L 1 U 4334/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 4 U 5282/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 4334/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 13.09.2012 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer höheren Verletztenrente im Wege eines Zugunstenverfahrens im Streit.

Der 1950 geborene Kläger bezog aufgrund eines ersten Unfalles vom 23.01.1970 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 von Hundert (v. H.) und anschließend um 30 v.H bzw. um 20 v.H. Er hatte sich damals als Sägewerksarbeiter bei einem Leitersturz aus ca. 5 m Höhe eine Kniescheibentrümmerfraktur zugezogen. Mit Bescheid vom 12.01.1987 wurden folgende Unfallfolgen anerkannt: "Nach knöchern verheiltem Kniescheibenbruch links Minderung der Beinmuskulatur, Bewegungseinschränkung im Kniegelenk und oberen Sprunggelenk, röntgenologisch erkennbare Veränderungen im Kniegelenk mit Kalksalzminderung".

Mit Bescheid vom 07.07.2005 wurde die Rentenleistung auf eine Verletztenrente nach einer MdE um 30 v.H. erhöht, nachdem sich herausgestellt hatte, dass eine wegen der Unfallfolgen im Jahr 2004 durchgeführte Versorgung mit einer Knieendoprothese links noch ein Jahr nach der Durchführung des Eingriffs eine erhebliche Einschränkung der Bewegungsfähigkeit und der Belastbarkeit hinterlassen hatte.

Spätestens ab 2006 kam es zu weiteren Komplikationen mit der Knieendoprothese im Sinne einer Lockerung, weswegen ein zweiseitiger Wechsel mit Entfernung der Endoprothese und Implantation eines Spacers vorgenommen wurde. Am 15.01.2007 wurde die Reimplantation einer gekoppelten Knieendoprothese vorgenommen. Der Orthopäde Dr. C. stellte in seinem Gutachten vom 23.07.2007 eine Verschlimmerung der wesentlichen Unfallfolgen (u.a.: Beugeeinschränkung des linken Kniegelenks und Beinverkürzung links um ca. 2,4 cm bei Muskelverschmächtigung und anhaltendem Reizzustand sowie Beeinträchtigung des Gehfähigkeit und Notwendigkeit des Gebrauchs von Gehhilfen). Daraufhin wurde mit Bescheid vom 24.08.2007 eine Verschlimmerung der Unfallfolgen ("Beinlängenverkürzung links sowie ruhender Infekt im Bereich des Kniegelenkes nach Einpflanzung einer Knie-Totalendoprothese") festgestellt und die Rente ab dem 01.12.2006 wieder nach einer MdE um 40 v.H. gewährt. Der wegen der Höhe der Rente erhobene Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 23.04 2008 zurückgewiesen. Der Kläger hat deswegen am 04.06.2008 beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) Klage erhoben (Aktenzeichen S 3 U 2416/08).

Am 27.05.2008 kam es zu einem weiteren Unfallereignis, dessen genauer Hergang streitig ist. Die Beklagte erlangte hiervon erstmalige Kenntnis durch den Entlassungsbericht des Kreiskrankenhauses R. über einen stationären Aufenthalt vom 27.05. bis zum 06.06.2008. Der Kläger sei aus dem Stand heraus über sein Fahrrad auf seine linke Seite gefallen und habe sich hierbei eine intermediäre Schenkelhalsfraktur links zugezogen.

Der Kläger schloss daraufhin mit der Beklagten am 09.10.2008 in dem Verfahren S 3 U 2416/08 einen schriftlichen Vergleich, wonach die Beklagte sich zur Feststellung verpflichtete, ob der Unfall vom 27.05.2008 und die hierdurch verursachten Beeinträchtigungen eine mittelbare Folge des Arbeitsunfalls vom 23.01.1970 darstelle und als solche zu entschädigen sei.

Der Kläger hatte gegenüber der Beklagten bereits am 04.08.2008 angegeben, dass es sich um einen Fahrradunfall gehandelt habe. Aufgrund seiner Probleme mit den Folgen des Arbeitsunfalls aus dem Jahr 1970 hätten ihm seine Ärzte geraten, regelmäßig Fahrrad zu fahren, um die Beinmuskulatur zu stärken und einer Beinsteifigkeit vorzubeugen. Er habe sich eigens deswegen ein neues Damenrad sowie ein Standfahrrad für den Keller angeschafft. Wegen der Probleme mit der Kniebeugung müsse er beim Fahrrad fahren mit dem linken Bein auf der Ferse fahren anstatt mit dem Mittelfuß; hierbei sei seine Ferse vom Pedal abgerutscht und er sei vom Fahrrad gefallen. Er sei daher der Auffassung, dass es sich um eine Folge seines versicherten Arbeitsunfalles handele.

PD Dr. K. vom Kreiskrankenhaus R. teilte in einem Zwischenbericht vom 02.04.2009 mit, dass der Kläger vor dem zweiten Unfallereignis eine so gute Kniebeweglichkeit gehabt habe, dass er problemlos Fahrrad gefahren sei. Ein Zusammenhang mit der Zuständigkeit der Beklagten sei daher abzulehnen.

Der mit der Erstellung eines Rentengutachtens beauftragte Orthopäde Dr. C. stellte am 28.04.2009 fest, dass die am 27.05.2008 erlittene Schenkelhalsfraktur keine Schädigungsfolge des früheren Unfallereignisses aus dem Jahre 1970 sei. Der Kläger habe keine Antwort auf die Frage gewusst, warum er gemäß seiner letzten Schilderung des Unfallgeschehens vom Pedal abgerutscht und zu Fall gekommen sei. Eine Fehlgängigkeit des linken Kniegelenks habe der Kläger auf Nachfrage nicht bestätigen können. Aus einem Abrutschen vom Pedal lasse sich jedoch kein Zusammenhang mit den Folgen des Unfalls vom 23.01.1970 ableiten. Bei der Tätigkeit, welche zur Schenkelhalsfraktur geführt habe, habe es sich um eine alltägliche Verrichtung gehandelt, die auch ohne Vorschaden am linken Kniegelenk zum Sturz hätte führen können. Die Verschleißerscheinungen des rechten Kniegelenks seien im Vergleich zu den Voraufnahmen aus dem Jahr 2006 nicht progredient. Die unfallbedingte MdE wurde von Dr. C. weiterhin mit 40 v. H. eingeschätzt.

