L 12 AS 3511/14 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 6 AS 1971/14 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 3511/14 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Heilbronn vom 02.07.2014 geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig für die Zeit vom 06.06.2014 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis zum 30.11.2014, Leistungen nach dem SGB II - mit Ausnahme von Bedarfen für Unterkunft und Heizung - zu gewähren.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt drei Viertel der außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin G. beigeordnet.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes über die vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).

Die 1966 geborene Antragstellerin ist kroatische Staatsangehörige. Sie reiste ihren Angaben zufolge zusammen mit ihrer 28-jährigen Tochter am 01.02.2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein und wohnt seither ebenso wie ihre Tochter in der Wohnung eines Bekannten in H. Sie beantragte am 13.02.2014 Leistungen nach dem SGB II. Dies lehnte der Antragsgegner durch Bescheid vom 07.03.2014 und Widerspruchsbescheid vom 23.04.2014 ab, da § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II dem Anspruch entgegenstehe. Die deswegen erhobene Klage ist beim Sozialgericht Heilbronn (SG) unter dem Aktenzeichen S 6 AS 1837/14 anhängig.

Am 06.06.2014 hat die Antragstellerin beim SG einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Das SG hat dem Antrag stattgegeben und den Antragsgegner durch Beschluss vom 02.07.2014 verpflichtet, der Antragstellerin monatlich ab Juni 2014 bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Es hat ausgeführt, die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) seien gegeben. Ein Anordnungsanspruch sei glaubhaft gemacht. Auch § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II dürfte nach der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung dem Anspruch nicht entgegenstehen, denn das Gericht habe erhebliche Zweifel daran, ob dieser Leistungsausschluss für Unionsbürger mit Europarecht vereinbar sei. Da es um Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gehe, sei auch der Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht.

Gegen diesen ihm am 09.07.2014 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 08.08.2014 beim SG mittels Fax Beschwerde eingelegt. Er trägt vor, ein Anspruch auf den Erhalt von Leistungen nach dem SGB II bestehe nicht. Es fehle schon an der gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 SGB II erforderlichen Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin; darüber hinaus sei die Antragstellerin entgegen der Auffassung des SG von Leistungen nach dem SGB II gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgenommen. An der (rechtlichen) Erwerbsfähigkeit fehle es, weil die Antragstellerin nicht die gemäß § 284 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) erforderliche Arbeitsgenehmigung-EU habe und eine solche schon deshalb nicht erhalten könne, weil sie zum Zeitpunkt des Beitritts der Republik Kroatien zur EU am 01.07.2013 oder später nicht für einen ununterbrochenen Zeitraum von mindestens zwölf Monaten zum deutschen Arbeitsmarkt zugelassen war, § 284 Abs. 1 SGB III i.V.m. § 12a Arbeitsgenehmigungsverordnung (ArGV). Ferner habe die Antragstellerin zur behaupteten Arbeitsuche nicht substantiiert vorgetragen, geschweige denn einen solchen Vortrag glaubhaft gemacht.

Die Antragstellerin tritt der Beschwerde entgegen. Der angefochtene Beschluss des SG sei zutreffend. Sie sei zwar aktuell nicht im Besitz einer Arbeitserlaubnis-EU nach § 284 SGB III, es genüge aber, dass grundsätzlich eine solche Erlaubnis erteilt werden könnte. Sie halte sich allein zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland auf. Sie sei arbeitsuchend; Bewerbungsbemühungen seien insbesondere in Form von persönlichen Vorsprachen bei potentiellen Arbeitgebern und durch Veröffentlichung von Anzeigen entfaltet worden (dazu hat die Antragstellerin zwei Kopien aus dem Anzeigenblatt "Echo" vorgelegt).

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Verfahrensakten beider Rechtszüge sowie der beigezogenen Verwaltungsakten des Antragsgegners Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig. Sie ist aber nur teilweise begründet.

Wie das SG zutreffend ausgeführt hat, ist verfahrensrechtliche Grundlage des geltend gemachten einstweiligen Rechtsschutzes § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG. Voraussetzung für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung sind demnach ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund. Mit Blick auf den Anordnungsanspruch ist in den Fällen, in denen es um existenziell bedeutsame Leistungen geht, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden; die grundrechtlichen Belange des Antragstellers sind umfassend in die Abwägung einzustellen (siehe etwa BVerfG, Beschluss vom 29.11.2007 - 1 BvR 2496/07 - SozR 4-2500 § 27 Nr. 17 = NZS 2008, 365, m.w.N.).

