L 11 R 4284/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 14 R 6331/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 4284/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 07.09.2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin macht einen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente geltend.

Die am 27.08.1960 geborene Klägerin ist deutsche Staatsangehörige und Mutter von fünf Kindern. Von Oktober 1980 bis September 1983 machte sie eine Ausbildung zur Kauffrau im Eisenbahn- und Straßenverkehr bei der Deutschen Bahn AG. In den Jahren 1984 bis 1995 wurden für die Klägerin Versicherungsbeiträge in der Schweiz entrichtet. Das letzte versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis wurde zwischen der Klägerin und ihrem Arbeitgeber einvernehmlich zum 25.07.1999 aufgelöst. Eine Pflichtbeitragszeit für Kindererziehung lag zuletzt im März 2001 vor. Von April 2001 bis Februar 2004 sind ebenfalls Beitragszeiten anerkannt, weil gleichzeitig Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung für mehrere Kinder vorliegen (§ 55 Abs 1 Satz 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VI). Vom 01.03.2004 bis zum 25.01.2006 ist eine Berücksichtigungszeit wegen der Erziehung eines Kindes vorhanden. Für die Zeit danach liegen keine rentenrechtlichen Zeiten mehr vor. Einen Antrag vom 18.03.2008 auf Arbeitslosengeld hatte die Agentur für Arbeit L. mit Bescheid vom 30.05.2008 abgelehnt, weil die Klägerin innerhalb der Rahmenfrist von zwei Jahren vor dem 18.03.2008 nicht mindestens 12 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hatte.

Am 25.05.2011 beantragte die Klägerin die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24.06.2011 ab, weil die Klägerin bei Annahme eines zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung am 25.05.2011 eingetretenen Leistungsfalls die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente nicht erfüllt habe. Im Zeitraum vom 25.05.2006 bis zum 24.05.2011 enthalte das Versicherungskonto der Klägerin keine Pflichtbeitragszeiten. Der Bescheid, der eine Rechtsbehelfsbelehrung enthielt, wurde am 27.06.2011 zur Post gegeben.

Mit Schreiben vom 04.08.2011, eingegangen bei der Beklagten am gleichen Tag, legte die Klägerin Widerspruch ein. Aufgrund ihres Diabetes und der damit verbundenen Folgeerkrankungen könne sie auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr tätig sein. Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid 04.11.2011 wegen Versäumung der Widerspruchsfrist als unzulässig zurück. Hinweise für eine unverschuldete Fristversäumung lägen nicht vor.

Am 02.12.2011 hat die Klägerin beim Sozialgericht Freiburg (SG) Klage erhoben. Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 24.04.2012 hat sie vorgetragen, das Widerspruchsschreiben vom 04.08.2011 hätte von Seiten der Beklagten nicht nur als verspäteter Widerspruch behandelt werden dürfen, sondern gleichzeitig als Antrag gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Sie sei deutlich vor dem 25.05.2011 in ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit eingeschränkt gewesen; auch sei sie bereits seit Mai 2010 als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 60 anerkannt. Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 07.09.2012, der Prozessbevollmächtigten der Klägerin zugestellt am 13.09.2012, abgewiesen. Das SG hat die Auffassung vertreten, dass der Widerspruch gegen den die Rente ablehnenden Bescheid nicht fristgerecht eingelegt worden sei, der Klägerin keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden könne und die Beklagte nicht verpflichtet gewesen sei, den Widerspruch als Antrag nach § 44 SGB X zu werten.

Am 15.10.2012 hat die Klägerin Berufung eingelegt. Sie bleibt bei ihrer Auffassung, dass die Beklagte verpflichtet gewesen wäre, den Widerspruch auch als Antrag nach § 44 SGB X zu werten. Schließlich habe sie den Widerspruch damit begründet, dass seit September 2010 ein GdB von 60 anerkannt sei. Es hätte daher nahe gelegen, nicht nur auf einen (angenommenen) Versicherungsfall im Mai 2011 abzustellen.