Die Beklagte hörte den Gutachter ergänzend zu der Frage an, ob die Auffassung des Klägers, der zweite Unfall habe sich wegen der Folgen des ersten Unfalls ereignet, nicht doch zutreffend sei. Hierauf antwortete Dr. C. am 06.06.2009, dass der Kläger ausgehend von seinen Unfallfolgen und auch mit seiner eingeschränkten Kniebeweglichkeit durchaus auch mit dem Mittelfuß auf dem linken Pedal hätte Fahrrad fahren können. Bei dem Aufsetzen der Fersen auf die Fahrradpedale handele es sich zudem um eine in der Region weit verbreitete Modalität, die man deswegen auch den "badischen Fahrstil" nenne. Wenn dem Kläger das Fahrradfahren ärztlicherseits empfohlen worden sei, sei davon auszugehen, dass die entsprechenden Ärzte den Kläger hierzu auch in der Lage gesehen hätten. Eine wie beim Kläger vorliegende endgradig eingeschränkte Beugung führe beim Radfahren auch nicht zu einem höheren Verletzungsrisiko. Schließlich kämen Verletzungen, die auf ein Abrutschen vom Fahrradpedal zurückzuführen seien, in der Praxis allgemein häufig vor. Es handele sich daher um ein ganz allgemein mit dem Radfahren verbundenes Risiko.

Mit Bescheid vom 10.07.2009 lehnte die Beklagte daraufhin eine Erhöhung der Verletztenrente ab. Die dem Bescheid vom 24.08.2007 zugrundeliegenden Verhältnisse hätten sich nicht wesentlich geändert, wozu auf die Ausführungen von Dr. C. Bezug genommen wurde.

Der Widerspruch wurde nunmehr zusätzlich damit begründet, dass der Kläger beim Radfahren bei gebeugtem Bein einen Krampf und Schmerzen im Knie gespürt habe, was der Grund für den Sturz gewesen sei. Angesichts der bekannten Knieprobleme sei eine mittelbare Unfallfolge anzunehmen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 30.03.2010 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Die deswegen am 31.07.2008 beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhobene Klage (S 3 U 1648/10) nahm der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 13.12.2010 zurück.

Am 26.05.2011 beantragte der neue Bevollmächtigte des Klägers bei der Beklagten die Überprüfung der Ablehnungsbescheide und machte gleichzeitig eine Verschlimmerung geltend; der Unfallmechanismus sei bisher nicht zutreffend erfasst worden. Da das Fahrradfahren therapeutische Zwecke gehabt habe, könne ein Zusammenhang mit dem versicherten Arbeitsunfall aus dem Jahr 1970 nicht verneint werden. Auf den genauen Hergang des Fahrradunfalles komme es daher nicht an.

Mit Bescheid gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) vom 19.09.2011 lehnte die Beklagte eine Überprüfung des Ablehnungsbescheides vom 10.07.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.03.2010 mit der Begründung ab, es seien keine neuen Tatsachen oder Erkenntnisse erkennbar. Außerdem könnten die Veränderungen im Bereich seines rechten Kniegelenks ebenfalls nicht als Folge des Arbeitsunfalls aus dem Jahre 1970 anerkannt werden. Die Beklagte verwies erneut auf die gutachtlichen Feststellungen des Sachverständigen Dr. C ...

Denn deswegen am 28.09.2011 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 07.12.2011 zurück.

Der Kläger hat am 27.12.2011 beim SG Klage erhoben, mit der er seine Auffassung wiederholte, dass es sich bei dem 2008 erlittenen Oberschenkelhalsbruch links um eine mittelbare Folge seines Arbeitsunfalles aus dem Jahre 1970 handele. Unstreitig sei, dass er das Fahrradfahren zum Trainieren seines verunfallten und versicherten Beines, und somit zu Therapiezwecken, betrieben habe. Dies sei ihm auch ärztlich empfohlen worden. Er habe sein Fahrrad auch seinen speziellen therapeutischen Bedürfnisse angepasst. Vor der Empfehlung seiner Ärzte, dass verunfallte Bein durch Fahrrad fahren zu trainieren, habe er kein Fahrrad besessen. Nur wegen der Empfehlung des Radfahrens zu Trainingszwecken sei es zu dem Sturz mit dem Rad gekommen.

