L 13 AL 5131/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 4 AL 2339/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 AL 5131/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 26. September 2011 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit steht die Gewährung von Transferkurzarbeitergeld bezüglich der Arbeitnehmerin Lo. ( im Folgenden AN).

Bei der AN handelt es sich um eine ehemalige Beschäftigte der Ca. GmbH, A ... Am 17. September 2009 schloss die Ca. GmbH mit ihrem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung mit Interessenausgleich über die Schaffung neuer Personalstrukturen. Danach sind Personalanpassungsmaßnahmen in erheblichem Umfang durchzuführen. Die Betriebsparteien haben sich mit der Vereinbarung vom 2. Dezember 2009 auf die in der Anlage namentlich genannten Arbeitnehmer -darunter auch AN- als vom Personalabbau Betroffenen geeinigt. Die von der drohenden Entlassung betroffenen Arbeitnehmer (letztendlich 106 Arbeitnehmer) wurden mittels eines dreiseitigen Vertrages in die unter der Trägerschaft der Klägerin, einem Anbieter im Bereich von Transfer-, Qualifizierungs- und Personaldienstleistungen, gebildeten betriebsorganisatorisch eigenständigen Einheit (beE; s. Dienstleistungsvertrag vom 22. Dezember 2009) übernommen, in der ihnen eine angepasste berufliche Qualifizierung ermöglicht und die Aufnahme in den ersten Arbeitsmarkt erleichtert werden sollte. Die maximale Verweildauer in der beE beträgt 12 Monate.

Am 18. Januar 2010 (Schreiben vom 14. Januar 2010) zeigte die Klägerin einen Arbeitsausfall mit Arbeitsentgeltausfall in der beE ab 1. Januar 2010 an und benannte u.a. auch AN. Auf AN, geb. 1956, fand § 4.4 Manteltarifvertrag (MTV) für die Beschäftigten in der Metallindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden vom 18. Dezember 1996/19. September 2000 Anwendung, der bestimmt, dass eine ordentliche Kündigung von Beschäftigten, die das 53., aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet haben und dem Betrieb mindestens 3 Jahre angehören, ausgeschlossen ist.

Mit Bescheid vom 11. März 2010 stellte die Beklagte fest, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Transferkurzarbeitergeld erfüllt seien und den vom Entgeltausfall betroffenen Arbeitnehmern mit Ausnahme von AN ab 1. Januar 2010 Leistungen bewilligt werden. Hinsichtlich der Ablehnung der Leistungen an AN wurde ausgeführt, für diese bestehe nach § 4.4 MTV ein absoluter Kündigungsschutz. Insofern sei für die Gewährung von Transferkurzarbeitergeld entscheidend, ob der Arbeitnehmer trotz des absoluten ordentlichen Kündigungsschutzes aufgrund der Strukturanpassungsmaßnahmen rechtswirksam entlassen werden könne. Dies sei nach Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) nur dann der Fall, wenn der Arbeitsplatz wegfalle und der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auch unter Einsatz aller zumutbaren Mittel einschließlich Umorganisation des Betriebes nicht weiterbeschäftigten könne. Es genüge insoweit nicht, dass der Arbeitgeber das Bestehen entsprechender freier Arbeitsplätze in Abrede stelle.