Am 11.07.2012 hat die Klägerin erneut Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente gestellt. Ferner hat die Beklagte ein Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 13.07.2012 als Antrag gemäß § 44 SGB X auf Aufhebung des Bescheides vom 24.06.2011 gewertet und diesen Antrag mit Bescheid vom 01.07.2013 abgelehnt. Den Rentenantrag vom 11.07.2012 hat die Beklagte mit Bescheid vom 19.07.2012 abgelehnt. Dagegen hat die Klägerin am 20.08.2012 Widerspruch eingelegt. Mit Widerspruchsbescheid vom 22.07.2013 hat der Widerspruchsausschuss der Beklagten die Widersprüche gegen die Bescheide vom 01.07.2013 und 19.07.2012 als unbegründet zurückgewiesen. Gegen diesen Widerspruchsbescheid hat die Klägerin wiederum Klage zum SG erhoben (S 11 R 3891/13). Das Klageverfahren ist noch anhängig.

Die Klägerin stellt folgenden Antrag:

1. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 07.09.2012 - Az.: S 14 R 6331/11 - wird aufgehoben. 2. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin unter Aufhebung des Bescheides vom 24.06.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.11.2011 eine Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu bewilligen. 3. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen außergerichtlichen Auslagen der Klägerin.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 07.09.2012 zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die Entscheidung des SG für zutreffend.

Der Senat hat schriftliche Zeugenaussagen der behandelnden Ärzte eingeholt und die Klägerin mit Schreiben vom 07.05.2014 darauf hingewiesen, dass er beabsichtige die Berufung zurückzuweisen. Selbst wenn die Beklagte verpflichtet gewesen wäre, den Widerspruch gegen den Bescheid vom 24.06.2011 (auch) als Antrag nach § 44 SGB X zu werten, würde dies nichts daran ändern, dass der Widerspruch zu Recht als unzulässig abgewiesen worden ist. Die Beklagte wäre allenfalls verpflichtet gewesen, auf den Antrag nach § 44 SGB X ein vom Widerspruchsverfahren getrenntes Verwaltungsverfahren durchzuführen, was sie im Übrigen auch getan habe. Ein Anspruch nach § 44 SGB X sei nicht Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten des SG und des LSG sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143, 144 und 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet. Das SG hat die Klage mit zutreffender Begründung abgewiesen.

Zulässiger Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist nur der Bescheid der Beklagten vom 24.06.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.11.2011. Nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind die Bescheide der Beklagten vom 01.07.2013 und 19.07.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.07.2013. Diese während des Klage- bzw Berufungsverfahrens ergangenen Bescheide sind nicht nach § 153 Abs 1 iVm § 96 SGG Gegenstand des vor dem LSG anhängigen Rechtsstreits geworden. Mit diesen Bescheiden wurde der angefochtene Bescheid vom 24.06.2011 weder abgeändert noch ersetzt. Mit dem Bescheid vom 24.06.2011 hat die Beklagte einen Rentenantrag der Klägerin abgelehnt. Die Ablehnung einer Leistung ist kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Ein solcher Verwaltungsakt kann daher mit Wirkung für die Zukunft weder abgeändert noch ersetzt werden (BSG 11.12.2007, B 8/9b SO 12/06 R, SozR 4-3500 § 21 Nr 1; Behrend in Hennig, SGG, § 96 Rn 33). Dies gilt nicht nur für den Bescheid vom 19.07.2012, mit dem ein weiterer Rentenantrag der Klägerin abgelehnt wurde, sondern auch für den Bescheid vom 01.07.2013, mit dem eine Aufhebung des Bescheides vom 24.06.2011 im Wege des Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X abgelehnt worden ist. Der Bescheid vom 01.07.2013 ist dadurch, dass er eine Änderung bzw Aufhebung des Bescheides vom 24.06.2011 abgelehnt hat, nicht an die Stelle dieses Bescheides getreten und hat diesen Bescheid deshalb auch nicht ersetzt (zum Begriff der Ersetzung siehe Behrend, aaO, § 96 Rn 27).

