L 3 SB 486/13

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 13 SB 1610/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 486/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 13. Dezember 2012 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob in der Person der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs der erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ("G") vorliegen.

Bei der am 17.03.1948 geborenen Klägerin, die im Besitz einer dauerhaften Aufenthaltserlaubnis ist, stellte das Landratsamt Reutlingen (LRA) mit Bescheid vom 26.09.2006 einen Grad den Behinderung (GdB) von 60 seit dem 20.03.2006 fest. Es berücksichtigte hierbei, entsprechend einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. A. vom 29.08.2006, "Diabetes mellitus (mit Diät und Insulin einstellbar)" mit einem Einzel-GdB von 40, eine "seelische Störung", "degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Schulter-Arm-Syndrom, Funktionsbehinderung des rechten Handgelenks (Rhizarthrose des 4. und 5. Fingers rechts)" und eine "Gesichtsnervenlähmung rechts (Facialparese), Schlaganfallfolgen" jeweils mit einem solchen von 20 sowie ein "Kopfschmerzsyndrom" und "Bluthockdruck" mit einem solchen von jeweils 10.

Am 01.06.2007 beantragte die Klägerin beim LRA die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleich "G". Sie brachte hierzu vor, sie leide an einer Venenerkrankung in beiden Beinen, wodurch das Gehen eingeschränkt sei.

Das LRA forderte daraufhin beim behandelnden Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. B. die dort vorliegenden Untersuchungsunterlagen an und führte diese einer versorgungsärztlichen Überprüfung zu. Dr. C. führte hierzu unter dem 15.02.2008 aus, aus den vorliegenden Befunden sei eine Verschlechterung der Gehfähigkeit nicht ersichtlich, die Klägerin sei in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht erheblich beeinträchtigt. Gestützt hierauf lehnte das LRA den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 18.02.2008 ab.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte nach abermaliger versorgungsärztlicher Überprüfung durch Dr. D. am 03.04.2009 mit Widerspruchsbescheid vom 16.04.2009 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 18.05.2009 Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. Zu deren Begründung hat die Klägerin vorgetragen, über die berücksichtigten Funktionsbeeinträchtigungen hinaus leide sie an einer morbus adamantiadis behcet, einer schubweisen Immundefekterkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis, die bei ihr insb. die Füße betreffe; es bildeten sich Eiterbeutel an den Füßen.

Der Beklagte ist der Klage entgegen getreten und hat hierzu versorgungsärztliche Stellungnahmen von Dr. E. vom 31.08.2010 und von Dr. G. vom 03.08.2011 vorgelegt.

Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen einvernommen. Dr. B. hat hierauf die beim ihm vorliegenden Arztbriefe und Befundunterlagen vorgelegt, u.a. den Entlassungsbericht des Universitätsklinikum Tübingen vom 15.05.2006 über eine stationäre Behandlung der Klägerin vom 08. - 12.05.2006, aus der diese unter dem Verdacht auf m. behcet (Erythema nodosum beider Beine seit 02/2006) entlassen wurde. Dr. H.-I., Fachärztin für Innere Medizin - Rheumatologie, hat in ihrer Stellungnahme vom 19.04.2011 ausgeführt, bei der Klägerin müsse seit 2006 vom Vorliegen eines morbus behcet ausgegangen werden. Bei der Klägerin habe sich der Lokalbefund im Bereich der Beine seit 2006 verschlechtert, so dass nunmehr eine immunsuppressive medikamentöse Therapie notwendig sei. Aufgrund der ausgeprägten Schmerzhaftigkeit der Erkrankung und dem Lokalbefund sei von einer eingeschränkten Gehstrecke auszugehen, eine Gehstrecke von 1 - 2 km sei möglich jedoch nicht zumutbar.

