L 4 R 3833/13

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 4 R 6739/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 3833/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 15. Juli 2013 aufgehoben und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten beider Rechtszüge sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Im Berufungsverfahren wendet sich die Beklagte gegen ihre Verurteilung, der Klägerin vom 1. Dezember 2010 bis zum 30. November 2014 Rente wegen voller Erwerbsminderung zahlen zu müssen.

Die am 1988 geborene Klägerin beendete ihre 2009 begonnene Lehre zur Arzthelferin im Oktober 2010 ohne Abschluss. Nach ihren Angaben war sie danach bis Februar 2011 in einem medizinischen Labor (wöchentliche Arbeitszeit 38,5 Stunden) sowie danach bis Oktober 2013 in Teilzeit (wöchentliche Arbeitszeit von Oktober 2011 bis Februar 2012 30 Stunden, ansonsten überwiegend 20 Stunden) als Helferin in einem Logistikunternehmen, als Callcenter-Agentin, als Kassiererin und in der Akquise bei einem Unternehmen des Tankanlagenbaus versicherungspflichtig beschäftigt.

Die Klägerin beantragte am 29. Dezember 2010 Rente wegen Erwerbsminderung und nach Aufforderung durch ihre Krankenkasse wegen ab 23. April 2010 bestehender Arbeitsunfähigkeit Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Arzt/Ärztin E., Medizinischer Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK), hielt im Gutachten vom 13. Dezember 2010 (Diagnosen: Erhebliche Beeinträchtigung durch Schwindel und Müdigkeit [Fatigue] bei Multipler Sklerose, Zustand nach Unfällen und Stürzen im Jahr 2010 sowie rezidivierende depressive Episode) die Erwerbsfähigkeit der Klägerin für erheblich gefährdet und empfahl, eine medizinische Rehabilitation durchzuführen. Ärztin für Nervenheilkunde und Sozialmedizin B. kam in ihrer Stellungnahme nach Aktenlage vom 17. Januar 2011 zur Auffassung, eine Leistungsminderung lasse sich aus beigezogenen Befundberichten (u.a. Berichte des Prof. Dr. R., Oberarzt der Neurologie des Universitätsklinikums F., vom 13. Juli 2010 und des Prof. Dr. W., Ärztlicher Direktor dieser Klinik, vom 4. August 2010 mit den Diagnosen präsynkopale Episoden unklarer Ideologie und Verdacht auf Enzephalomyelitis disseminata mit schubförmigem Verlauf) und dem genannten Gutachten des MDK vom 13. Dezember 2010 nicht entnehmen. Die Indikation für ein Heilverfahren liege vor. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 19. Januar 2011 den Rentenantrag ab.

Die Klägerin erhob Widerspruch. Ab 3. März 2011 befand sie sich in einer von der Beklagten bewilligten stationären Maßnahme der medizinischen Rehabilitation, die sie am 16. März 2011 abbrach. Im Entlassungsbericht über diese Maßnahme vom 24. März 2011 nannte Arzt St. als Diagnosen eine Multiple Sklerose bei Verdacht auf einen Schub am 13. März 2011 mit Parasymptomatik, eine akzentuierte Persönlichkeit mit emotionaler Instabilität, ein chronisches Schmerzsyndrom unklarer Genese, differentialdiagnostisch somatoform sowie einen Cannabisabusus. Die Klägerin sei aufgrund ihres psychophysischen Befindens bei Abbruch der Maßnahme arbeitsunfähig gewesen. Sie benötige dringlich eine intensive (ambulante oder stationäre) psychotherapeutische Behandlung. Aufgrund der psychischen Labilität und der Neigung zum Substanzmissbrauch sei sie für eine Tätigkeit im medizinischen Bereich, wie z.B. Arzthelferin, ungeeignet. Sie könne leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts ohne erhöhte Stressbelastung, ohne Umgang mit Drogen und Medikamenten sowie mit Einhaltung regulärer Arbeitspausen sechs Stunden und mehr verrichten. Der Beklagten ging der Arztbrief der Neurologin Dr. H. vom 13. Mai 2011 zu. Im Verlauf sei jetzt die Diagnose einer strumpfförmig progredienten Enzephalomyelitis disseminata gesichert. Die Bewertung nach der Expanded Disability Status Scale (EDSS) gab sie mit 1,0 an. Ärztin B. nannte in ihrem von der Beklagten veranlassten Gutachten vom 3. November 2011 als Diagnosen eine Multiple Sklerose, einen Cannabisabusus sowie eine akzentuierte Persönlichkeit mit emotionaler Instabilität. Sie führte aus, es fänden sich keine psychischen Auffälligkeiten von Krankheitswert. Es bestehe ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr für körperlich leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten ohne Nachtschicht und ohne übermäßigen Zeitdruck. Die Anfang Oktober 2011 aufgenommene Tätigkeit mit 30 Wochenstunden, bei der sie überwiegend sitze und telefoniere, sei leidensgerecht. Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch der Klägerin zurück (Widerspruchsbescheid vom 28. November 2011). Ein Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung bestehe nicht. Es fänden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch weniger als sechs Stunden oder weniger als drei Stunden täglich arbeiten könne. Das sozialmedizinische Ergebnis sei schlüssig und nachvollziehbar.