Das SG hat ein aktuelles orthopädisches Sachverständigengutachten bei Dr. v. S. eingeholt. In dem Gutachten vom 05.06.2012 wird ausgeführt, dass es das Unfallereignis vom 27.05.2008 nicht als Folge bzw. mittelbare Folge des Unfallgeschehens vom 23.01.1970 angesehen werden könne. Weder die speziell zugerichtete Kurbel noch das Pedal seien bei bis dato mit erfolgter ausreichender Übung als Ursache für das Unfallereignis anzusehen. Der Unfall hätte sich auch bei jeder anderen Gelegenheit, zum Beispiel durch Stolpern etc. ereignen können. Da ein Unfallzusammenhang mit dem Erstereignis aus dem Jahre 1970 zu verneinen sei, entfalle auch die Einschätzung einer Behandlungsdauer nach dem Unfall. Die unfallbedingte MdE für die Folgen des Unfallgeschehens vom 23.01.1970 sei gegenwärtig weiter mit 40 v. H. ausreichend eingeschätzt. Er schließe sich dem Gutachten des Dr. C. vom 28.04.2009 und dessen ergänzender Stellungnahme vom 06.07.2009 vollumfänglich an.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 13.09.2012 abgewiesen. Es sei nicht feststellbar, dass die Beklagte in den angefochtenen Entscheidungen einen unrichtigen Sachverhalt zugrunde gelegt oder das Recht unrichtig angewandt habe. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe auch nach erneuter Überprüfung des Sachverhalts fest, dass die vom Kläger erlittenen Gesundheitsstörungen vom 27.05.2008 auch mittelbar nicht zu einer Verschlimmerung der bei ihm aufgrund des von erlittenen Arbeitsunfalls vom 23.01.1970 vorliegenden Gesundheitsstörungen geführt hätten. Als direkte Unfallfolge des Unfalls vom 23.01.1970 bestünden eine unveränderte Bewegungseinschränkung des linken Kniegelenks mit chronischen Schmerzen nach zuletzt septischem Knie-TEP-Wechsel links bei ehemals vorliegender posttraumatischer Gonarthrose. Weiterhin bestünden unveränderte erhebliche Muskelminderungen des linken Ober- und Unterschenkels sowie eine Beinverkürzung links. Die unfallbedingte MdE für diese Unfallfolgen sei von der Beklagten zutreffend mit 40 v. H. beurteilt worden. Das zweite Unfallereignis vom 27.05.2008 stelle eine private Alltagsverrichtung dar, auch wenn der Kläger ein speziell von ihm behindertenrecht zugerichtetes Fahrrad mit einer veränderten Kurbelmechanik benutzt habe. Dieses Ereignis hätte auch bei einem Ausrutschen auf dem Boden oder dem Stolpern über ein Hindernis eintreten können, weswegen es sich um eine klassische Gelegenheitsursache handele (mit Hinweis auf BSGE 96, 196, 200). Darauf, ob das private Radfahren dem Kläger ärztlich empfohlen worden sei, komme es rechtlich nicht entscheidungserheblich an, so dass die angeregte Vernehmung der vom Kläger benannten Ärzte nicht veranlasst gewesen sei. Es fehle insoweit jedenfalls an einer erforderlichen förmlichen ärztlichen Verordnung des Fahrrads als Hilfsmittel nach dem SGB V oder dem SGB VII. Die Folgen des Unfallereignisses vom 27.05.2008 stünden nach alledem in keinem - auch nur mittelbaren - ursächlichen Wirkungszusammenhang mit dem vom Kläger erlittenen Gesundheitsstörungen aufgrund des Arbeitsunfalles vom 23.01.1970. Zur weiteren Begründung hat das SG auf die diesbezüglichen Feststellungen der Sachverständigen Dr. v. S. und Dr. C. Bezug genommen. Das Urteil des SG ist den Bevollmächtigten des Klägers am 20.09.2012 zugestellt worden.

Am 16.10.2012 haben die Bevollmächtigten des Klägers beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) Berufung eingelegt. Es könne keine Rolle spielen, ob das therapeutische Radfahren dem Kläger von seinen Ärzten informell empfohlen oder formal verordnet/verschrieben worden sei. Ohne diese Empfehlung wäre der Kläger nicht Fahrrad gefahren, und es wäre nicht zu dem Unfall gekommen, weswegen eine mittelbare Folge des Unfalles aus dem Jahre 1970 vorliege. In dem Sinne liege auch bereits keine "private" Fahrradfahrt vor, denn die Radfahrt sei gerade wegen des primären Unfallereignisses aus therapeutischen Zwecken erfolgt. Insoweit sei auch der vom SG verwendete Begriff der Gelegenheitsursache fehl am Platz, zumal dieser lediglich bei Vorschädigungen von Organen oder Körperteilen eine Rolle spiele.

Am 04.02.2013 wurde im LSG ein Erörterungstermin durchgeführt. Der Kläger gab zum Unfallhergang an, dass er beim Fahrradfahren hingefallen sei. Entgegen den Ausführungen im Tatbestand des angefochtenen Urteils sei er nicht aus dem Stand über das abgestellte Fahrrad gestolpert. Die abweichenden Angaben ergäben sich daraus, dass er damals durch einen griechischen Arzt behandelt worden sei, der ihn wahrscheinlich nicht richtig verstanden habe. Für den Vorfall könne er keine Zeugen benennen; ein Mann und eine Frau, die ihm damals zu Hilfe bekommen seien, seien ihm namentlich nicht bekannt. Die Beklagte sagte zu, nach dem Durchgangsarztbericht zu forschen, welcher sich nicht in der Originalakte befindet.