Die Klägerin legte hiergegen am 15. März 2010 Widerspruch ein und verwies auf eine Stellungnahme der Ca. GmbH. Diese führte aus, AN sei zuletzt als Versandmitarbeiterin in Vollzeit eingesetzt gewesen. Ihr Arbeitsplatz sei weggefallen, da das Volumen der Versandarbeiten erheblich eingebrochen sei. Aufgrund der Struktur der verbliebenen Tätigkeiten im Versand habe AN nicht mehr als Versandmitarbeiterin eingesetzt werden können. Eine Umsetzung auf eine andere Position in der Produktion sei nicht in Betracht gekommen, da AN hierfür aufgrund ihrer bisherigen Tätigkeit nicht geeignet gewesen sei. Ferner verwies die Arbeitgeberin auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. Januar 2008 - B 7/7a AL 20/06 R). Danach liege eine drohende Arbeitslosigkeit als Voraussetzung für die Gewährung von Transferkurzarbeitergeld vor, wenn eine ernste Absicht des Arbeitgebers bestehe, den betreffenden Arbeitnehmer zu entlassen. Diese ernste Absicht sei nach Ansicht des BSG bereits in der Kündigungsnamensliste gemäß § 1 Abs. 5 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) zum Interessenausgleich zu sehen. Einer hypothetischen kündigungsrechtlichen Einzelfallprüfung bedürfe es nicht.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14. Juni 2010 zurück. Zur Begründung führte sie aus, das Urteil des BSG vom 29. Januar 2008 (B 7/7a AL 20/06 R) sei zu der Vorgängerregelung des § 175 Sozialgesetzbuch - Drittes Buch - Arbeitsförderung (SGB III) ergangen und nicht auf die jetzt geltende Regelung des § 216b Abs. 4 Nr. 1 SGB III übertragbar. Während nach der Regelung des § 216b Abs. 4 Nr. 1 SGB III die persönlichen Voraussetzungen ausdrücklich nur dann erfüllt seien, wenn der Arbeitnehmer von Arbeitslosigkeit bedroht sei, setze die Vorgängerregelung des § 175 Abs. 1 Nr. 2 SGB III nur voraus, dass die vom Arbeitsausfall betroffenen Arbeitnehmer zur Vermeidung von Entlassungen einer erheblichen Anzahl von Arbeitnehmern des Betriebes in einer beE zusammengefasst seien, ohne dass deren Identität mit den Arbeitnehmern verlangt werde, deren Entlassung vermieden werden solle. Damit habe das BSG klar zum Ausdruck gebracht, dass die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Transfer-Kurzarbeitergeld nur für Arbeitnehmer vorlägen, die "von Arbeitslosigkeit bedroht" seien. Eine Bedrohung von Arbeitslosigkeit liege bei einem unkündbaren Arbeitnehmer nicht vor.

Die Klägerin hat am 16. Juli 2010 Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben und nochmals auf das Urteil des BSG vom 29. Januar 2008 hingewiesen. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass § 4.4 MTV keinen absoluten Kündigungsschutz gewähre. Eine außerordentliche Kündigung ordentlich unkündbarer Arbeitnehmer sei nach der Rechtsprechung des BAG zulässig, da die Beschäftigung von Arbeitnehmern, für die kein Arbeitsplatz mehr vorhanden sei, von niemand gefordert werden könne. Die Beklagte hat auf ihren Widerspruchsbescheid verwiesen. Das SG hat mit Urteil vom 26. September 2011 antragsgemäß die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 11. März 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Juni 2010 verurteilt, der Klägerin Transferkurzarbeitergeld für AN ab 1. Januar 2010 zu gewähren. Die Klägerin habe als Prozessstandschafterin für AN einen Anspruch auf Transferkurzarbeitergeld. Die Beklagte habe bestandskräftig und damit bindend entschieden, dass ein dauerhafter unvermeidbarer Arbeitsausfall angezeigt worden sei und vorliege und dass auch die betrieblichen Voraussetzungen vorlägen. Auch die persönlichen Voraussetzungen für AN gem. § 216b Abs. 4 SGB III lägen vor; entgegen der Auffassung der Beklagten sei AN auch von Arbeitslosigkeit bedroht, da nach der überzeugenden in einem obiter dictum dargelegten Auffassung des BSG vom 29. Januar 2008, B 7/7a AL 20/06 R, ein Arbeitnehmer von Arbeitslosigkeit bereits dann bedroht sei, wenn er alsbald mit einer Beendigung der Beschäftigung rechnen müsse, was allein eine ernste Absicht des Arbeitgebers voraussetze, die durch die Kündigungsliste -in der AN namentlich genannt sei- dokumentiert sei.

Am 23. November 2011 hat die Beklagte gegen das ihr am 7. November 2011 zugestellte Urteil des SG Berufung eingelegt. Die Klägerin habe nicht nachgewiesen, dass AN hätte rechtswirksam außerordentlich gekündigt werden können. Neben dem Wegfall des Arbeitsplatzes des ordentlich unkündbaren Arbeitnehmers müsse auch eine anderweitige Beschäftigung unter Einsatz aller zumutbarer Mittel unmöglich sein. Das Urteil des BSG zur Vorgängerregelung habe keine Bedeutung.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 26. September 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Das SG habe zutreffend auf die Entscheidung des BSG vom 29. Januar 2008 abgestellt, da dort auf die auch hier geltende Legaldefinition in § 17 SGB III abgestellt worden sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Die Anfechtungs- und Leistungsklage auf Zahlung von Transferkurzarbeitergeld ist zulässig, da die Beklagte das normalerweise zweistufige Verwaltungsverfahren -zulässigerweise- in einem Bescheid zusammengefasst hat und die begehrte Leistung für namentlich benannte Arbeitnehmer -nämlich für AN- abgelehnt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 29. Januar 2008, B 7/7a AL 20/06 R; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 1. August 2012, L 3 AL 3581/11 beide veröffentlicht in Juris).