Das SG hat die Klage gegen den Bescheid vom 24.06.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.11.2011 zu Recht als unbegründet abgewiesen. Nach § 78 Abs 1 Satz 1 SGG sind vor Erhebung einer Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Die Durchführung des Vorverfahrens ist auch im sozialgerichtlichen Verfahren eine Sachentscheidungsvoraussetzung. Das Vorverfahren ist mit Bekanntgabe oder Zustellung des Widerspruchsbescheides durchgeführt. Im sozialgerichtlichen Verfahren ist allerdings die Einhaltung der Widerspruchsfrist keine Voraussetzung für die Zulässigkeit der Klage. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob das Vorverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist (BSG 12.10.1979, 12 RK 19/78, BSGE 49, 85). Der Widerspruchsausschuss hat zwar die Kompetenz, sich über die Verfristung des Widerspruchs hinwegzusetzen und den Widerspruch sachlich zu bescheiden mit der Folge, dass damit keine Bestandskraft des angefochtenen Bescheides eintritt (BSG 12.10.1979, aaO; 14.04.2011, B 8 SO 12/09 R, BSGE 108, 123). Macht er hiervon aber keinen Gebrauch und weist er den Widerspruch zu Recht als unzulässig zurück, muss das Gericht bei seiner Prüfung die Bindungswirkung (§ 77 SGG) des dann bestandskräftig gewordenen Bescheides beachten und die Klage als unbegründet abweisen.

Die Beklagte hat den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 24.06.2011 zu Recht wegen Versäumung der Widerspruchsfrist als unzulässig zurückgewiesen. Der Widerspruch ist binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekannt gegeben worden ist, schriftlich oder zur Niederschrift bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen hat (§ 85 Abs 1 Satz 1 SGG). Eine schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, gilt am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben (§ 37 Abs 2 Satz 1 SGB X). Der Bescheid vom 24.06.2011 ist am 27.06.2011 zur Post gegeben worden, er gilt damit als am 30.06.2011 bekannt gegeben. Die Monatsfrist endet grundsätzlich am 30.07.2011 (§ 26 Abs 1 SGBX iVm §§ 187 Abs 1, 188 Abs 2 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB). Da dieser Tag ein Samstag (Sonnabend) war, endet die Frist am Montag, den 01.08.2011 (§ 26 Abs 3 Satz 1 SGBX). Der Widerspruch ist jedoch erst am 04.08.2011 bei der Beklagten eingegangen. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sind nicht ersichtlich und wurden von der Klägerin auch nicht geltend gemacht.

Die Beklagte war nicht verpflichtet, den Widerspruch als Antrag nach § 44 SGB X zu werten. Dies hat das SG mit zutreffender Begründung entschieden; hierauf nimmt der Senat Bezug (§ 153 Abs 2 SGG). Im vorliegenden Fall besteht die Besonderheit, dass ein Anspruch auf die beantragte Rente nach Ansicht der Beklagten nur besteht, wenn der Leistungsfall mehrere Jahre vor der Rentenantragstellung eingetreten ist. Bei einer solchen Sachlage scheidet eine Pflicht des Rentenversicherungsträgers, einen verfristeten Widerspruch als Antrag nach § 44 SGB X zu werten regelmäßig aus. Selbst wenn die Beklagte verpflichtet gewesen wäre, den Widerspruch gegen den Bescheid vom 24.06.2011 (auch) als Antrag nach § 44 SGB X zu werten, würde dies nichts daran ändern, dass der Widerspruch zu Recht als unzulässig abgewiesen worden ist. Die Beklagte wäre in diesem Fall allenfalls verpflichtet gewesen, auf den Antrag nach § 44 SGB X ein vom Widerspruchsverfahren getrenntes Verwaltungsverfahren durchzuführen, was sie im Übrigen inzwischen auch getan hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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