L 8 SB 1384/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 18 SB 4955/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 1384/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 16.02.2012 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger ein Drittel seiner außergerichtlichen Kosten im Berufungsverfahren zu erstatten. Im übrigen sind keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger auf seinen Erstantrag vom 29.06.2009 hin ein Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 zuzuerkennen ist.

Der 1963 geborene, nicht erwerbstätige Kläger beantragte am 29.06.2009 (Blatt 6, 7 der Verwaltungsakte des Beklagten) beim Landratsamt E. (LRA) die (Erst-)Feststellung eines GdB. Hierzu verwies er unter Vorlage von ärztlichen Unterlagen (Blatt 1 bis 5 der Verwaltungsakte des Beklagten) auf eine Bandscheibendegeneration L4/5, eine Innenmeniskusläsion, einen Leistenbruch links und rechts, eine Läsion des Nervus mentalis, Hallux valgus und eine Bimax-Operation.

Unter Berücksichtigung einer Auskunft des Facharztes für Chirurgie/Unfallchirurgie Dr. O. vom 22.07.2009 (Blatt 10, 11 der Verwaltungsakte des Beklagten) und einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 07.08.2009 (Dr. Ka. , Blatt 12, 13 der Verwaltungsakte des Beklagten) stellte das LRA mit Bescheid vom 10.08.2009 (Blatt 14, 15 der Verwaltungsakte des Beklagten) einen GdB von 20 seit 29.06.2009 fest (zugrundeliegende Funktionsbeeinträchtigungen: Bandscheibenschaden, Funktionsbehinderung des linken Kniegelenks, Funktionsstörung durch beidseitige Fußfehlform; nicht mit einem GdB von mindestens 10 berücksichtigt: Leistenbruchoperation beidseits, Läsion des N. mentalis rechts).

Mit seinem Widerspruch vom 31.08.2009 (Blatt 17, 18 der Verwaltungsakte des beklagten) machte der Kläger geltend, die Beeinträchtigungen durch die Läsion des nervus mentalis in Form von irrevisiblen Beeinträchtigungen in der Aussprache und der Nahrungsaufnahme, Sensibilitätsstörungen und erheblichen Reizungen des Gemüts seien nicht berücksichtigt worden. Im Übrigen sei der GdB zu niedrig bemessen. Täglich leide er an Schmerzen der Wirbelsäule deren funktionelle Auswirkungen zwei Wirbelsäulenabschnitte beträfen.

Nach Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme von Dr. P. vom 18.09.2009 (Blatt 21 der Verwaltungsakte des Beklagten) wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 08.10.2009 (Blatt 23, 24 der Verwaltungsakte des Beklagten) zurück. Ein GdB von 50 könne beispielsweise nur angenommen werden, wenn die Gesamtauswirkung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen so erheblich sei wie etwa beim Verlust einer Hand, eines Beines im Unterschenkel oder bei einer vollständigen Versteifung großer Abschnitte der Wirbelsäule. Ein solches Ausmaß erreiche die beim Kläger vorliegende Behinderung nicht. Sensibilitätsstörungen im unteren Gesichtsbereich bedingten keinen messbaren GdB. Sprech- oder Schluckstörungen könnten nicht objektiviert werden.

Am 09.11.2009 hat der Kläger beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) Klage erhoben. Die vorhandene Sensibilitätsstörung im Gesicht, die den oralen Bereich einschließe, und die daraus folgende psychische Belastung seien nicht in die GdB-Bewertung einbezogen worden, ebenso wenig der Leistenbruch. Insgesamt sei der GdB zu niedrig (zu den vom Kläger vorgelegten ärztlichen Unterlagen vgl. Blatt 54 bis 61 und 63 der SG-Akte.

Das SG hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung der den Kläger behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen. Wegen des Inhalts und Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf Blatt 71 bis 78, 80 bis 84 und 85 bis 91 der SG-Akte Bezug genommen.

Der Facharzt für Chirurgie, Unfallchirurgie, Spezielle Unfallchirurgie und Orthopädie Dr. E. hat dem SG am 08.04.2010 mitgeteilt, er habe den Kläger wegen des Wirbelsäulenleidens, des Meniskusschadens sowie des Senk-Spreizfußes beidseits mit Hallux valgus-Fehlstellung behandelt. Er hat auf orthopädischem Fachgebiet einen Teil-GdB von 40 für angemessen gehalten. Der Arzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie Dr. Dr. K. hat dem SG mit Schreiben vom 26.04.2010 mitgeteilt, Gesundheitsstörungen seien nicht erinnerlich und nicht dokumentiert. Es seien auch keine Beschwerden/Komplikationen geäußert worden, außer einer Sensibilitätsstörung der Unterlippe seit einer Operation 1979 in Stuttgart. Der GdB auf seinem Fachgebiet werde auf 0 geschätzt. Der Facharzt für Psychiatrie und Neurologie Dr. L. hat in seiner Auskunft vom 27.04.2010 dem SG mitgeteilt, den Kläger seit November 2009 mehrfach wegen Cervicobrachialgien beidseits sowie der Nervus mentalis-Läsion rechts behandelt zu haben. Die Sensibilitätsstörung beidseits habe auch zu einer psychischen Belastung geführt. Für das Wirbelsäulenleiden hat er einen Teil-GdB von 30 bis 40 für angemessen gehalten.