Das SG hat sodann Dr. F., Internist und Nervenarzt, Chefarzt der Inneren und geriatrischen Abteilung der Fachkliniken Hohenurach, zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt und mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. In seinem internistischen und nervenärztlichen Gutachten vom 23.02.2012 hat Dr. F. bei der Klägerin Diabetes mellitus Typ II - insulinpflichtig - mit Polyneuropathie der Beine, Erythema nodosum (entzündlicher Hautausschlag) der Beine seit April 2006, unter immunsuppressiver Therapie in Abheilung begriffen, arterielle Hypertonie, einen Zustand nach peripherer Fazialisparese (Lähmung des Gesichtsnervs) rechts, ein Arteria-carotis-interna-Syndrom mit Hyp- und Parästhesie der linken Körperseite und Gangunsicherheit, Polyneuropathie (Störung des Nervenstoffwechsels) der Beine durch den Diabetes mellitus bedingt, auf psychiatrischem Fachgebiet eine Depression mit Schlafstörungen sowie auf orthopädischem Fachgebiet ein degeneratives Wirbelsäulensyndrom und eine Funktionseinschränkung des rechten Handgelenkes diagnostiziert. Der Gutachter hat ausgeführt, die Klägerin habe bei der Untersuchung u.a. über beidseitige Knieschmerzen, weswegen sie nicht mehr spazieren gehen könne, geklagt, gehe jedoch ohne Hilfsmittel. Sie spüre Kribbelparästhesien und ein Pelzigkeitsgefühl in den Beinen. Durch die Knieschmerzen, begleitet durch Knieinstabilität, habe sie Angst zu fallen. Bei der Untersuchung sei eine Gangunsicherheit durch gelegentliches Einknicken im Kniegelenk zu beobachten gewesen. Der Blindgang sei sehr unsicher, monopedales Stehen beidseits kaum möglich gewesen. Im Bereich der Füße habe ein gestörtes Vibrationsempfinden als Zeichen der Polyneuropathie bestanden. Die grobe Kraft der Beine sei normal. Ein Belastungs-EKG habe die Klägerin nach 2 Minuten bei einer Belastung mit 25 Watt und weiteren 30 Sekunden mit 50 Watt wegen Beinermüdung abgebrochen. An beiden Ober- und Unterschenkeln der Klägerin zeigten sich abgeheilte Läsionen bei Erythema nodosum. Beim Abtasten seien noch Knoten spürbar gewesen. Dr. F. hat die Einschätzung vertreten, die Gehfähigkeit der Klägerin sei durch die Kombination aus der diabetischen Polyneuropathie der Beine, des Erythema nodosum und der degenerativen Wirbelsäulenveränderungen eingeschränkt. Die Klägerin könne ohne Pausen mit einem unsicheren Gangbild nicht mehr als 50 Meter bewältigen. Treppensteigen über l/2 Stockwerk ohne Pause sei nur mühsam durchführbar. Die Zuerkennung des Merkzeichens "G" lasse sich daher, so der Gutachter, begründen.

Der Beklagte ist der Einschätzung des Gutachters unter Vorlage (weiterer) versorgungsärztlicher Stellungnahmen von Dr. G. vom 02.05.2012 und vom 25.07.2012 entgegen getreten. Die Polyneuropathie der Beine könne die vom Gutachter geschilderte Gangunsicherheit nicht hinreichend erklären. Die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "G", Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule, die einen GdB von 50 bedingten, lägen bei der Klägerin nicht vor.

Dr. F. hat hierzu unter dem 21.06.2012 ergänzend dahingehend Stellung genommen, dass die von ihm erhobenen Befund des unsicheren, breitbasigen und leicht hinkenden Gangbildes Ausdruck einer "sensiblen Ataxie", bedingt durch die Polyneuropathie, sei. Zusammen mit der eher schlecht eingestellten Diabetes mellitus- Erkrankung sei ein Einzel-GdB von 50 anzunehmen, so dass die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit gerechtfertigt sei. Erschwerend träten Schmerzen im Bereich der Hüft- und Kniegelenke sowie das degenerative Wirbelsäulensyndrom und die Gefühlsstörung in der linken Körperhälfte hinzu.