Die Klägerin erhob am 20. Dezember 2011 Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG). Wegen der Erkrankung an Multipler Sklerose könne sie keine Erwerbstätigkeit mehr ausführen. Sie reichte den Bericht des Prof. Dr. R. vom 13. Juli 2010 ein.

Die Beklagte trat der Klage unter Verweis auf den Widerspruchsbescheid entgegen.

Das SG ernannte Arzt für Neurologie Dr. O. zum Sachverständigen. Die Klägerin gab ihm gegenüber u.a. an, sie habe die Arbeitszeit aufgrund des chronischen Erschöpfungssyndroms auf 20 Stunden wöchentlich reduzieren müssen sowie mit dem von ihr zu versorgenden Pferd verbringe sie ca. drei Stunden täglich. Er beschrieb in seinem Gutachten vom 31. August 2012 das Gangbild sowie die komplizierten Stand- und Gangprüfungen als unauffällig und diagnostizierte auf neurologischem Gebiet eine Multiple Sklerose mit schubförmig-progredientem Verlauf, ein chronisches Fatigue-Syndrom, eine kognitive Leistungsminderung und rezidivierende Cephalgien sowie auf nicht-neurologischem Gebiet eine rezidivierende depressive Störung, derzeit leichte Episode, eine akzentuierte Persönlichkeit mit emotionaler Instabilität, einen Cannabisabusus, rezidivierende vegetative Beschwerden mit Präsynkopen und ein chronisches multilokuläres Schmerzsyndrom mit Polyarthralgien. Auf neurologischem Gebiet bestünden langfristige, möglicherweise dauerhafte Einschränkungen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit mit deutlicher Einschränkung im Berufs- und Privatleben. Diesbezüglich bestehe eine Konsistenz von Anamnese, Aktenlage und Untersuchungsbefunden. Die hieraus resultierenden Beschwerden würden auch durch die psychischen Erkrankungen, den Cannabiskonsum und das chronische Schmerzsyndrom zusätzlich verstärkt. Hinsichtlich der psychiatrischen Erkrankungen empfehle sich eine entsprechende Begutachtung. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seien leichte körperliche Tätigkeiten unter Vermeidung von Heben und Tragen von Lasten von mehr als fünf kg, längeren Wegstrecken von mehr als 200 m, erhöhter Anforderungen an die Gangsicherheit, Absturzgefahr, häufigem Bücken, Arbeiten mit dauerndem oder überwiegendem Stehen, auf Leitern und Gerüsten und an laufenden Maschinen, in Kälte, Nässe, im Freien, unter Wärmeeinfluss und unter Einwirkung von Staub, Gasen und Dämpfen, mit starker Beanspruchung des Gehörs oder des Sehvermögens, ferner Akkord-, Fließband-, Schicht- und Nachtarbeit sowie schwierige Tätigkeiten geistiger Art, besonderer nervlicher Beanspruchung und mit Eigen- oder Fremdgefährdung möglich. Die Klägerin könne unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen Tätigkeiten von drei Stunden bis weniger als sechs Stunden auszuüben. Aufgrund des chronischen Fatigue-Syndroms und der kognitiven Leistungsminderung führe eine Arbeitszeit von länger als sechs Stunden zu einer erheblichen psycho-physischen Erschöpfung mit Einschränkungen von Konzentration, Merkfähigkeit und motorischer Belastbarkeit, woraus mittelfristig eine Verschlechterung der Erkrankung resultiere und das Risiko für erneute Schübe der Multiplen Sklerose anstiege.