Das SG hat darüber hinaus Beweis erhoben durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens bei Dr. Be ... Wegen des Inhalts und Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf Blatt 101 bis 112 der SG-Akten Bezug genommen. Der Arzt für Orthopädie, Arzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Arzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin, Arzt für Allgemeinmedizin, manuelle Therapie, u.a. Dr. Be. hat in seinem Gutachten vom 02.04.2011 festgestellt, dass der Kläger an einer pseudoradikulären Lumboischialgie links bei Bandscheibenprotrusion L4/5 links ohne signifikante funktionelle Einschränkung, einem chronisch degenerativen LWS-Syndrom mit Spondylarthrosen L4 bis S1 und klinisch inapparenter Bandscheibenprotrusion L5/S1 ohne signifikante funktionelle Einschränkung, einer Cervikobrachialgie links aktuell ohne sensomotorische segmental-radikuläre Ausfälle bei Bandscheibenvorfall C5/6 links bis intraforaminal ohne signifikante funktionelle Einschränkungen, einer rezidivierenden Gonalgie links bei Innenmensikushinterhornriss ohne Knorpelschaden, aktuell ohne signifikante funktionale Einschränkung, an Spreizfuß beidseits mit Halux valgus beidseits und Hallux rigidus links sowie einer Nervus mentalis-Läsion rechter Unterkiefer mit Gefühlsstörungen ohne motorische Ausfälle nach Kieferkorrektur-Operation mit psychologischer Belastungsreaktion (Anpassungsstörung) sowie einem Zustand nach laparoskopischer Leistenbruch-Operation beidseits 2006 leide. Für das Wirbelsäulenleiden sei ein Teil-GdB von 30 angemessen. Darüber hinaus bedinge die Sensibilitätsstörung im Gesichtsbereich mit nachfolgender Anpassungsstörung einen Teil-GdB von 10. Die weiteren Gesundheitsbeeinträchtigungen bedingten keine Teil-GdB von mindestens 10. Der Gesamt-GdB sei mit 30 anzunehmen.

Der Beklagte hat unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. W. vom 20.07.2011 hierzu vorgetragen (Blatt 115, 116 der SG-Akte), soweit sich Dr. Be. ausschließlich auf bildgebende Befunde beziehe, rechtfertige dies noch nicht die Annahme eines GdB. Laut Gutachten bestehe eine freie Beweglichkeit der Wirbelsäule in allen Abschnitten bei normaler tonisierter paravertebralert Muskulatur ohne Myogelosen. Auch das Làsegue-Zeichen sei als negativ beschrieben worden. Insgesamt könne der bisher angenommene Teil-GdB von 20 nicht erhöht werden.

Der nunmehr vertretene Kläger hat mit Schreiben vom 22.11.2011 auf das Gutachten von Dr. Be. Bezug genommen, einen Teil-GdB von 40 für das orthopädische Fachgebiet für angemessen gehalten und ausgeführt, die Läsion des Nervus mentalis sei unzureichend berücksichtigt. Sicherlich sei auch hier für die ausgeprägte Sensibilitätsstörung inklusive des oralen Bereichs ein GdB von 20 gerechtfertigt.