Mit Urteil vom 13.12.2012 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 18.02.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.2009 verurteilt, bei der Klägerin die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festzustellen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das SG ausgeführt, nach § 146 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) sei in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Das Tatbestandsmerkmal der im Ortsverkehr üblicherweise noch zu Fuß zurückzulegenden Wegstrecke umschreibe die Fähigkeit, Wegstrecken von 2 km in einer halben Stunde bewältigen zu können. Dies sei der Klägerin nicht mehr zumutbar möglich. Nach den nachvollziehbaren Ausführungen von Dr. F. beruhe die Gangunsicherheit der Klägerin auf der bestehenden Polyneuropathie und auf der rheumatologischen Erkrankung (morbus behcet). Diese Erkrankung sei zwar durch eine immunsuppressive Therapie in Abheilung begriffen, führe jedoch weiterhin zu Schmerzen in den Beinen. Die diesbezüglichen Angaben der Klägerin seien glaubhaft, Hinweise auf eine Aggravation seien nicht mitgeteilt worden. Die GdB- Bewertung der Polyneuropathie könne im Ergebnis offen bleiben, da sie jedenfalls Auswirkungen auf das Gehvermögen der Klägerin habe. Die Tatsache, dass die grobe Kraft der Beine noch erhalten sei, führe zu keinem anderen Ergebnis.

Gegen das ihm am 17.01.2013 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 01.02.2013 Berufung eingelegt. Zu deren Begründung trägt er vor, die Wertung des SG betreffend die Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit der Klägerin im Straßenverkehr lasse sich aus dem objektiven medizinischen Sachverhalt nicht ableiten. Die sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Beeinträchtigung einer degenerativen Veränderung der Wirbelsäule, einer entzündlichen Gefäßerkrankung sowie einer Polyneuropathie seien jeweils mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Aus diesen relativ geringfügigen Beeinträchtigungen resultiere, selbst unter Beachtung der wechselseitigen Beziehungen, keine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit. Den subjektiven Beschwerdeangaben und dem breitbasigen Gangbild könne kein Beweiswert zugemessen werden, die in den objektiven Beeinträchtigungen eine Grundlage fände. Auch der Abbruch der Belastungs-EKG-Untersuchung wegen Beinermüdung gründe nicht in funktionellen Beeinträchtigungen sondern im Trainingsmangel der Klägerin. Der Beklagte hat hierzu eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. Wolf vom 23.01.2013 vorgelegt.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 13. Dezember 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung ihres Antrages bringt die Klägerin vor, Dr. F. habe in seinem Gutachten keinen Hinweis auf Aggravation oder Simulation aufgezeigt, so dass der Vortrag des Beklagten, das Urteil stütze sich auf subjektive Beschwerdeangaben und ein demonstratives Gangbild, nicht durchgreife.

Zur Aufklärung des Sachverhalts hat der Senat Dr. H.-I. schriftlich als sachverständige Zeugin einvernommen. In ihrer Stellungnahme vom 19.06.2013 hat Dr. H.-I. von Vorstellungen der Klägerin alle drei Monate berichtet und unter Vorlage eines Ausdrucks der Patientenkarteikarte ausgeführt, dass bei der Klägerin auch unter einer immunsuppressiven Therapie weiterhin Schübe des chronischen Erythema nodosum aufträten. Im Mai 2011 habe ein großflächiges Erythema der gesamten Unter- und Oberschenkel sowie des Gesäßes vorgelegen. In der Folgezeit seien neue floride Herde im Bereich der Ober- bzw. Unterschenkel sowie der Knöchelregion aufgetreten. Die handtellergroßen Erythemherde im Bereich der unteren Extremitäten seien ausgeprägt schmerzhaft, so dass eine Einschränkung der Gehfähigkeit bestehe.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie die beim Beklagten für die Klägerin geführte Schwerbehindertenakte, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 25.06.2014 wurden, sowie die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 25.06.2014 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (vgl. § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) des Beklagten ist zulässig und auch in der Sache begründet.

Das SG hat der Klage zu Unrecht stattgegeben; die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "G".

Gemäß §§ 69 Abs. 4, 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" festzustellen, wenn ein schwerbehinderter Mensch infolge seiner Behinderung in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen vorliegen, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalls an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Nach der Rechtsprechung gilt als übliche Wegstrecke in diesem Sinne eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 10.12.1987 - 9a RVs 11/87 - veröffentlicht in juris).