Das SG ernannte weiter Prof. Dr. Eb., Leiter der Sektion forensische Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychosomatik des Universitätsklinikums F. zum gerichtlichen Sachverständigen. Weil die Klägerin zu vier Untersuchungsterminen nicht erschienen war, reichte Prof. Dr. Eb. den Gutachtensauftrag zurück und gab an, im psychiatrischen Gutachten wäre nach Durchsicht der Akten die Einschätzung des neurologischen Gutachtens bestätigt worden (Schreiben vom 16. November 2012). Nachdem die Klägerin sich zur Untersuchung bereit erklärt und die Beklagte unter Verweis auf die von ihr vorgelegte Stellungnahme des Arztes für Neurologie Dr. Wa. vom 9. Januar 2013, der auch auf eine Diskrepanz zwischen den vergleichsweise geringen neurologischen Beeinträchtigungen und den von der Klägerin geltend gemachten psychischen, insbesondere neurokognitiven Einbußen hinwies, eine Begutachtung beantragt hatte, ernannte das SG Prof. Dr. Eb. erneut zum gerichtlichen Sachverständigen. Er kam nach Untersuchung der Klägerin, die u.a. angab, wegen der Multiplen Sklerose nur noch zweimal wöchentlich eine Stunde reiten zu können, zum Ergebnis, seitens des psychiatrischen Gebiets lasse sich aktuell keine psychische Störung feststellen. Es bestünden die Symptome des Fatigue-Syndroms und auch der kognitiven Beeinträchtigungen, wie sie im neurologischen Gutachten bereits festgestellt und hinsichtlich der Müdigkeit auch bei der aktuellen Begutachtung erneut bestätigt worden seien. Seitens des psychiatrischem Gebiets könne die Klägerin regelmäßig einer Erwerbstätigkeit nachgehen und es ergäben sich keine qualitativen Leistungseinschränkungen. Es bleibe damit bei der durch Dr. O. festgestellten eingeschränkten Belastbarkeit auf die drei bis unter sechs Stunden durch das Fatigue-Syndrom.

Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Ne. vertrat in seiner von der Beklagten vorgelegten sozialmedizinischen Stellungnahme vom 28. Februar 2013 die Auffassung, es müsse von einem sechsstündigen Leistungsvermögen ausgegangen werden.

Auf Veranlassung des SG erstattete schließlich Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. Sc.-Bu. sein Gutachten vom 23. Mai 2013. Er diagnostizierte eine Multiple Sklerose, einen Verdacht auf eine Somatisierungsstörung bei akzentuierter Persönlichkeit und Zustand nach Traumatisierung sowie einen Verdacht auf früheren Cannabisabusus. Körperliche geistige Funktionen seien jetzt allenfalls marginal beeinträchtigt. Die Klägerin könne leichte bis mittelschwere Frauenarbeit ohne besondere Anforderungen an das Gleichgewichtsvermögen sowie ohne Schicht- oder Nachtdienst sechs Stunden und mehr verrichten. Die Multiple Sklerose-Krankheit habe bei der Klägerin einen schubförmigen und bisher sehr gutartigen Verlauf genommen. In objektiver Hinsicht ergebe sich wie schon bei der Begutachtung durch Dr. O. ein unauffälliger neurologischer Status. Ungewöhnlich wäre das Auftreten einer kognitiven und Fatigue-Symptomatik in der Ausprägung so früh nach dem Beginn der Multiplen Sklerose. Störungen des Zeitgitters seien jetzt nicht feststellbar, so dass nicht von einer dauerhaften kognitiven Minderung ausgegangen werden könne. Auch ergebe sich kein Hinweis für eine übermäßige Übermüdung.