Das SG hat mit Urteil vom 16.02.2012 den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 10.08.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.10.2009 verurteilt, einen GdB von 30 seit 29.06.2009 festzustellen und im Übrigen die Klage abgewiesen. Der Schwerpunkt der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers liege auf orthopädischem Fachgebiet. Sowohl Dr. E. als auch Dr. Be. hätten hinsichtlich des Wirbelsäulenleidens degenerative Veränderungen an Hals- und Lendenwirbelsäule (Bandscheibendegeneration) beschrieben. Allerdings habe Dr. W. für den Beklagten zutreffend darauf verwiesen, dass Dr. Be. im Rahmen der Beweglichkeitsprüfung weder für Hals- noch für Brust- oder Lendenwirbelsäule Einschränkungen dokumentiert habe. Eine Teilfixierung habe nicht vorgelegen. Auch bei Komplexbewegungen wie z.B. beim Hinsetzen oder Aufstehen aus dem Sitzen sowie beim An- und Auskleiden sei Dr. Be. eine Einschränkung der Wirbelsäulenbeweglichkeit nicht aufgefallen. Nachdem Dr. Be. allerdings im Ergebnis seiner Untersuchungen Verschleißerscheinungen im Bereich zweier Wirbelsäulenabschnitte und zumindest ein passageres Wurzelreizsyndrom links, das beispielsweise auch in der Auskunft des Neurologen und Psychiaters Dr. L. vom 27.04.2010 sowie im Arztbrief des Nervenarztes Dr. Ko. vom 10.02.2010 erwähnt worden sei, bestätigt habe, halte die Kammer einen GdB von knapp 30 für das Wirbelsäulenleiden für angemessen. Soweit der behandelnde Orthopäde Dr. E. einen GdB von 40 auf orthopädischem Fachgebiet vorgeschlagen habe, komme dies auch mit Blick auf den darüber hinaus bestehenden Meniskusschaden des linken Kniegelenks, des Senk-Spreizfußes beidseits mit Hallux valgus-Fehlstellung nicht in Betracht. Hinsichtlich des Kniegelenks habe Dr. Be. eine nicht eingeschränkte Beweglichkeit beschrieben, es habe sich linksseitig allenfalls ein dezent positives Innenmeniskuszeichen gezeigt. Auch Dr. E. habe hinsichtlich des linken Kniegelenks weder Funktionseinschränkungen noch Instabilität beschrieben, sondern lediglich einen Druckschmerz des medialen Gelenkspaltes dokumentiert. Hierfür könne allenfalls ein Teil-GdB von 10 angesetzt werden. Entsprechendes gelte für die Hallux valgus-Fehlstellung der Füße, die weder nach dem Gutachten von Dr. Be. noch nach den Angaben von Dr. E. zu weiteren funktionalen Einschränkungen geführt hätten. Die bestehende Nervus mentalis-Läsion rechts führe zu Sensibilitätsstörungen im Gesicht mit Taubheitsgefühl im rechten Unterkiefer, an der rechten Lippeninnenseite und an der Mundschleimhaut. Für Sensibilitätsstörungen im Gesichtsbereich leichter Art sei ein Teil-GdB von 0 bis 10, für ausgeprägte, den oralen Bereich einschließende Sensibilitätsstörungen ein Teil-GdB von 20 bis 30 vorgesehen. Im Rahmen der Dokumentation des körperlichen Untersuchungsbefundes habe Dr. Be. eine Hypästhesie im Bereich des rechten Unterkiefers, von der Mitte des Unterkiefers bis zum rechten Mundwinkel reichend, beschrieben. Orientierend habe er keine motorischen Störungen der mimischen oder Kaumuskulatur feststellen können. Gegenüber Dr. Be. habe der Kläger ausdrücklich beklagt, dass er bei längerem Sprechen subjektiv das Gefühl des Herunterhängens des rechten Kiefers und der rechten Lippe habe. Kauen, essen und schlucken bereite keine Probleme. Ein Teil-GdB von 20 werde nach diesen Befunden nach der Überzeugung der Kammer damit nicht erreicht. Soweit Dr. L. eine psychische Belastung (Anpassungsstörung) wegen der unangenehmen und bis jetzt nicht korrigierbaren rechtsseitigen Sensibilitätsstörung im Gesicht sehe, führt dies nicht zu einem zu berücksichtigenden Teil-GdB von mehr als 10. Da jedoch eine Behandlung insoweit nicht durchgeführt werde, sei nicht von einem besonderen Leidensdruck auszugehen. Im Übrigen habe auch Dr. L. in seiner GdB-Einschätzung lediglich die Beschwerden, die von der Halswirbelsäule ausgingen, als nicht nur vorübergehender Art eingeordnet und vom HWS-Bereich ausgehend den GdB auf 30 bis 40 angesetzt.

Das LRA hat mit Bescheid vom 21.03.2012 (Blatt 31, 32 der Verwaltungsakte des Beklagten) einen GdB von 30 seit 29.06.2009 festgestellt.

Gegen das seinem Bevollmächtigten am 05.03.2012 zugestellte Urteil hat der Kläger am 30.03.2012 beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) Berufung eingelegt. Das SG hätte die vorhandenen Sensibilitätsstörungen in der rechten Gesichtshälfte weiter aufklären müssen. Dr. Be. habe sich als Arzt für Orthopädie gutachtlich zu Fragen auf nervenärztlich/psychiatrischem Fachgebiet geäußert, obwohl ihm hierzu die erforderliche Sachkunde fehle. Das SG habe sich nach Vorliegen seines Gutachtens gedrängt fühlen müssen, fachkompetente Untersuchungen vornehmen zu lassen, zumal er einen entsprechenden Beweisantrag gestellt habe. Die von Dr. L. vorgelegten Arztbriefe wiesen darauf hin, dass bei ihm möglicherweise ein schwerwiegenderer Befund als eine bloße "vegetative Regulationsstörung" vorliege. Auch die Annahme eines Einzel-GdB von 40 auf orthopädischem Gebiet durch Dr. E. weise auf nicht unerhebliche orthopädische Befunde hin. Dr. Be. habe jedoch für die Erstellung seines Gutachtens keine radiologischen Untersuchungen vorgenommen. Außerdem seien von ihm die vorgelegten Aufnahmen von Kernspinuntersuchungen nicht angesehen worden.