Für die Zeit bis zum 31.12.2008 beinhalteten die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung (zuletzt Ausgabe 2008) konkretisierende Fallgestalten, wann die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr als erfüllt angesehen werden können. Die AHP besaßen zwar keine Normqualität, weil sie weder auf einem Gesetz noch auf einer Verordnung oder auch nur auf Verwaltungsvorschriften beruhten. Sie waren vielmehr als antizipitierte Sachverständigengutachten anzusehen, die in der Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit wirkten, und deshalb normähnliche Auswirkungen hatten. Auch waren sie im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen von den Gerichten anzuwenden (BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R; Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - jeweils veröffentlicht in juris).

Ab dem 01.01.2009 ist an die Stelle der AHP die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung [VersMedV]) getreten. Damit hat das Bundes-ministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung, die ursprünglich in § 30 Abs. 17 BVG, mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften vom 20.06.2011 (BGBl I 1114) seit dem 01.07.2011 in § 30 Abs. 16 BVG erteilt ist, zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen i.S.d. § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Eine gesetzliche Ermächtigung für den Verordnungsgeber, die Grundsätze für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilausgleiche durch Verordnung regeln zu können, enthalten jedoch weder § 30 Abs. 17 BVG, der nicht auf die im Schwerbehindertenrecht im SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche verweist (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009), noch andere Regelungen des BVG. Eine Rechtsgrundlage zum Erlass einer Verordnung über Nachteilausgleiche ist auch nicht in den einschlägigen Vorschriften des SGB IX enthalten. Die Regelungen der VG zum Nachteilausgleich "G" sind damit mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig (vgl. Landessozialgericht [LSG] Baden-Württemberg, Urteil vom 23.07.2010 - L 8 SB 3119/08 -; Urteil vom 14.08.2009 - L 8 SB 1691/08 -; Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16.12.2009 - L 10 SB 39/09 - jew. veröffentlicht in juris). Den VG lassen sich daher - jedenfalls unmittelbar - keine weiteren Beurteilungskriterien für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des begehrten Nachteilausgleichs entnehmen. Rechtsgrundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilausgleichs "G" sind daher allein die genannten gesetzlichen Bestimmungen der §§ 145, 146 SGB IX und die in ständiger Übung hierzu angewandten Bewertungsgrundsätze, die in den Bestimmungen der AHP fußen. Da diese der Wahrung der Gleichbehandlung aller behinderten Menschen dienten, zieht der Senat die Regelungen der AHP zur Vermeidung von Rechtsnachteilen für die Betroffenen ergänzend zur Ausfüllung der Kriterien der §§ 145, 146 SGB IX weiter heran, insb. da die VG materiell die Grundsätze zum Nachteilsausgleich "G" aus den AHP unverändert übernommen haben (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.02.2013 - L 11 SB 137/11 - veröffentlicht in juris; vgl. auch Urteile des erkennenden Senats vom 06.07.2011 - L 3 SB 202/09 - und vom 08.05.2013 - L 3 SB 4961/11 - jew. n.v.).

Die AHP (und ihnen nachfolgend die VG) gaben an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein behinderter Mensch infolge der Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist" und tragen damit dem Umstand Rechnung, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird, zu denen neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, gehören. Von diesen Faktoren filtern die in den AHP getroffenen Bestimmungen all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des behinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen, erheblich beeinträchtigen.

Die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens sind hiernach als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB von unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich besonders auf die Gehfähigkeit auswirken, z.B. bei Versteifung des Hüftgelenkes, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusserkrankungen mit einem GdB von 40. Auch bei inneren Leiden kommt es bei der Beurteilung entscheidend auf die Einschränkung des Gehvermögens an. Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor allem bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 und bei Atembehinderung mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades anzunehmen. Auch bei inneren Leiden mit einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit, z.B. chronische Niereninsuffizienz mit ausgeprägter Anämie, sind die Voraussetzungen als erfüllt anzusehen (Ziff. 30 Abs. 3 [S.137 f] der AHP; vgl. auch Teil D 1 d) [S.139f] der VG). Störungen der Orientierungsfähigkeit, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führen, sind bei allen Sehbehinderten mit einem GdB von wenigstens 70 und bei Sehbehinderungen, die einen GdB von 50 oder 60 bedingen, nur in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (z.B. hochgradige Schwerhörigkeit beiderseits, geistige Behinderung) anzunehmen. Bei Hörbehinderungen ist die Annahme solcher Störungen nur bei Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit im Kindesalter (in der Regel bis zum 16. Lebensjahr) oder im Erwachsenenalter bei diesen Hörstörungen in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (z.B. Sehbehinderung, geistige Behinderung) gerechtfertigt (Ziff. 30 Abs. 5 [S.138] der AHP; vgl auch Teil D 1 f) [S.140] der VG).