Im Anschluss an den Erörterungstermin hat die Beklagte mitgeteilt, dass sich nach Durchsuchung aller bei der Beklagten geführten Print- und elektronischen Akten kein Hinweis auf das Vorliegen eines D-Arzt-Berichtes gebe. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger nach seinem Sturz vom 27.05.2008 unmittelbar in Behandlung des Kreiskrankenhauses R. gelangt sei, weswegen der Arztbericht der dortigen chirurgischen Klinik vom 06.06.2008 einen sehr hohen Beweiswert habe. In diesem Bericht werde angeführt, dass der Kläger am 27.05.2008 "nachmittags vom Stand aus über sein Fahrrad auf die linke Seite gefallen" sei. Diese Aussage beruhe offensichtlich auf Angaben des Klägers bei seiner Einlieferung. Es sei unerfindlich, weswegen Ärzte eine solche relativ differenzierte Beschreibung erfinden oder missverstanden haben sollten.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 13.09.2012 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19.09.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.12.2011 auszuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 10.07.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.03.2010 zu verurteilen, die Folgen eines Fahrradsturzes vom 27.05.2008 - insbesondere Oberschenkelhalsbruch links mit nachfolgender Hüftgelenktotalendoprothese - als mittelbare Unfallfolge des Arbeitsunfalls vom 23.01.1970 anzuerkennen und davon ausgehend Verletztenrente mit einer höheren MdE als 40 v. H. für die Zeit ab Juli 2009 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beklagte bezieht sich auf die Begründung der angefochtenen Bescheide sowie das Urteil des SG und führt ergänzend aus, dass die Behauptung des Klägers, er sei in Wahrheit am 27.05.2008 vom fahrenden Rad gestürzt, unbewiesen und wohl auch unbeweisbar sei. Der Kläger könne mit dieser Behauptung daher nicht durchdringen. Der Kläger habe selbst eingeräumt, dass es bezüglich des Fahrradkaufs an einer ärztlichen Verordnung fehle. Die Ärzte hätten insoweit offenbar nur allgemeine, unspezifische Empfehlungen ausgesprochen, sowie Ärzte generell etwa einem adipösen Patienten empfehlen würden, sich häufiger zu bewegen, um die Gesundheit zu fördern. Selbst wenn der Fahrradkauf lediglich aus eigener Motivation des Klägers zur Therapie der Unfallfolgen aus dem Jahre 1970 erfolgt sei, führe der insoweit nachgewiesene Kausalzusammenhang (im Sinne der conditio sine qua non-Theorie) noch nicht zu einer Zurechenbarkeit der Unfallfolgen aus dem Jahre 2008 zu diesem Ereignis. Die Unfallversicherung folge im Interesse einer sachgerechten Lasten-Risikoverteilung dem Prinzip der Rechtssicherheit. Rechtssicherheit lasse sich aber nur erzeugen, wenn ärztliche Ratschläge die Gestalt einer klaren und unmissverständlichen Verordnung annähmen. Daran fehle im Falle des Klägers und seines behindertengerechten Fahrrades. Nach der Theorie der wesentlichen Bedingungen könne der Sturz des Klägers über das Fahrrad nicht auf den Arbeitsunfall vom 23.01.1970 zurückgeführt werden. Im Übrigen hätte der Sturz auch bei irgend einer anderen Verrichtung des täglichen Lebens eintreten und die vom Kläger erlittenen Verletzungen herbeiführen können. Offenbar sei der Oberschenkelhals erheblich vorgeschädigt gewesen, so dass das Sturz über das Fahrrad auch keine wesentliche Ursache dieser Schenkelhalsfraktur gewesen sei.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten sowie die Akten des SG und des LSG Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143 f und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung ist nicht begründet. Die angegriffenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden.

Nach § 48 Abs. 1 SGB X in der seit dem 01.01.2001 geltenden Fassung ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 1 der Vorschrift soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X in der seit dem 18.01.2001 geltenden Fassung ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Ziel des § 44 SGB X ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zu Gunsten letzterer aufzulösen (BSG SozR 3-1300 § 44 Nr. 24). Ist ein Verwaltungsakt rechtswidrig, hat der betroffene Bürger einen einklagbaren Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsaktes unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde (BSGE 51, 139, 141 = SozR 3900 § 40 Nr. 15; BSG SozR 2200 § 1268 Nr. 29). Auch wenn der Versicherte schon wiederholt Überprüfungsanträge nach § 44 SGB X gestellt hat, darf die Verwaltung einen erneuten Antrag nicht ohne Rücksicht auf die wirkliche Sach- und Rechtslage zurückweisen. Entsprechend dem Umfang des Vorbringens des Versicherten muss sie in eine erneuten Prüfung eintreten und den Antragsteller bescheiden (BSG, Urteil vom 05.09.2006 - B 2 U 24/05 R -, BSGE 97, 54 m.w.N.).

Die Voraussetzungen einer Korrektur der angegriffenen Entscheidungen der Beklagten nach diesen Vorschriften liegen jedoch nicht vor, da Anhaltspunkte für eine unrichtige Rechtsanwendung, für die Annahme eines unzutreffenden Sachverhalts oder für eine weitergehende und von der Beklagten noch nicht erfolgte Berücksichtigung von Unfallfolgen nicht vorliegen. Das SG hat demgemäß die Klage zu Recht abgewiesen.

Richtige Klageart zur Erreichung des angestrebten Ziels ist die kombinierte Anfechtungs-, Feststellungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 und 4 SGG und § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG i.V.m. § 56 SGG. Einer zusätzlichen Verpflichtungsklage, mit der die Beklagte verpflichtet werden soll, ihren früheren, dem Anspruch entgegenstehenden Bescheid selbst aufzuheben, bedarf es in einem Gerichtsverfahren zur Überprüfung eines Verwaltungsakts nach § 44 SGB X nicht. Mit der Anfechtungsklage gegen den eine Zugunstenentscheidung ablehnenden Bescheid kann zugleich die Aufhebung des früheren, dem Klageanspruch entgegenstehenden (Ausgangs-)Bescheides unmittelbar durch das Gericht verlangt werden (BSG vom 05.09.2006 - B 2 U 24/05 R -, BSGE 97, 54-63, SozR 4-2700 § 8 Nr. 18 m.w.N.). Dementsprechend ist das Begehren des Klägers auf die Erhöhung der Verletztenrente ab Juli 2009 und die Anerkennung weiterer Unfallfolgen auszulegen. Die vom Kläger darüber hinaus im Hinblick auf die geltend gemachten weiteren Verletzungsfolgen formulierte Verpflichtungsklage ist insoweit entbehrlich, weil der Kläger mit der begehrten Feststellung durch das Gericht unmittelbarer sein Ziel erreicht (vgl. die in Juris hierzu veröffentlichten Urteile des erkennenden Senats vom 10.03.2008 - L 1 U 2511/07 - und vom 18.01.2010 - L 1 U 2697/09 -).