Mit Schreiben vom 12.05.2012 hat der Kläger erneut darauf hingewiesen, dass der Sachverhalt nicht ausreichend geklärt sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 16.02.2012 sowie den Bescheid des Landratsamts E. vom 10.08.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 08.10.2009 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 22.11.2013 abzuändern und den Beklagte zu verurteilen, einen GdB von mindestens 50 seit dem 29.06.2009 festzustellen.

Der Beklagte beantragt

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte ist der Berufung entgegengetreten und hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung der den Kläger behandelnden Ärztin für Neurologie Dr. N.-S. als sachverständige Zeugin. Dr. N.-S. hat in ihrer Auskunft vom 14.08.2012 (Blatt 20 der Senatsakte) angegeben, den Kläger wegen Schmerzen und Parästhesien im Bereich des Nervus mentalis rechts an Unterlippe, Kinn und im Mundhöhlenbereich, die ein Arbeiten unmöglich machten, Druck und Zukunftsängste behandelt zu haben. Sie habe organische Folgeschäden der Nervus mentalis Läsion festgestellt, ein zusätzlicher atypischer Gesichtsschmerz könne nicht ausgeschlossen werden. Es bestehe ein Anpassungssyndrom mit depressiver Verstimmung, Gedrücktheit, phasenweise dysphorischer Gereiztheit, innerer Unruhe und Anspannung, Zukunftsängsten. Die Nervus mentalis Läsion sei als Dauerzustand zu betrachten.

Der Senat hat des weiteren Beweis erhoben durch Einholung eines neurologischen und eines psychiatrischen Gutachtens. wegen des Inhalts und Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf Blatt 26 bis 29, 33 bis 35, 42 bis 55 und 70 bis 99 der Senatsakte Bezug genommen.

Der Neurologe Dr. D. hat in seinem Gutachten vom 10.10.2012 ausgeführt, beim Kläger bestehe eine Läsion des Nervus mentalis rechts mit deutlicher Sensibilitätsstörung im Lippen- und Kinnbereich rechts, eine Lumboischialgie bei Bandscheibenvorfall L4/5 Iinks und Spondylolisthesis L5/S1 ohne wesentliche neurologische Funktionsstörungen, ein Bandscheibenvorfall C5/C6 Iinks ohne neurologische Wurzelsymptomatik sowie ein depressives Syndrom mit Verdacht auf Somatisierungstendenz. Die deutliche Läsion des Nervus mentalis rechts habe sich seit dem operativen Eingriff in keiner Weise verändert. Aus dieser Läsion resultiere eine Verminderung der Berührungs- und Schmerzempfindung im Bereich der Hautregion zwischen der Unterlippe und dem Kinn auf der rechten Seite, die auch die Mundschleimhaut und den Gaumen betreffe. Die dabei entstehenden Missempfindungen seien für den Kläger störend und unangenehm, führten aber zu keiner objektiven Funktionsbeeinträchtigung des Sprechens, der Speiseaufnahme oder des Schluckens. Eine Beeinträchtigung sei allerdings nicht nur durch die Missempfindungen, sondern auch durch die Gefühlsminderung im Bereich der rechten Unterlippe gegeben. Hier sei ein Teil-GdB von 10 angemessen. Von Seiten der degenerativen Veränderungen und Bandscheibenvorfälle im Bereich der HWS und LWS liege keine wesentliche funktionelle Beeinträchtigung der Nervenwurzeln vor. Ein Wurzelreizsyndrom liege weder im HWS- noch LWS-Bereich vor. Von neurologischer Seite lasse sich jedenfalls im Hinblick auf die Wirbelsäulenbeschwerden ein höherer GdB als 30 nicht begründen.

Der Facharzt für Psychiatrie und Neurologie Dr. F. hat in seinem Gutachten vom 18.03.2013 ausgeführt, als psychiatrische Diagnosen sei eine "sonstige anhaltende affektive Störung" depressiver Art und eine "hypochondrische Störung" festzustellen. Diesen Störungen komme der Schweregrad "mittel" zu. Die depressive als auch hypochondrische Gestörtheit sei ausgeprägter, jedoch keineswegs als schwer zu bewerten. Daher sei der Teil-GdB für die psychiatrischen Störungen 30 zu schätzen. Der Gesamt-GdB werde auf 40 eingeschätzt

Der nunmehr erneut vertretene Kläger hat mit Schreiben vom 10.05.2013 ausgeführt, aus dem Teil-GdB von 30 für den orthopädischen und dem Teil-GdB von 30 für den psychiatrischen Bereich sei ein Gesamt-GdB von mindestens 50 zu bilden.

