1054).

Gemessen hieran ist zunächst festzustellen, dass eine COPD nicht besteht. Bei der Untersuchung am 29.03.2011 hat Dr. B. ausweislich seines Arztberichts von jenem Tage eine ventilatorisch normale Lungenfunktion gemessen. Er hat auch entsprechend - nur - den Verdacht auf ein Asthma bronchiale geäußert. Zu den gleichen Ergebnissen ist er auch bei der zweiten Untersuchung am 25.05.2011 gekommen. Für die Untersuchung am 29.03.2011 wird diese Einschätzung auch durch die Ergebnisse der Lungenfunktionsprüfung bestätigt, die Dr. B. schon im Verwaltungsverfahren vorgelegt hatte. Dort hatte er eine FEV1 von 109 % des Sollwerts gemessen, auch der Tiffeneau-Wert (FEV1/VG) lag bei 73,62 % über der maßgeblichen Grenze und damit bei 95 % des Sollwerts. Eine andere Einschätzung folgt auch nicht aus der Aussage des behandelnden Hausarztes und dem von ihm vorgelegten Arztbrief vom 04.06.2011 an die Beklagte. Dort hatte er zwar angegeben, eine Lungenfunktionsprüfung vom 18.04.2011 habe eine "deutliche Restriktion und Obstruktion" ergeben. Diese Aussage überzeugt jedoch nicht, weil Dr. O. die Ergebnisse nach seiner eigenen Angabe nicht gerätetechnisch dokumentiert hat und weil die zeitnah bei Dr. B. durchgeführten Lungenfunktionsprüfungen andere Werte ergeben haben.

Auch das Vorliegen eines Asthma bronchiale ist nicht gesichert. Dr. B. hat insoweit nur eine Verdachtsdiagnose geäußert und auch eine chronische Bronchitis für möglich gehalten. An dieser Einschätzung hat er ausdrücklich auch bei seiner Zeugenaussage vor dem SG vom 24.01.2012 festgehalten. Er hat dort auch ausgeführt, der Kläger sei trotz Vereinbarungen zu den Kontrollterminen nach dem 25.05.2011 nicht mehr erschienen. Insofern konnte die Verdachtsdiagnose bislang nicht gesichert werden. Die Angaben des Klägers zur Art seiner Krankheit erscheinen wenig glaubhaft. So hat er bei Dr. B. zwar Husten mit Auswurf angegeben, aber weder Menge noch Farbe des Auswurfs mitteilen können. Seine Angaben, er leide schon in Ruhe an Dyspnoen, könne aber gleichwohl noch 10 km oder mehr joggen, sind widersprüchlich. Die von ihm beschriebenen Schmerzen in der Brust beim Husten können eventuell auch von der verheilten Rippenfraktur herrühren, die Dr. E. bei der Röntgenuntersuchung am 01.03.2011 festgestellt hat.

bb) Unabhängig hiervon hat der Kläger, worauf das SG zu Recht hingewiesen hat, seine Berufstätigkeit nicht wegen einer möglichen - aber bislang, wie ausgeführt, nicht gesicherten - Lungenerkrankung aufgegeben. Es besteht kein Unterlassungszwang.

Es finden sich keine objektiven Hinweise darauf, dass die Lungenkrankheit bereits während der Berufstätigkeit des Klägers entstanden ist. Ärztlich erstmals dokumentiert wurde die Erkrankung - anamnestisch und als Verdachtsdiagnose eines Asthma - am 07.02.2011. Dies hat Dr. O. in seiner Aussage vom 22.08.2012 bekundet. Weder in seinem Behandlungsverzeichnis noch in dem Vorerkrankungsverzeichnis der AOK, das immerhin bis 1995 zurückreicht, ist jemals eine Atemwegserkrankung dokumentiert. Der Kläger hat zwar angegeben, auch bei seiner persönlichen Anhörung in dem Erörterungstermin am 13.12.2012, er habe schon seit Jahren Husten und Probleme mit der Lunge gehabt. Diese Aussage reicht jedoch für eine richterliche Überzeugungsbildung nicht aus. Es ist bereits nicht glaubhaft, dass der Kläger "aus Angst um seinen Arbeitsplatz" niemandem von seiner Erkrankung erzählt haben will, auch nicht seinen Hausarzt Dr. O., bei dem er immerhin seit mindestens 1993 in Behandlung war, sodass auch keine Behandlung möglich war. Vor allem aber zeigt die weitere Beweisaufnahme im Berufungsverfahren, dass die Angaben des Klägers nicht stimmen können. Nicht nur der damalige Betriebsarzt Dr. F. hat nichts von einer Lungenerkrankung gewusst. Vor allem zeigen die von seiner Nachfolgerin, Ärztin B., eingereichten Ergebnisse der Betriebsuntersuchungen vom 24.05.1993 bis zum 06.02.2008, dass der Kläger niemals unter einer obstruktiven Lungenerkrankung litt. Bei den letzten Untersuchungen hatten sich die Parameter der Lungenfunktionsuntersuchung sogar verbessert: Am 16.02.2008 lag die FEV1 bei 92 % des Sollwerts, der Tiffeneau-Index bei 72 %. Am 10.02.2005 waren bei der FEV1 sogar 102 % des Sollwerts gemessen worden. Dagegen waren die Werte bei früheren Untersuchungen schlechter gewesen: Am 17.01.2002 hatte Dr. F. nur eine FEV1 von 84 % und am 19.01.1999 sogar nur 73 % des Sollwerts gemessen. Vielleicht lagen diese Werte damals niedriger, weil der Kläger damals noch Raucher war bzw. das Rauchen noch nicht lange aufgegeben hatte. Jedenfalls war während der Berufstätigkeit eher eine Verbesserung zu verzeichnen.

Ausgehend davon, dass die Atemwegserkrankung erstmals im Februar 2011 festgestellt worden ist, fehlt daher der notwendige Unterlassungszwang. Zu diesem Zeitpunkt war der Kläger schon mehrere Monate nicht mehr bei T. Schleifmittel beschäftigt. Er hatte seine Arbeit nicht wegen einer Lungenerkrankung aufgeben müssen, sondern war wegen Verstößen gegen Anwesenheits- oder Mitteilungspflichten gekündigt worden. Während seines gesamten Berufslebens stand die Alkoholerkrankung im Vordergrund, worauf auch Dr. F. hingewiesen hat. Es gibt daher auch keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die Erkrankung verschlimmern würde, wenn der Kläger seine damalige Berufstätigkeit wieder aufnähme.

cc) Aus diesen Gründen kann offen bleiben, ob der Kläger während seiner Tätigkeit allergisierenden oder chemisch-irritativen bzw. toxischen Stoffen im Sinne der BKen Nrn. 4301, 4302 ausgesetzt war.

4. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG.

5. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht vorgetragen oder ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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