Der Anspruch des Klägers richtet sich gemäß den §§ 212, 214 Abs. 1 und 3 SGB VII nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), sofern die zwischen den Beteiligten umstrittenen Unfallfolgen als weitere Folgen bzw. mittelbare Folgen des Unfalls vom 23.01.1970 geltend gemacht werden und deswegen eine Erhöhung der bereits seit damals anerkannten Verletztenrente beantragt wird. Sofern der Kläger sich zur Verfolgung seines Antrags auf Gewährung einer Verletztenrente unabhängig von dem ersten Unfall auf das zweite Unfallereignis als weiteren Versicherungsfall stützen will, ist der Sachverhalt nach dem SGB VII zu beurteilen, weil sich die Folgen des zweiten Unfalls vom 27.05.2008 erst nach dem Inkrafttreten des SGB VII am 01.01.1997 manifestiert haben (Art. 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz, §§ 212, 214 Abs. 1 und 3 SGB VII).

Nach § 547 RVO bzw. § 26 Abs. 1 SGB VII haben Versicherte Anspruch auf Entschädigungsleistungen u. a. in Form von Heilbehandlung (§ 556 RVO, § 27 SGB VII) oder Geldleistungen (Verletztengeld § 560 RVO, § 45 SGB VII und Rente § 580 RVO, 56 SGB VII ). Insbesondere nach § 56 Abs. 1 SGB VII erhalten Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche (§ 580 RVO: 13. Woche) nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, eine Rente. Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§§ 548, 551 RVO, § 7 Abs. 1 SGB VII). Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente; die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v.H. mindern, § 580 Abs. 3 RVO bzw. § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB VII.

Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer nach der RVO bzw. dem SGB VII versicherten Tätigkeit (§ 548 Abs. 1 RVO bzw. § 8 Abs. 1 SGB VII). Erforderlich ist, dass sowohl ein kausaler Zusammenhang zwischen der in innerem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehenden Verrichtung und dem Unfall als auch zwischen dem Unfall und dem Gesundheitsschaden besteht. Diese so genannte doppelte Kausalität wird nach herkömmlicher Dogmatik bezeichnet als die haftungsbegründende und die haftungsausfüllende Kausalität. Für beide Bereiche der Kausalität gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung sowie der Beweismaßstab der - überwiegenden - Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG Urteil vom 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R - , SozR 4-2700 § 8 Nr. 12).

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen oder geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 581 RVO, § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII), d.h. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (BSGE 1, 174, 178; BSG SozR 2200 § 581 Nr. 22). Für die Bewertung einer unfallbedingten MdE kommt es auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen oder geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet (BSG, Urteil vom 26.06.1985 - 2 RU 60/84 -, in: SozR 2200 § 581 RVO Nr. 23 m.w.N.; BSG, Urteil vom 19.12.2000 - B 2 U 49/99 R -, in: HVBG-Info 2001, 499). Die Sachkunde des ärztlichen Sachverständigen bezieht sich in erster Linie darauf, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Folgen des Unfalls beeinträchtigt sind. Schlüssige ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind zwar bedeutsame Anhaltspunkte, besitzen aber keine bindende Wirkung, auch wenn sie eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE darstellen (BSG, Beschluss vom 22.08.1989, - 2 BU 101/89 -, in: HVBG-Info 1989 S. 2268). Bei der Bewertung der MdE sind schließlich auch die in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung und dem versicherungsrechtlichen oder versicherungsmedizinischen Schrifttum ausgearbeiteten Erfahrungssätze zu beachten, um eine gerechte und gleiche Bewertung der zahlreichen Parallelfälle der täglichen Praxis zu gewährleisten.

Entsprechend den überzeugenden Ausführungen des SG in dem angegriffenen Urteil vom 13.09.2012 rechtfertigen die noch vorhandenen Folgen des Unfalls vom 23.01.1970 sowie der Unfall vom 27.05.2008 nicht die Gewährung einer höheren Verletztenrente oder die Feststellung weiterer Unfallfolgen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird nach § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden und ausführlichen Entscheidungsgründe in dem angegriffenen Urteil des SG Bezug genommen, denen der Senat sich nach eigener Prüfung ausdrücklich anschließt.

Hinsichtlich der von der Beklagten aufgrund des Unfalls vom 23.01.1970 anerkannten Unfallfolgen, welche überwiegend das linke Knie betreffen, ist keine höhere Rente als eine solche nach der derzeit anerkannten MdE um 40 v.H. gerechtfertigt. Anerkannt sind aufgrund dieses Unfalls eine "Minderung der Beinmuskulatur, Bewegungseinschränkung im Kniegelenk und oberen Sprunggelenk, röntgenologisch erkennbare Veränderungen im Kniegelenk mit Kalksalzminderung nach knöchern verheiltem Kniescheibenbruch links" (Bescheid vom 12.08.1987) sowie eine Verschlimmerung dieser Unfallfolgen durch "Beinlängenverkürzung links sowie ruhenden Infekt im Bereich des Kniegelenkes nach Einpflanzung einer Knie-Totalendoprothese" (Bescheid vom 24.08.2007). Nach den übereinstimmenden Ausführungen der Gutachter Dr. C. (Gutachten vom 10.07.2007) und Dr. v. S. (Gutachten vom 05.06.2012) sowie der BG-Ärzte Prof. Dr. H., Dr. B. und J. P. V. (fachärztlicher Bericht vom 20.02.2008) sind die direkt aus dem Unfall vom 23.01.1970 resultierenden Gesundheitseinschränkungen mit der Annahme einer MdE um 40 v.H. angemessen gewürdigt, und es hat sich insoweit keine wesentliche Änderung der Befunde mehr ergeben. Der Senat schließt sich diesen widerspruchsfreien Überzeugungen an und nimmt auf die Ausführungen dieser Ärzte Bezug. Anhaltspunkte dafür, dass aus dem Unfallgeschehen vom 23.01.1970 weitere unmittelbare Unfallfolgen resultieren, die bisher noch nicht berücksichtigt worden sind, sind weder ersichtlich noch vorgetragen. Eine Erhöhung der Verletztenrente aufgrund einer Verschlimmerung der bekannten und anerkannten Unfallfolgen war damit nach § 48 SGB X nicht vorzunehmen.