Der Beklagte hat unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. G. vom 22.05.2013 (Blatt 105, 106 der Senatsakte) vorgeschlagen, den GdB vergleichsweise seit Juni 2012 auf 40 festzustellen (Ziffer 1 des Vergleichsangebots). Unter Berücksichtigung einer seit 06/12 laufenden nervenärztlichen und medikamentös antidepressiven Behandlung und einer seit September 2012 laufenden psychotherapeutischen Behandlung könne ab 06/12 ein GdB von 30 für die seelische Störung (depressive Störung mit hypochondrischer Komponente) angenommen werden und ein Gesamt-GdB von 40 ab diesem Zeitpunkt vorgeschlagen werden. Dabei hat der Beklagte folgende Bewertung der Teil-GdB-Werte zugrunde gelegt: Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden Teil-GdB 30 Seelische Störung Teil-GdB 30 ab 06/2012 Knorpelschäden am linken Kniegelenk, Funktionsstörung durch beidseitige Fußfehlform Teil-GdB 10 Gesichtsnervenlähmung, Psychovegetative Störungen Teil-GdB 10

Der Kläger hat den Vergleichsvorschlag nicht angenommen und hat die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gewünscht.

In der mündlichen Verhandlung vom 22.11.2013 hat der Beklagte Ziffer 1 des Vergleichsvorschlags als Teilanerkenntnis erklärt; der Kläger hat das Teilanerkenntnis angenommen und den Rechtsstreit im Übrigen weitergeführt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akten des Senats sowie die beigezogenen Akten des SG und des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, aber unbegründet. Denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40, auch nicht zu einem früheren Zeitpunkt.

Der Bescheid des LRA vom 21.03.2012, mit dem dieses das Urteil des SG vom 16.02.2012 umgesetzt hatte, ist mangels eigenen Regelungsgehalts kein ersetzender Verwaltungsakt im Sinne von § 96 SGG (Engelmann in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl., § 31 Rn. 30). Der im Zuge der vorläufigen Vollstreckbarkeit des SG-Urteils (§ 154 SGG) ergangene Ausführungsbescheid wird von der Berufung des Klägers gegen den diesen Sachverhalt regelnden Gerichtsbescheid erfasst, ohne dass es hierzu einer Klage nach §§ 153 Abs. 1, 96 SGG bedürfte, über die der Senat gesondert zu befinden hätte (vgl. Leitherer in Meyer Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, § 96 Rn. 7 und 4b, jeweils m.w.N.).

Durch das angenommene Teilanerkenntnis hat sich der Rechtsstreit insoweit erledigt. Der Senat hatte daher nicht mehr darüber zu entscheiden, ob der angefochtene Gerichtsbescheid auch insoweit den Kläger in seinen Rechten verletzt als nicht ein höherer GdB bis wenigstens 40 versagt wurde.

Maßgebliche Rechtsgrundlagen für die GdB-Bewertung sind die Vorschriften des SGB IX. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung, nach Zehnergraden abgestuft, festgestellt (§ 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX). Die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und der aufgrund des § 30 Abs. 17 BVG erlassenen und am 01.01.2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10.12.2008 gelten entsprechend (§ 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX), so dass ab 01.01.2009 die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (Anlage zu § 2 VersMedV - VG -) anstelle der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 2008" (AHP) heranzuziehen sind. Anders als die AHP, die aus Gründen der Gleichbehandlung in allen Verfahren hinsichtlich der Feststellung des GdB anzuwenden waren und dadurch rechtsnormähnliche Wirkungen entfalteten, ist die VersMedV als Rechtsverordnung verbindlich für Verwaltung und Gerichte. Sie ist indes, wie jede untergesetzliche Rechtsnorm, auf inhaltliche Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen - insbesondere § 69 SGB IX - zu überprüfen (BSG 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R, RdNr 27, 30 mwN). Sowohl die AHP als auch die VersMedV (nebst Anlage) sind im Lichte der rechtlichen Vorgaben des § 69 SGB IX auszulegen und - bei Verstößen dagegen - nicht anzuwenden (BSG 30.09.2009 - SozR 4-3250 § 69 Nr. 10 RdNr. 19; BSG 23.4.2009, aaO, RdNr 30).In den VG ist ebenso wie in den AHP (BSG 01.09.1999 - B 9 V 25/98 R, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22) der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben. Dadurch wird eine für den behinderten Menschen nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht (ständige Senatsrechtsprechung).

Vorliegend bestehen Funktionsbeeinträchtigungen auf orthopädischem sowie auf neurologischem und psychiatrischem Fachgebiet.