Mit Urteil vom 15. Juli 2013 hob das SG den Bescheid der Beklagten vom 9. Januar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. November 2011 auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 1. Dezember 2010 bis 30. November 2014 zu gewähren. Die Klägerin sei seit dem Jahr 2009 aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen nicht in der Lage, körperlich leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts bei bestimmten qualitativen Einschränkungen sechs Stunden täglich zu verrichten. Die Klägerin könne lediglich drei bis weniger als sechs Stunden arbeitstäglich einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Diese Einschätzung werde auf die Gutachten des Dr. O. und des Prof. Dr. Eb. gestützt. Die Diagnosen dieser Sachverständigen erschienen plausibel, da sie im Wesentlichen auch mit den Feststellungen in den übrigen zu den Akten gelangten medizinischen Stellungnahmen übereinstimmten. Auch ihre Einschätzungen zum Leistungsvermögen der Klägerin überzeugten. Nicht gefolgt werde der Einschätzung des Dr. Sc.-Bu ... Dessen Annahme und Einschätzungen stünden im Gegensatz zu den Gutachten der Sachverständigen Dr. O. und Prof. Dr. Eb., die beide überzeugend von der Fatigue-Symptomatik bei der Klägerin berichtet hätten. Weil von einer Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarkt auszugehen sei, sei von einer arbeitsmarktbedingten vollen Erwerbsminderung auszugehen. Der Leistungsfall sei im Jahr 2009 eingetreten mit in der Folge weiteren Verschlechterungen des Leistungsvermögens der Klägerin. Eine Befristung der Rente über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren erscheine sachgerecht, weil insbesondere hinsichtlich des Fatigue-Syndroms noch nicht alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft seien.

Gegen das ihr am 19. August 2013 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 2. September 2013 Berufung eingelegt. Die Gutachten des Dr. O. und des Prof. Dr. Eb. überzeugten nicht. Der Sozialanamnese des Gutachtens des Dr. O. sei zu entnehmen, dass die Klägerin als Telefonistin in einem Callcenter 20 Wochenstunden gearbeitet habe und ferner ca. drei Stunden täglich mit dem ihr gehörenden Pferd verbringe. Das Gutachten des Prof. Dr. Eb. sei nicht sonderlich umfangreich und seine Einschätzung der quantitativen Leistungsminderung sei nicht nachvollziehbar, da aktuell keine Symptome bei der Klägerin bestünden. Im Übrigen habe das SG es versäumt, den Leistungsfall genau zu bezeichnen.

Die Beklagte hat den bei ihr eingegangenen Antrag der Klägerin vom 17. Juni 2013 auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben an die Agentur für Arbeit Freiburg weitergeleitet (Schreiben vom 24. Juni 2013). Diesem Antrag beigefügt gewesen ist der Bericht der Dr. H. vom 13. Juni 2013 sowie deren Arztbrief vom 14. Juni 2013. In diesem Arztbrief hat Dr. H. eine leichte Gangstörung bei längerem Gehen, ansonsten keine auffälligen neurologischen und psychiatrischen Befunde beschrieben, die Bewertung nach der EDSS mit 2,5 angegeben sowie ausgeführt, bei klinischer Progredienz und ausgeprägtem Fatigue-Syndrom sowie einem erneuten Schubereignis im Februar (2013) sei eine Wiederaufnahme der immun-modulatorischen Therapie mit Fingolimod begonnen worden.

Die Beklagte hat ferner die weiteren sozialmedizinischen Stellungnahmen des Dr. Ne. vom 28. August 2013 und 22. Januar 2014 vorgelegt. Bei unauffälligem neurologischem und psychopathologischem Befund könne nur auf ein erhaltenes quantitatives Leistungsvermögen für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts geschlossen werden. Der Befundbericht der Dr. H. vom 14. Juni 2013 belege mit einer minimalen Behinderung (EDSS 2,5) keine Minderung des quantitativen Leistungsvermögens.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 15. Juli 2013 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil des SG für zutreffend.