In Ansehung dieser Maßstäbe ist die Klägerin zur Überzeugung des Senats in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht erheblich beeinträchtigt. Die bei der Klägerin bestehenden, sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsbeeinträchtigungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Wirbelsäule bedingen keinen GdB von wenigstens 50. Die Klägerin leidet zur Überzeugung des Senats an morbus behcet, einer schubartig verlaufenden systemisch-rheumatologischen Erkrankung mit entzündlichem Befall venöser und arterieller Gefäße, im Besonderen der Haut. Da nach den Bekundungen der behandelnden Ärztin Dr. H.-I. bei der Klägerin auftretenden Schübe des chronischen Erythema nodosum im Bereich der gesamten Haut der Ober- und Unterschenkel sowie des Gesäßes auftreten, sind zwar die unteren Gliedmaßen von der Erkrankung betroffen, die Funktionsbeeinträchtigung ist jedoch in Einklang mit der Einschätzung von Dr. H.-I. (Stellungnahme vom 19.04.2011), der versorgungsärztlichen Einschätzung von Dr. Wolf (Stellungnahme vom 23.01.2013) sowie der gutachterlichen Einschätzung von Dr. F. nach Ziff. 17.5 (S. 99) der VG lediglich mit einem Einzel-GdB von 20 - 30 zu bewerten. Ferner wirken sich bei der Klägerin die degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule auf die Gehfähigkeit aus. Diese ist jedoch nach Ziff. 18.9 (S. 107) der VG allenfalls mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Die bei der Klägerin gleichfalls bestehende Polyneuropathie ist in Anlehnung an Nervenausfälle der unteren Gliedmaßen (Ziff. 18.14 [S.118] der VG) mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. In Zusammenschau der funktionellen Einschränkungen ist ein GdB von wenigstens 50 nicht bedingt; die Beeinträchtigungen sind mit denen des Verlustes eines Beines im Unterschenkel, für den ein GdB von 50 anzusetzen ist, nicht vergleichbar.

Auf eine Einschränkung des Gehvermögens durch die Auswirkungen des Diabetes mellitus ist erst bei häufigen hypoglykämischen Schocks, die einer mittleren Anfallshäufigkeit hirnorganischer Anfälle gleichzustellen sind, zu schließen (vgl. LSG Berlin, Urteil vom 24.08.2004 - L 13 SB 29/02 - veröffentlicht in juris). Da indes hypoglykämische Entgleisungen von den gehörten Ärzten nicht mitgeteilt wurden, rechtfertigt auch die Berücksichtigung der Diabetes mellitus- Erkrankung die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs G nicht.