Auf orthopädischem Fachgebiet kann für die Spreizfüße beidseits mit Hallux valgus beidseits und Hallux rigidus links ein Teil-GdB von mindestens 10 nicht angenommen werden. Dr. Be. konnte gegenüber dem SG in seinem Gutachten nicht darlegen, dass insoweit Bewegungseinschränkungen oder eine versteifte ungünstige Fuß- bzw. Zehenstellung vorlägen. Vielmehr hat er den Schweregrad der Beeinträchtigung als geringfügig bezeichnet. Auch aus den anderen Gutachten sind keine solche Einschränkungen wesentlichen Ausmaßes bekannt. Auch Dr. E. , der behandelnde Chirurg, konnte die Funktionseinschränkungen nur als leicht bezeichnen. Vor diesem Hintergrund konnte i.S. von B Nr. 18.14 VG ein Teil-GdB von 10 nicht angenommen werden.

Die rezidivierende Gonalgie links bei Innenmeniskushinterhornriss ohne Knorpelschaden, aktuell ohne signifikante funktionale Einschränkung, führt ebenfalls zu keinem Teil-GdB. Ausgehend von den von Dr. E. und Dr. Be. mitgeteilten Befunden, die beide die Störung als leicht bzw. geringfügig beurteilt und weder Funktionsbeeinträchtigungen, Bewegungsbeeinträchtigungen noch Instabilitäten dargestellt haben, kommt ein Teil-GdB von mindestens 10 nicht in Betracht (B Nr. 18.14 VG).

Die Wirbelsäule des Klägers ist durch ein pseudoradikuläre Lumboischialgie links bei Bandscheibenprotrusion L4/5 links ohne signikante funktionelle Einschränkung, ein chronisch degeneratives LWS-Syndrom mit Spondylarthrosen L4 bis S1 und klinisch inapparenter Bandscheibenprotrusion L5/S1 ohne signifikante funktionelle Einschränkung und eine Zervikobrachialgie links aktuell ohne sensomotorische segmental-radikuläre Ausfälle bei Bandscheibenvorfall C5/6 links bis intraforaminal ohne signifikante funktionelle Einschränkungen, gestört. Diese Beeinträchtigungen sind als leicht zu beurteilen. Denn anders als Dr. E. und Dr. Be. konnte der Senat gerade keine schweren bzw. mittelschweren Funktionsbeeinträchtigungen feststellen. Vielmehr finden sich bei einer insgesamt lotrechten Wirbelsäule mit flach s-förmiges Seitausbiegung im Bereich von BWS und LWS eine normale Halslordose, eine nicht fixierte vermehrte Brustkyphose und eine normale Lendenlordose. Klopfschmerz über den Dornfortsätzen und Druckschmerz über der paravertebralen Muskulatur der HWS und BWS konnte Dr. Be. nicht feststellen. Auslösen ließ sich aber eine Druckdolenz im lumbosakralen Übergang links, jedoch keine lumbale Facettensymptomatik. Die parazervikale Muskulatur ist beidseits normal tonisiert ohne Myogelosen, Muskeldruckschmerz nicht vorhanden. Die paravertebrale Muskulatur ist in Höhe der BWS und LWS beidseits normal tonisiert ohne Myogelosen, Muskeldruckschmerz findet sich nur im lumbosakralen Übergang links. Bei der Beweglichkeitsprüfung im Bereich der HWS, BWS und LWS konnte der Gutachter keine Einschränkungen feststellen. So ergibt sich aus seinen Messungen (Blatt 112 der SG-Akte): Schober: 10/14 cm Ott: 30/32 cm FBA: 3 cm Rotation der Rumpfwirbelsäule, rechts/links: 50o/0/50o Seitneigung der Rumpfwirbelsäule, rechts/links: 30/0/30 Extension/Flexion der Halswirbelsäule: 60/0/40 Rotation der Halswirbelsäule: 80/0/80 Seitneigung der Halswirbelsäule: 30/0/30 Kinn-Jugulum-Abstand: 3/18 cm Eine Teilfixierung liegt nicht vor. Die manualdiagnostische Untersuchung durch Dr. Be. bot keine Blockierungsphänomene. Auch Dr. E. hatte gegenüber dem SG keine Klopf- oder Druckschmerzhaftigkeit der HWS, keinen Druckschmerz paravertebral beidseits angegeben, dafür aber eine freie Beweglichkeit in allen Bewegungsebenen ohne wesentlichen Bewegungsschmerz (Blatt 73 der SG-Akte). Auch Dr. D. konnte aus neurologischer Sicht eine wesentliche Beeinträchtigung der Wirbelsäule nicht nachweisen, auch konnte er ein Wurzelreizsyndrom nicht feststellen (Blatt 53 der Senatsakte = Seite 12 seines Gutachtens). Nach der sachverständigen Zeugenaussage von Dr. E. vom 08.04.2007 stellte sich der Kläger ab 2008 wegen Rückenschmerzen an der LWS nur am 13.11.2008 bei vor. Am 16.12.2008 und 15.01.2009 fanden nur Befundbesprechungen bzw. ein Beratungsgespräch über Umschulung wegen Rückenprobleme statt. Eine erneute Untersuchung, jetzt der HWS, erfolgte am 08.12.2009. Am 22.02.2010 fand wiederum nur eine Befundbesprechung statt. Damit sind weder häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkungen noch häufig rezidivierende Wirbelsäulensyndrom nachgewiesen und es können die Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule auch unter Berücksichtigung der vom Kläger angegebenen Schmerzen nur als leichtgradig allenfalls zeitweise als mittelgradig, nicht aber als schwer angesehen werden. Soweit der Beklagte und das SG insoweit einen Teil-GdB von 30 angenommen haben, ist dieser deshalb zu hoch angesetzt. Denn der Senat konnte gerade keine ständigen mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome), schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) oder mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten feststellen. Daher ist der Teil-GdB insoweit auf allenfalls 20 unter Berücksichtigung eines offenbar schwankenden Verlaufs anzusetzen. Die Befunde aus den Jahren ab 2008 ergeben, dass der Schwerpunkt der im zeitlichen Verlauf einzuschätzenden durchschnittlichen Funktionsbeeinträchtigung seitens der Wirbelsäule eher zu den leichtgradigen Auswirkungen tendiert.