Der Senat hat Ärztin für Allgemeinmedizin A.-N. als sachverständige Zeugin gehört. Sie hat für die Zeit ab 9. Dezember 2010 einen Diagnose- und Befundbogen sowie ihr zugegangene Arztbriefe, u.a. der Dr. H., übersandt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Senatsakte, die Akte des SG sowie die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten (Rentenakten und Rehabilitationsakten) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) entschieden hat, ist zulässig. Die Beklagte hat die Berufung form- und fristgerecht eingelegt. Die Berufung bedurfte auch nicht der Zulassung nach § 144 Abs. 1 SGG. Denn die Beklagte wendet sich gegen die Verurteilung zur Zahlung einer Rente wegen Erwerbsminderung für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Im Berufungsverfahren ist allein zu entscheiden, ob der Klägerin Rente wegen Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Dezember 2010 bis 30. November 2014 zusteht. Berufung hat allein die Beklagte gegen die insoweit erfolgte Verurteilung eingelegt. Soweit die Klägerin eine Rente wegen Erwerbsminderung unbefristet begehrte - der von der Klägerin beim SG gestellte Antrag war nicht zeitlich eingeschränkt -, hat das SG die Klage abgewiesen, ohne dies allerdings im Tenor des Urteils ausgesprochen zu haben. Da die Klägerin keine Berufung eingelegt hat, ist das Urteil des SG insoweit rechtskräftig.

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das SG hat zu Unrecht den Bescheid der Beklagten vom 9. Januar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. November 2011 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 1. Dezember 2010 bis 30. November 2014 zu zahlen. Dieser Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Für den genannten Zeitraum, über den im Berufungsverfahren allein zu entscheiden ist, hat die Klägerin keinen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung.

Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze (insoweit mit Wirkung zum 1. Januar 2008 geändert durch Artikel 1 Nr. 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20. April 2007, BGBl. I, S. 554), wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

1. Bei der Klägerin steht im Vordergrund eine Enzephalomyelitis disseminata (Multiple Sklerose) mit schubförmigem Verlauf. Dies ergibt sich aus den Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen, dem Gutachten der Ärztin B. sowie aus den Befundberichten und Arztbriefen behandelnder Ärzte, insbesondere den Arztbriefen der Dr. H., zuletzt vom 14. Juni 2013. Diese Erkrankung hat jedenfalls derzeit noch keine erheblichen Leistungseinschränkungen zur Folge. Den neurologischen Befund beschrieben die Untersucher meist als unauffällig, auch die gerichtlichen Sachverständigen Dr. O. und Dr. Sc.-Bu ... Dr. O. fand lediglich eine verringerte Kraft bei der Hüftflexion beidseits, ansonsten unauffällige Befunde, insbesondere auch bei den komplizierten Stand- und Gangprüfungen, und ein regelrechtes Gangbild. Im neurologischen Befund nannte Dr. H. einerseits in ihren Arztbriefen vom 13. Mai 2011 (Untersuchung 8. April 2011), vom 29. Juli 2011 (Untersuchung am 28. Juli 2011), 27. Februar 2012 (Untersuchung 9. Februar 2012) und 14. Juni 2013 (Untersuchungen am 2. April, 24. Mai und 13. Juni 2013) eine Gangstörung, zuletzt nur leicht bei längerem Gehen, andererseits aber in ihren Arztbriefen vom 18. November 2011 (Untersuchung am 10. Oktober 2011), 27. Dezember 2012 (Untersuchung am 18. Dezember 2012) und 28. Januar 2013 (Untersuchung 28. Januar "2012", richtig wohl 2013) ein unauffälliges Gangbild. Eine Verschlechterung des Zustands der Klägerin trat beim Auftreten von Schüben auf, was allerdings jeweils durch medikamentöse Therapie behandelbar war. Dass bislang keine erheblichen Einschränkungen bestehen, ergibt sich auch aus den von Dr. H. in ihren Arztbriefen vom 13. Mai 2011 und 14. Juni 2013 mitgeteilten Bewertungen nach der EDSS von 1,0 (13. Mai 2011) und 2,5 (14. Juni 2013), worauf Dr. Ne. in seiner von der Beklagten vorgelegten sozialmedizinischen Stellungnahme vom 22. Januar 2014 zutreffend hingewiesen hat. Die EDSS ist ein Skalensystem zur systematischen Erfassung (Assessment) der Behinderung von neurologischen Patienten, die an Multipler Sklerose leiden (http://de.flexion.doccheck.com/de/Expanded Disability Status Scale). Sie beginnt bei Grad 0,0 und endet bei Grad 10,0. Die Angaben der Grade von 0 bis 10 in der EDSS beziehen sich auf die Untersuchung der folgenden funktionellen Systeme durch den behandelnden Arzt: Pyramidenbahn (z.B. Lähmungen), Kleinhirn (z.B. Ataxie, Tremor), Hirnstamm (z.B. Sprach-/Schluckstörungen), Sensorium (z.B. Verminderung des Berührungssinns), Blasen- und Mastdarmfunktionen (z.B. Urininkontinenz), Sehfunktionen (z.B. eingeschränktes Gesichtsfeld [Skotom]) sowie zerebrale Funktionen (z.B. Wesensveränderung, Demenz). Bei Grad 1 besteht keine Behinderung und eine minimale Abnormität in einem funktionellen System, bei Grad 2,5 besteht eine minimale Behinderung in zwei funktionellen Systemen.