Die bei der Klägerin bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen wirken sich zur Überzeugung des Senats auch nicht besonders auf deren Gehfähigkeit aus. Die Gehfähigkeit umschreibt das Fortbewegungsvermögen im engeren Sinne. Das Gehvermögen ist eingeschränkt, wenn der Leidenszustand die Fortbewegung als solche einschränkt (Spiolek in GK-SGB IX, Bd. 3, Stand Aug. 2012, § 146, Rn.4; Vogl in jurisPK-SGB IX, 1.Aufl., 2010, § 146 SGB IX, Rn. 12). Bei der Klägerin sind indes durch die bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen keine wesentlichen statischen oder funktionellen Auswirkungen bedingt. Die Beweglichkeit der am Gehprozess beteiligten Gelenke (Hüft-, Knie- und Sprunggelenke) ist nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen nicht maßgeblich eingeschränkt. Soweit die Klägerin gegenüber Dr. F. mitgeteilt hat, infolge von Knieschmerzen, die von einer Knieinstabilität begleitet werde, habe sie Angst zu fallen, ergibt sich aus keiner der vorliegenden medizinischen Unterlagen ein Anhaltspunkt für eine Instabilität des Bandapparates der Kniegelenke. Insofern fällt auf, dass weder in der erstinstanzlich vorgelegten Schweigepflichtsentbindungserklärung eine Behandlung durch einen Orthopäden benannt, noch in den von Dr. B. vorgelegten Arztbriefen und Befundunterlagen eine orthopädische Behandlung (der Kniegelenke) dokumentiert ist. Soweit klägerseits eine Einschränkung des Gehvermögens durch die auftretenden Schübe des chronischen Erythema nodosum angeführt wird, ist dem zwar zuzugestehen, dass die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs auch in Fällen, in denen sich eine (Grund-)Erkrankung zuvorderst in einem Befall der Haut manifestiert, erfüllt sein können, indes gilt dies nur dann, wenn die Füße hiervon ständig befallen sind (Vogl, a.a.O.). Vor diesem Hintergrund ist jedoch zur Überzeugung des Senats durch die Erythema nodosum - Erkrankung der Klägerin - auch in Zusammenschau mit den weiteren Funktionsbeeinträchtigungen - keine maßgebliche Beeinträchtigung des Fortbewegungsvermögens bedingt. Der nach den Bekundungen von Dr. F. mit der Erkrankung einhergehende Juckreiz beeinflusst das Gehvermögen nicht. Soweit Dr. F. ferner anführt, bei der Klägerin gehe die Erkrankung mit offenen Stellen der betroffenen Areale einher, sind diese im Bereich der Ober- und Unterschenkel sowie des Gesäßes lokalisiert. Da indes diese Bereiche während des Gehvorgangs keinem erhöhten (Auftritts-) Druck ausgesetzt sind, ist die Fortbewegungsfähigkeit als solche bei der Klägerin auch durch die morbus behcet- Erkrankung nicht wesentlich beeinträchtigt. Soweit Dr. H.-I. in ihrer Stellungnahme gegenüber dem Senat auch angeführt hat, dass Erythema nodosum Herde auch im Bereich der Knöchelregion bestanden haben, ergibt ein Abgleich mit der vorgelegten Patientenkarte, dass diese jedenfalls nicht dauerhaft vorgelegen haben (vgl. hierzu § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) und eine nur zeitweilig bestehende Einschränkung die Annahme der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "G" nicht rechtfertigt.

Dass das Gehvermögen der Klägerin nicht in dem erforderlichen Maße eingeschränkt ist, wird für den Senat insb. auch dadurch gestützt, dass es im Falle einer tatsächlich bestehenden maßgeblichen Beeinträchtigung des Gehvermögens zu einer Schonung der unteren Extremitäten kommt. Dies führt dann zu Verschmächtigungen im Muskelapparat. Da indes in keiner der umfangreich vorliegenden medizinischen Berichten von auch nur geringfügigen Muskelatrophien berichtet wird, Dr. F. i.d.S. eine nicht eingeschränkte grobe Kraft der Beine beschrieben hat, ist der Senat nicht davon überzeugt, dass die bei der Klägerin bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen eine wesentliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr bedingen. Da auch ein Befall der Füße von den gehörten Ärzten nicht beschrieben wird, ist durch die morbus behcet- Erkrankung keine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr bedingt.

Soweit Dr. F. seine Einschätzung auch mit einer polyneuropathiebedingten Gangunsicherheit begründet hat, bedingt auch dies die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht. Die Klägerin hat selbst gegenüber dem Gutachter angegeben, beim Auftreten von Kribbelparästhesien und einem Pelzigkeitsgefühl aufzustehen und zu laufen, um diese Erscheinungen zu bekämpfen. Soweit Dr. F. seine Einschätzung schließlich damit begründet, die Kniegelenke der Klägerin seien teilweise instabil, fällt auf, dass er hierzu korrelierende Befunde nicht erhoben hat, vielmehr im Hinblick auf die Kniegelenke nur deren nicht maßgeblich eingeschränkte Bewegungsmaße mitgeteilt hat.

Mithin ist der Senat nicht davon überzeugt, dass die Klägerin in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "G" liegen in der Person der Klägerin nicht vor.

Der Bescheid vom 18.02.2008 (Widerspruchsbescheid vom 16.04.2009) ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Das SG hat der Klage zu Unrecht stattgegeben; das Urteil vom 13.12.2012 ist auf die Berufung des Beklagten aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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