Soweit der Kläger geltend macht, Dr. Be. habe bildgebende Diagnostik unterlassen, so begründet dies nicht die Pflicht des Senats zu einer weitergehenden Beweisaufnahme. Denn nach B Nr. 18.1 VG rechtfertigen mit bildgebenden Verfahren festgestellte Veränderungen noch nicht die Annahme eines GdB. Ebenso kann die Tatsache, dass eine Operation an einer Gliedmaße oder an der Wirbelsäule durchgeführt wurde, für sich allein nicht die Annahme eines GdB begründen. Maßgeblich sind vielmehr die tatsächlichen Funktionseinschränkungen. Diese konnten sowohl Dr. Be. als auch Dr. D. für den Senat schlüssig, widerspruchsfrei und zur Überzeugung führend darstellen.

Auf neurologischem Fachgebiet besteht eine deutliche Nervus mentalis-Läsion im rechten Unterkiefer mit Gefühlsstörungen ohne motorische Ausfälle nach Kieferkorrektur-Operationen. Die Folge ist eine Verminderung der Berührungs- und Schmerzempfindung im Bereich der Hautregion zwischen der Unterlippe und dem Kinn auf der rechten Seite, die auch die Mundschleimhaut und den Gaumen und die Unterlippe rechts betrifft. Die dabei entstehenden Missempfindungen sind störend und unangenehm, führen aber zu keiner objektiven Funktionsbeeinträchtigung beim Sprechen, bei der Speiseaufnahme oder beim Schlucken. Insoweit konnte der Kläger - entgegen seinen Behauptungen im Verfahren - dem Sachverständigen Dr. D. nicht schildern, dass es zu solchen objektiven Beeinträchtigungen komme; er hat insoweit lediglich darstellen können, er habe subjektiv das Gefühl einer Störung wegen der Gefühlsminderung im Bereich der rechten Unterlippe. Ebenso hatte Dr. Be. bei seiner orientierenden Untersuchung des Klägers keine motorischen Störungen der mimischen oder Kaumuskulatur feststellen können; bei dieser Feststellung handelt es sich um die Darstellung sichtbarer Umstände, die auch fachfremd möglich ist. Zwar ist von der Störung auch der orale Bereich betroffen, doch handelt es sich nicht um eine ausgeprägte, vielmehr um eine leichte Störung, weshalb hier ein Teil-GdB von 10, wie von Dr. D. und Dr. Be. überzeugend dargelegt, anzunehmen ist (B Nr. 2.2 VG).

Im Anschluss an das Gutachten von Dr. F. ist der Senat davon überzeugt, dass beim Kläger auch eine psychiatrische Störung in Form einer "sonstigen anhaltenden affektiven Störung" depressiver Art und einer "hypochondrischen Störung". Diese Störungen sind als mittelgradig zu qualifizieren. Ein sozialer Rückzug liegt nicht vor; der Kläger hat Kontakt zu seiner Mutter und betreibt eine Reihe von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren, woraus der Umgang mit Menschen und der Kontakt zur Umwelt sichtbar wird. Störungen der Geistesaktivitäten, des Affekts und der Aufmerksamkeit bzw. Konzentration konnten weder Dr. F. noch Dr. D. darstellen. Daher kann die Störung als stärker behindernde Störung i.S.d. B Nr. 3.7 VG angesehen werden. Eine solchermaßen ausgeprägte Störung konnte der Senat - auch wenn der Gutachter diese schon auf den Antragstag zurückdatiert - aber erst ab 12.06.2012 annehmen. Erst ab diesem Zeitpunkt befand sich der Kläger bei Dr. N.-S. in nicht nur neurologischer Behandlung (vgl. dazu Blatt 20 der Senatsakte). Zuvor war der Kläger zwar beim Neurologen und Psychiater Dr. L. in Behandlung, jedoch ausschließlich wegen der neurologischen Erkrankung. Eine psychiatrische, psychologische bzw. medikamentöse Behandlung konnte - trotz Feststellung einer psychischen Belastung i.S. einer Anpassungsstörung (Blatt 85 der SG-Akte) bis zum 12.06.2012 nicht festgestellt werden. Gleiches ergibt sich auch aus den Berichten des Facharzt für Neurologie Dr. Schw. bzw. Dr. Ko ...