Der Unfall des Klägers vom 27.05.2008, der vorwiegend das linke Hüftgelenk sowie die linke Schulter und das rechte Kniegelenk betraf, ist demgegenüber bei der Rentenbemessung nicht zu berücksichtigen, da es sich nicht um einen nach der RVO oder dem SGB VII von der Beklagten zu entschädigenden Unfall handelte.

Der Senat kann davon ausgehen, dass dieser Unfall sich entsprechend den Angaben des Klägers in der Form ereignet hat, dass er beim Fahrradfahren mit seinem von ihm selbst angepassten Fahrrad mit der Ferse vom Pedal abgerutscht und deswegen gestürzt ist; denn auch ausgehend von diesen Angaben - Zeugen des Unfalls hat der Kläger verneint - ist die Berufung nicht begründet. Wie es zu der in dem ersten Krankenhausbericht enthaltenen Feststellung eines Sturzes aus dem Stand gekommen ist, lässt sich nicht mehr nachvollziehen, dies ist für die Entscheidung aber auch nicht von Bedeutung. Auch ein nachgewiesener Sturz des Klägers von seinem Fahrrad am 27.05.2008 führt nicht dazu, dass insofern ein nach der RVO oder dem SGB VII zu entschädigendes Ereignis vorlag.

Unstreitig war der Kläger nicht als Versicherter nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII tätig, als er am 27.05.2008 vom Fahrrad fiel. Auch lag kein Leistungsbezug zur medizinischen Rehabilitation auf Kosten einer Krankenkasse oder eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung oder der landwirtschaftlichen Alterskasse oder vorbeugender Art auf Kosten eines Unfallversicherungsträgers im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 15 SGB VII vor. Auch die Versicherungstatbestände des § 1 Abs. 2 SGB VII oder nach einem anderen Versicherungstatbestand des SGB VII lagen nicht vor.

Die Folgen des Unfalles vom 27.05.2008 lassen sich daher nur dann nach der RVO oder dem SGB VII berücksichtigen, wenn sich diese kausal auf den anerkannten Arbeitsunfall vom 23.01.1970 zurückführen lassen können. Dies ist vorliegend jedoch zu verneinen.

Zunächst liegt insoweit durch die weiteren vom Kläger angeführten Gesundheitsstörung (gemäß seinem Antrag: "insbesondere Oberschenkelhalsbruch links mit nachfolgender Hüftgelenktotalendoprothese") keine weitere anzuerkennende unmittelbare Unfallfolge vor. Das wäre anzunehmen, wenn eine bisher nicht anerkannte Gesundheitsstörung unmittelbar durch den beim Versicherungsfall ausgelösten Gesundheitserstschaden verursacht worden ist oder sich schicksalhaft hieraus ergeben hat, etwa durch schlechten Heilungsverlauf (Ricke in Kasseler Kommentar, Stand 3/07, § 11 Rn. 3). Ein Anspruch setzt insofern grundsätzlich das "objektive", d. h. aus der nachträglichen Sicht eines optimalen Beobachters gegebene Vorliegen einer Gesundheitsstörung voraus, die spezifisch durch den Gesundheitserstschaden des Arbeitsunfalls wesentlich verursacht worden ist (BSG vom 05.07.2011 - B 2 U 17/10 R -, BSGE 108, 274, SozR 4-2700 § 11 Nr. 1).

Ob ein Gesundheitsschaden (hier: Oberschenkelhalsbruch links mit nachfolgender Hüftgelenktotalendoprothese) dem Gesundheitserstschaden des Arbeitsunfalls (hier: Minderung der Beinmuskulatur, Bewegungseinschränkung im Kniegelenk und oberen Sprunggelenk, röntgenologisch erkennbare Veränderungen im Kniegelenk mit Kalksalzminderung nach knöchern verheiltem Kniescheibenbruch links) als Unfallfolge im engeren Sinn zuzurechnen ist (sog. haftungsausfüllende Kausalität), beurteilt sich nach der Zurechnungslehre der Theorie der wesentlichen Bedingung (s.o.). Die Zurechnung erfolgt danach in zwei Schritten. Erstens ist die Verursachung der weiteren Schädigung durch den Gesundheitserstschaden im naturwissenschaftlich-naturphilosophischen Sinne festzustellen. Ob die Ursache-Wirkung-Beziehung besteht, beurteilt sich nach der Bedingungstheorie (BSG a.a.O.). Vorliegend wäre der Kläger nach seinem von der Beklagten eingeräumten Vortrag am 27.05.2008 nicht Fahrrad gefahren, wenn er nicht die Unfallfolgen des 23.01.1970 hätte abmildern wollen. Kausalität im naturwissenschaftlichen Sinn auf der ersten Prüfungsstufe ist daher zu bejahen, da das erste Unfallgeschehen aus dem Jahre 1970 nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass das konkrete Unfallereignis aus dem Jahre 2008 entfiele.

Ist der Gesundheitserstschaden in diesem Sinne eine notwendige Bedingung des weiteren Gesundheitsschadens, wird dieser ihm aber nur dann zugerechnet, wenn er ihn wesentlich (ausreichend: mit-) verursacht hat. "Wesentlich" (zurechnungsbegründend) ist der Gesundheitserstschaden für den weiteren Gesundheitsschaden nach der in der Rechtsprechung des BSG gebräuchlichen Formel, wenn er eine besondere Beziehung zum Eintritt dieses Schadens hatte BSG a.a.O. m.w.N.). Nach der im Sozialrecht anzuwendenden Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (st. Rspr., vgl. stellvertretend BSG vom 12.04.2005 - B 2 U 27/04 R -, BSGE 94, 269). Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs bzw. Gesundheitsschadens abgeleitet werden (BSGE 1, 72, 76). Die Theorie der wesentlichen Bedingung beruht ebenso wie die im Zivilrecht geltende Adäquanztheorie auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie als Ausgangsbasis. Bei mehreren Ursachen ist sozialrechtlich allein relevant, ob das Unfallereignis wesentlich war. Ob eine konkurrierende (Mit-)Ursache auch wesentlich war, ist unerheblich. Ist jedoch eine Ursache oder sind mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur die erstgenannte(n) Ursache(n) "wesentlich" und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts. Die andere Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber (im zweiten Prüfungsschritt) nicht als "wesentlich" anzusehen ist und damit als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts ausscheidet, kann in bestimmten Fallgestaltungen als "Gelegenheitsursache" oder Auslöser bezeichnet werden. Für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die "Auslösung" akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte. Bei der Abwägung kann der Schwere des Unfallereignisses Bedeutung zukommen (vgl. zum Voranstehenden insgesamt BSG, Urteile vom 09.05.2006, a.a.O.).