Auf psychiatrischem Gebiet bestehen allenfalls depressive Episoden (bei posttraumatischer Belastungsstörung, so Dr. H. im Arztbrief vom 14. Juni 2013) oder rezidivierende depressive Störungen (so der Sachverständige Dr. O.). Eine dauerhafte Erkrankung auf psychiatrischem Gebiet, insbesondere eine Depression, besteht demgegenüber nicht. Dies ergibt sich aus den Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. Eb. und Dr. Sc.-Bu ... Dr. Sc.-Bu. fand keine Antriebsminderung und auch keine Ermüdungszeichen. Gegenüber Prof. Dr. Eb. verneinte die Klägerin eine Deprimiertheit und Antriebsstörungen im Sinne einer Antriebsminderung. Gegen eine dauernde Erkrankung auf psychiatrischem Gebiet spricht auch, dass die Klägerin sich nicht in entsprechender fachärztlicher Behandlung befindet.

Im Hinblick auf die genannten Feststellungen der Sachverständigen Prof. Dr. Eb. und Dr. Sc.-Bu. vermag der Senat ein Fatigue-Syndrom nicht festzustellen. Dr. Sc.-Bu. hat insoweit für den Senat überzeugend dargelegt, dass das Auftreten eines Fatigue-Syndroms in der Ausprägung mit kognitiven Einschränkungen und einem Müdigkeits-/Erschöpfungssyndrom früh nach Beginn der Multiplen Sklerose ungewöhnlich wäre. Die schnelle Ermüdbarkeit beschreibt auch Dr. H. nicht in allen ihren Arztbriefen und sie wäre im Hinblick auf die bereits genannte Bewertung der EDSS nicht nachvollziehbar. Insoweit ist auch, dem Sachverständigen Dr. Sc.-Bu. folgend, ein Cannabisabusus der Klägerin, den die Klägerin zwar gegenüber dem Sachverständigen in Abrede gestellt hat, nicht auszuschließen.