Aufgrund der fehlenden ärztlichen Behandlung kann jedenfalls - im maßgeblichen Beurteilungszeitraum bis 11.06.2012 - nicht davon ausgegangen werden, dass das diagnostizierte seelische Leiden des Klägers über eine leichtere psychische Störung hinausgegangen ist und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze darstellte (dazu vgl. Senatsurteil vom 17.12.2010 – L 8 SB 1549/10, juris RdNr. 31). Ein entsprechender Leidensdruck des Klägers, der bei einer stärker behindernden psychischen Störung zu erwarten wäre, findet sich nach den Ausführungen von Dr. F. nicht. Dieser ist erst durch die Aufnahme der Behandlung bei Dr. N.-S. im Juni 2012 ersichtlich geworden; dass nicht vom Kläger zu beeinflussende Faktoren, wie die Nichtgenehmigung der Behandlung seitens der Krankenkasse oder das Nichabgelaufensein der regelmäßig bestehenden Wartezeit, eine psychiatrische, psychologische Behandlung verhindert hätten, war nicht ersichtlich. Daher kann der Teil-GdB erst ab 12.06.2012 auf 30, zuvor auf allenfalls 20, festgesetzt werden.

Der Zustand nach laparoskopischer Leistenbruch-Operation beidseits 2006 bedingt keinen Teil-GdB. Keiner der befragten Ärzte konnte insoweit eine Funktionseinschränkung angeben.

Weitere Funktionsbeeinträchtigungen, die einen Teil-GdB von mindestens 10 bedingen, liegen beim Kläger nicht vor.

Die Bemessung des Gesamt-GdB erfolgt nach § 69 Abs. 3 SGB IX. Danach ist zu beachten, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB zu bilden, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt-GdB ungeeignet. In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Ein Einzel-GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. A Nr. 3 VG). Der Gesamt-GdB ist unter Beachtung der AHP bzw. der VersMedV einschließlich der VG in freier richterlicher Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten zu bilden (BSGE 62, 209, 213; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 und SozR 3-3879 § 4 Nr. 5 zu den AHP). Es ist also eine Prüfung vorzunehmen, wie die einzelnen Behinderungen sich zueinander verhalten und ob die Behinderungen in ihrer Gesamtheit ein Ausmaß erreichen, das die Schwerbehinderung bedingt.

Das ist beim Kläger im gesamten Zeitraum nicht der Fall. Bei Zugrundelegung von Teil-GdB-Werten von 20 bzw. 30 (ab 12.06.2012) für das psychiatrische Leiden, von 20 für die Wirbelsäulenbeeinträchtigung und jeweils 10 für die neurologischen und sonstigen orthopädischen Funktionseinschränkungen und unter Berücksichtigung der jeweiligen Funktionsbehinderungen konnte der Senat den Gesamt-GdB auf insgesamt maximal 30 bis 11.06.2012 und danach entsprechend dem Anerkenntnis des Beklagten ab Juni 2012 auf 40 annehmen. Da der vom Senat angenommene GdB von 30 bis 11.06.2013 den vom SG angenommene Gesamt-GdB von 30 bestätigt hat, verbleibt es bis zum Juni 2012 bei dem vom SG ausgeurteilten Gesamt-GdB. Für die Zeit seither ist zwar der Teil-GdB für die psychischen Störungen auf 30 zu erhöhen, doch begründet dies keinen Erfolg der über das Teilanerkenntnis hinaus fortgeführten Berufung. Ein höherer GdB als 40 ist nicht begründet.

Damit hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung eines früheren oder höheren Gesamt-GdB als 40 seit Antragstellung am 29.06.2009. Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG. Dabei hat der Senat berücksichtigt, dass der Beklagte zwar unmittelbar der mit Vorlage des Gutachtens von Dr. F. eingetretenen wesentlichen Änderung mit seinem Vergleichsangebot Rechnung getragen hatte, ein streiterledigendes (Teil-)Anerkenntnis aber nicht unverzüglich jedenfalls nach Ablehnung des Vergleichsangebots durch den Kläger abgegeben hat. Das Teilanerkenntnis des Beklagten in der mündlichen Verhandlung mehrere Monate nach dem Beweisergebnis, das Anlass für das Vergleichsangebot und das Anerkenntnis gewesen ist, ist nicht mehr ohne schuldhaftes Zögern erfolgt. (Entschuldigende) Gründe für das Zuwarten des Beklagten bis zur mündlichen Verhandlung sind nicht ersichtlich und auch nicht vorgetragen.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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