Die Wesentlichkeit in diesem Sinne ist vorliegend zu verneinen. Bereits PD Dr. K. vom Kreiskrankenhaus R. hat in seinem Zwischenbericht vom 02.04.2009 mitgeteilt, dass der Kläger vor dem zweiten Unfallereignis eine so gute Kniebeweglichkeit gehabt habe, dass er problemlos Fahrrad gefahren sei, weswegen ein Zusammenhang mit der Zuständigkeit der Beklagten abzulehnen sei. Tatsächlich ist der Kläger am Unfalltag des 27.05.2008 bereits über 30 Jahre lang problemlos Fahrrad gefahren, so dass eine andere Betrachtung, wonach sich der Fahrradsturz schicksalhaft aus dem 38 Jahre zuvor erfolgten Erstunfall entwickelt hätte, den Versicherungsschutz erheblich und unangemessen erweitern würde. Sie wäre auch mit dem Interesse der Rechtssicherheit nur schwer vereinbar, da es sich bei dem Radfahren einerseits (auch) um eine Alltagsbeschäftigung und eine allgemein verbreitete Fortbewegungsmöglichkeit handelt, die der Kläger im Wesentlichen nach eigenem Gutdünken praktiziert hat.

Hierzu ist auch auf die Feststellung des Gutachters Dr. C. vom 28.04.2009 hinzuweisen, wonach der Kläger keine Antwort auf seine Frage gewusst habe, warum er gemäß seiner letzten Schilderung des Unfallgeschehens vom Pedal abgerutscht und zu Fall gekommen sei. Eine Fehlgängigkeit des linken Kniegelenks habe der Kläger auf Nachfrage nicht bestätigen können. Aus einem Abrutschen vom Pedal lässt sich jedoch entsprechend den Ausführungen von Dr. C. noch kein rechtlich wesentlicher Zusammenhang mit den Folgen des Unfalls vom 23.01.1970 ableiten, weil ein solches Abrutschen auch Gesunden passiert und nach den Ausführungen des Gutachters auch in der orthopädischen Praxis kein selten zu behandelndes Phänomen darstellt. Es handelt sich insofern um ein ganz allgemein mit dem Radfahren verbundenes Risiko. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist von einer alltäglichen Verrichtung auszugehen, die auch ohne die Vorschäden am linken Kniegelenk zum Sturz hätte führen können.

Schließlich ist der besondere Zurechnungszusammenhang im Sinne der Wesentlichkeitstheorie auch deswegen zu verneinen, weil entsprechend den schlüssigen Ausführungen des Dr. C. vom 06.06.2009 der Kläger ausgehend von seinen vorbestehenden Unfallfolgen auch mit seiner eingeschränkten Kniebeweglichkeit durchaus auch mit dem Mittelfuß auf dem linken Pedal hätte Fahrrad fahren können. Zutreffend weist Dr. C. darauf hin, dass dem Kläger das Fahrradfahren ärztlicherseits wohl kaum empfohlen worden wäre, wenn die entsprechenden Ärzte den Kläger hierzu nicht in der Lage gesehen hätten. Schlüssig hat Dr. C. auch dargelegt, dass eine wie beim Kläger vorliegende endgradig eingeschränkte Beugung beim Radfahren auch nicht als solche zu einem höheren Verletzungsrisiko führt. Auch der Gutachter Dr. v. S. hat am 05.06.2012 die Auffassung vertreten, dass das Unfallereignis vom 27.05.2008 nicht als Folge bzw. mittelbare Folge des Unfallgeschehens vom 23.01.1970 angesehen werden könne, weil weder die speziell zugerichtete Kurbel noch das Pedal bei bis dato erfolgreicher Fahrradpraxis als Ursache für das Unfallereignis angesehen werden könnten.

Die konkret beim Kläger aufgetretene Verletzung hätte nach den zutreffenden Ausführungen des SG und des von ihm beauftragten Dr. v. S. zudem auch bei einem Ausrutschen auf einem anderen Gegenstand als auf einem Pedal, etwa auf dem Boden oder bei dem Stolpern über ein Hindernis, eintreten können.

Nachdem der Kläger jahrzehntelang ohne aktenkundige Probleme Fahrrad gefahren ist, hält der Senat den Zurechnungszusammenhang im Sinne der Wesentlichkeitstheorie mit dem Geschehen aus dem Jahr 1970 wegen der voranstehend aufgeführten Gesichtspunkte für unterbrochen.

Auch eine mittelbare Unfallfolge ist insoweit zu verneinen. Folgen eines Versicherungsfalls sind nach § 11 Abs. 1 SGB VII auch Gesundheitsschäden oder der Tod von Versicherten infolge 1. der Durchführung einer Heilbehandlung, von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder einer Maßnahme nach § 3 der Berufskrankheiten-Verordnung, 2. der Wiederherstellung oder Erneuerung eines Hilfsmittels, 3. der zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls angeordneten Untersuchung einschließlich der dazu notwendigen Wege. Nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 und 3 SGB VII sind Folgen eines Versicherungsfalls auch solche Gesundheitsschäden oder der Tod eines Versicherten, die durch die Durchführung einer Heilbehandlung nach dem SGB VII oder durch Maßnahmen wesentlich verursacht wurden, welche zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls angeordnet wurden.