Die Klage ist auch begründet. Das SG hat zutreffend entschieden, dass die Klägerin als Prozessstandschafterin der AN -ohne dass deren Beiladung notwendig ist (vgl. BSG, Urteil vom 29. Januar 2008, a.a.O.)- einen Anspruch auf Zahlung von Transferkurzarbeitergeld für AN ab 1. Januar 2010 hat, weil die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Transferkurzarbeitergeld (§ 216b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 4 SGB III in der vom 1. Januar 2009 bis 31. Dezember 2010 geltenden Fassung - a.F.-) vorliegen und die übrigen Voraussetzungen (§ 216b Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 SGB III a.F.) von der Beklagten bindend anerkannt (vgl. hierzu auch BSG, Urteil vom 14. September 2010, B 7 AL 29/09 R, veröffentlicht in Juris) worden sind. Der Senat sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und weist die Berufung aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurück (§ 153 Abs. 2 SGG).

Das SG hat zutreffend unter Hinweis auf die zitierte Entscheidung des BSG (a.a.O.) darauf verwiesen, dass nach § 17 SGB III in der hier vom 1. Januar 1998 bis 31. März 2012 geltenden Fassung ein Arbeitnehmer dann von Arbeitslosigkeit bedroht ist, wenn er versicherungspflichtig beschäftigt ist, alsbald mit der Beendigung der Beschäftigung rechnen muss und voraussichtlich arbeitslos wird. Nach der überzeugenden Auffassung des BSG (Urteil vom 29. Januar 2008, a.a.O.) ist mit einer Beendigung der Beschäftigung zu rechnen, wenn der Arbeitgeber die ernste Absicht hat, den Arbeitnehmer zu entlassen. Dass der Arbeitgeber die ernste Absicht hat, den Arbeitnehmer zu entlassen, ergibt sich bereits aus einer Anzeige über den Arbeitsausfall bzw. erst recht aus der namentlichen Kündigungsliste im Rahmen eines betrieblichen Interessenausgleichs, die diese Absicht ausreichend dokumentiert (BSG, Urteil vom 29. Januar 2008, a.a.O.). Auf die Rechtmäßigkeit dieser beabsichtigten Kündigung kommt es nicht an (BSG, Urteil vom 29. Januar 2008, a.a.O.). § 17 SGB III lässt nicht im Ansatz erkennen, dass die Arbeitslosigkeit von einer rechtmäßigen Kündigung drohen muss. AN war versicherungspflichtig beschäftigt, sie musste alsbald mit der Kündigung rechnen und wäre voraussichtlich auch arbeitslos geworden, wenn sie nicht in eine beE übergewechselt wäre. Hierüber herrscht zwischen den Beteiligten auch Übereinstimmung.

Ergänzend ist noch auszuführen, dass die gem. §§ 216b Abs. 10, 325 Abs. 3 SGB III erforderliche Frist zur Antragstellung eingehalten worden ist, weshalb das SG zutreffend das Transferkurzarbeitergeld für AN ab 1. Januar 2010 zugesprochen hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Hierbei war für den Senat im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens ausschlaggebend, dass die Rechtsverfolgung der Klägerin erfolgreich war und die Beklagte Anlass zur Klageerhebung gegeben hat.

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht. Das BSG hat -nicht nur in einem obiter dictum, sondern hilfsweise auch für den von ihm entschiedenen Fall- ausführlich dazu Stellung genommen, dass auch einem ordentlich unkündbaren Arbeitnehmer die Arbeitslosigkeit droht, wenn der Arbeitgeber nur die ernste Absicht hat, ihm -ob rechtswidrig oder nicht-zu kündigen. Zudem ist § 216b SGB III mittlerweile außer Kraft getreten und durch § 111 SGB III ersetzt worden.
Rechtskraft
Aus
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