2. Aufgrund der rentenrelevanten Gesundheitsstörungen bestehen bei der Klägerin Einschränkungen in qualitativer Hinsicht, nicht aber in quantitativer Hinsicht. Der Senat folgt hinsichtlich der Leistungsbeurteilung in quantitativer Hinsicht dem Sachverständigen Dr. Sc.-Bu ... Demgegenüber ist die Beurteilung der quantitativen Leistungsfähigkeit der Klägerin durch den Sachverständigen Dr. O. nicht überzeugend. Er hat seiner Beurteilung im Wesentlichen die Angaben der Klägerin zugrundegelegt, ohne diese im Hinblick auf die von ihm erhobenen Befunde, insbesondere auch den von ihm zum überwiegenden Teil als unauffällig beschriebenen neurologischen Befund zu hinterfragen. Ebenso ist wie bereits dargelegt die Annahme eines Fatigue-Syndroms nicht schlüssig. Hierauf beruht zu einem wesentlichen Teil die Leistungsbeurteilung des Dr. O. in quantitativer Hinsicht. Ferner geht er im Rahmen seiner Beurteilung des Leistungsvermögens der Klägerin von einer eingeschränkten Gangsicherheit infolge der Multiplen Sklerose aus, beschreibt aber andererseits das Gangbild sowie die komplizierten Stand- und Gangprüfungen als unauffällig (S.13 seines Gutachtens). Er nennt neben der Reduzierung der beruflichen Tätigkeit von 30 auf 20 Wochenstunden auch eine Reduzierung der freizeitlichen Aktivitäten, insbesondere der Betreuung und Pflege des der Klägerin gehörenden Pferdes (S. 13 seines Gutachtens), wobei die Klägerin allerdings ihm gegenüber angab, sie verbringe mit dem Pferd ca. drei Stunden täglich (S. 9 seines Gutachtens). Auf die Diskrepanz zwischen den erhobenen Befunden, insbesondere dem überwiegend unauffälligen neurologischen Befund, und der gegebenen Leistungsbeurteilung durch Dr. O. wies auch nach Auffassung des Senats zu Recht bereits Dr. Wa. in seiner - als Parteivorbringen der Beklagten zu berücksichtigenden - sozialmedizinischen Stellungnahme vom 9. Januar 2013 hin. Schließlich hielt Dr. O. eine Überlagerung des Fatigue-Syndroms durch die psychischen Erkrankungen für möglich (S. 14 seines Gutachtens). Insoweit ergab sich allerdings durch die nachfolgende Begutachtung durch Prof. Dr. Eb., dass eine dauernde psychiatrische Erkrankung nicht besteht.

3. Auch die Wegefähigkeit der Klägerin ist gegeben. Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit eines Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit zwar auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen. Das BSG hat dieses Vermögen nur dann für gegeben erachtet, wenn es dem Versicherten möglich ist, Entfernungen von über 500 Metern zu Fuß zurückzulegen, weil davon auszugehen ist, dass derartige Wegstrecken üblicherweise erforderlich sind, um Arbeitsstellen oder Haltestellen eines öffentlichen Verkehrsmittels zu erreichen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 13. Juli 1988 - 5/4a RJ 57/87 -, in juris). Wegefähigkeit setzt darüber hinausgehend auch voraus, dass solche Wege in noch zumutbarer Zeit bewältigt werden können (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1991 - 13/5 RJ 73/90 -, in juris). Das BSG hat hierzu ausgeführt, dass für die Beurteilung dieses Zeitfaktors ein generalisierender Maßstab anzuwenden ist. Dabei kann von dem nach der Rechtsprechung des BSG zum Schwerbehindertenrecht noch üblichen Zeitaufwand von 30 Minuten für zwei km ausgegangen werden, der bereits kurze Wartezeiten und Zeiten des Herumstehens einbezieht. Umgerechnet auf 500 Meter ergibt sich so eine normale Gehzeit von 7,5 Minuten. Der Bereich des Zumutbaren wird dann verlassen, wenn der Gehbehinderte für 500 Meter mehr als das Doppelte dieser Zeit, also etwa 20 Minuten benötigt (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1991, a.a.O.; zum Ganzen siehe zuletzt auch BSG, Urteile vom 12. Dezember 2011 - B 13 R 21/10 R und B 13 R 79/11 R -; beide in juris). Soweit der Sachverständige Dr. O. meint, längere Wegstrecken (mehr als 200 m) seien zu vermeiden (S. 15 seines Gutachtens), lässt sich hieraus eine fehlende Wegefähigkeit nicht ableiten. Dies steht ebenfalls im Widerspruch zu dem von ihm erhobenen Befund eines unauffälligen Gangbilds und unauffälligen komplizierten Stand- und Gangprüfungen sowie weiter darin, dass er den Weg zur Arbeitsstelle zu Fuß von max. 20 Gehminuten und mit öffentlichen Verkehrsmitteln von max. 45 Minuten für höchstens zumutbar hält (S. 16 seines Gutachtens).

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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