Die hier anzuwendende, inhaltlich im Wesentlichen identische Vorläufervorschrift des § 555 RVO bestimmt, dass als Folge eines Arbeitsunfalls auch ein Unfall, den der Verletzte bei der Durchführung der Heilbehandlung oder der Berufshilfe, bei der Wiederherstellung oder Erneuerung eines beschädigten Körperersatzstücks oder größeren orthopädischen Hilfsmittels, bei einer wegen des Arbeitsunfalls zur Aufklärung des Sachverhalts angeordneten Untersuchung oder auf einem dazu notwendigen Weg erleidet; dies gilt entsprechend, wenn der Verletzte auf Aufforderung des Trägers der Unfallversicherung diesen oder andere Stellen zur Vorbereitung von Maßnahmen der Heilbehandlung oder der Berufshilfe aufsucht.

Beide Vorschriften regeln, dass auch solche Gesundheitsschäden, die durch die Erfüllung der in ihr umschriebenen Tatbestände wesentlich verursacht werden, dem Versicherungsfall rechtlich zugerechnet werden. Diese mittelbaren Folgen müssen - anders als etwa nach § 8 Abs. 1 SGB VII - nicht durch den Gesundheitserstschaden verursacht worden sein (vgl. BSG vom 05.07.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274 m.w.N.). Für die Bejahung des erforderlichen ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Arbeitsunfall und der Heilbehandlung genügt es insoweit, dass der Verletzte, der einen Arbeitsunfall erlitten hat, von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein konnte, dass die Heilbehandlung, zu deren Durchführung er sich begeben hat, geeignet ist, der Beseitigung oder Besserung der durch den Arbeitsunfall verursachten Gesundheitsstörungen zu dienen. Schon zu der früheren Vorschrift des § 555 Abs. 1 RVO hat das BSG entschieden, dass es nicht erforderlich ist, dass die Heilbehandlung wegen Folgen des Arbeitsunfalls objektiv geboten war (BSG vom 15.05.2012 - B 2 U 31/11 R -, UV-Recht Aktuell 2012, 993, NZS 2012, 909 mit weiteren Nachweisen, u.a. auf BSG vom 24.06.1981 - 2 RU 87/80 - BSGE 52, 57, 58 = SozR 2200 § 555 Nr. 5).

Die Voraussetzungen nach § 555 RVO bzw. nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 und 3 SGB VII liegen jedoch bereits deswegen nicht vor, weil es sich bei der Radfahrt des Klägers am Unfalltag nicht um eine von der Beklagten veranlasste oder gewollte Tätigkeit handelte. Der Kläger hat selbst eingeräumt, dass das Radfahren von seinen behandelnden Ärzten, nicht jedoch von der Beklagten empfohlen worden sei. Diese Empfehlungen ließen sich aber auch deswegen nicht der Beklagten zurechnen, weil sich "Empfehlungen" wesentlich von "Anordnungen" unterscheiden. Außerdem handelte es sich auch nach mehr als 30 Jahren nach dem ersten Unfall nicht mehr um eine "Heilbehandlung", sondern vielmehr um einen allgemeinen Ratschlag zur gesunden Lebensführung nach dem erlittenen Erstunfall.

Ob sich eine medizinische Maßnahme als Durchführung einer Heilbehandlung (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII bzw. § 555 Abs. 1 RVO) oder als Maßnahme zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls (§ 11 Abs. 1 Nr. 3 SGB VII, § 555 Abs. 1 RVO) durch die Beklagte darstellt, beurteilt sich danach, wie der Versicherte ein der Beklagten zuzurechnendes Verhalten bei verständiger Würdigung der objektiven Gegebenheiten zum Zeitpunkt ihrer Durchführung verstehen kann und darf (vgl. BSG vom 05.07.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274, Rn. 43). Insoweit ist das Argument des Klägerbevollmächtigten, es könne keine Rolle spielen, ob das therapeutische Radfahren dem Kläger von seinen Ärzten informell empfohlen oder formal verordnet/verschrieben worden sei, wegen des Wortlauts des § 11 SGB VII, aber nicht zuletzt auch aus Gründen der Rechtssicherheit zurückzuweisen.

Auch aus Sicht des Klägers konnte insoweit nicht angenommen werden (vgl. zu diesem Maßstab BSG vom 15.05.2012 - B 2 U 31/11 R - UV-Recht Aktuell 2012, 993, NZS 2012, 909), dass bei einem Fahrradunfall, der sich rund 38 Jahre nach einem versicherten Arbeitsunfall ereignet, noch von einer Heilmaßnahme oder Reha-Maßnahme im Sinne einer nach § 11 SGB VII versicherten Tätigkeit auszugehen war. Denn nach dem Ablauf dieser langen Zeitspanne - und entsprechend langem unfallfreien Fahrradfahren - handelte es sich um eine genauso gut der allgemeinen Gesunderhaltung dienende Maßnahme.

Da schon aus den oben genannten Erwägungen heraus die Berufung zurückzuweisen war, kommt es nicht mehr darauf an, dass der genaue Unfallhergang nicht nachgewiesen ist (der Kläger könnte sich den Bruch auch bei jeder anderen Alltagsverrichtung zugezogen haben) noch die Handlungstendenz des Klägers ausreichend nachgewiesen ist, selbst wenn das äußere Geschehen sich wie vom Kläger zugetragen haben sollte (Radfahren ist nämlich auch allgemein gesund und nicht nur im Hinblick auf das Auskurieren früherer Unfallfolgen; der Kläger hätte sich auch mit seinem Rad unterwegs zu einem Einkauf befinden können).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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