Davon ausgehend sind der Antragstellerin im Wege der Folgenabwägung vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im tenorierten Umfang zuzusprechen, denn im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes kann das Bestehen der in der Hauptsache geltend gemachten Leistungsansprüche nicht abschließend geklärt werden.

1. Die Antragstellerin erfüllt, jedenfalls nach der hier nur möglichen summarischen Prüfung, im Zeitraum seit Stellung des Leistungsantrags (wobei sie wegen § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts ausdrücklich keine Leistungen begehrt) sämtliche Anspruchsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 SGB II. Auf die Glaubhaftmachung der Voraussetzungen nach Nr. 1 (Lebensalter) und Nr. 3 (Hilfebedürftigkeit) braucht nicht weiter eingegangen zu werden. Am gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II besteht ebenfalls kein ernstlicher Zweifel (vgl. dazu BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R -, BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr. 34, Rdnr. 17 ff). Zwar äußert der Antragsgegner derartige Zweifel, weil Nachweise zur Glaubhaftmachung hinsichtlich der Arbeitsuche und der Bewerbungsbemühungen der Antragstellerin nicht vorgelegt worden seien. Das geht schon deshalb fehl, weil der Antragsteller damit die Anspruchsvoraussetzung des gewöhnlichen Aufenthalts nach Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 mit den Tatbestandsmerkmalen des Leistungsausschlusses nach Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 vermengt; beides ist aber strikt zu trennen (Spellbrink/G. Becker, in Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 7 Rdnr. 26).

Die Antragstellerin ist auch erwerbsfähig im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 SGB II. Zweifel an der Erwerbsfähigkeit im Sinne des gesundheitlichen Mindestleistungsvermögens nach § 8 Abs. 1 SGB II bestehen nicht und werden auch vom Antragsgegner nicht geäußert. Auch die rechtliche Erwerbsfähigkeit nach § 8 Abs. 2 SGB II, die nur vorliegt, wenn eine Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte, ist entgegen der Auffassung des Antragsgegners gegeben. Zwar benötigen Staatsangehörige der zum 01.07.2013 der EU beigetretenen Republik Kroatien für eine Beschäftigung derzeit noch gemäß § 284 SGB III eine Arbeitsgenehmigung-EU. Eine solche Genehmigung besitzt die Antragstellerin nicht. Für die Annahme, dass eine Beschäftigung im Sinne des § 8 Abs. 2 SGB II erlaubt ist oder erlaubt werden könnte, reicht indessen eine abstrakt-rechtliche Möglichkeit der Erteilung einer Arbeitsgenehmigung aus; das stellt die zum 01.04.2011 eingefügte Vorschrift des § 8 Abs. 2 Satz 2 SGB II klar. Diese Möglichkeit besteht. Der Vortrag des Antragsgegners, sie sei gemäß § 284 Abs. 1 SGB III i.V.m. § 12a ArGV ausgeschlossen, weil die Antragstellerin am 01.07.2013 oder später nicht für einen ununterbrochenen Zeitraum von mindestens zwölf Monaten zum deutschen Arbeitsmarkt zugelassen war, trifft nur für die Genehmigung in Form der Arbeitsberechtigung-EU zu. Nach § 284 Abs. 2 SGB III wird die Genehmigung befristet als Arbeitserlaubnis-EU erteilt, wenn nicht Anspruch auf eine unbefristete Erteilung als Arbeitsberechtigung-EU besteht. Nur die Erteilung der Arbeitsberechtigung-EU bestimmt sich nach § 12a ArGV, der die Voraussetzung der zwölfmonatigen Zulassung zum deutschen Arbeitsmarkt enthält, § 284 Abs. 5 SGB III. Dagegen wird die Genehmigung in Form der Arbeitserlaubnis-EU nach Maßgabe des § 39 Abs. 2 bis 4 und 6 des Aufenthaltsgesetzes erteilt, § 284 Abs. 3 SGB III. Die genannte Erteilungsvoraussetzung des § 12a ArGV gilt hier nicht. Für die Antragstellerin ist vielmehr für die Erteilung einer Arbeitserlaubnis-EU die Vorrangprüfung nach § 39 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz entscheidend. Demnach ist die Erteilung einer Arbeitserlaubnis-EU abstrakt-rechtlich möglich.

2. Zweifelhaft ist letztlich lediglich, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II dem Leistungsanspruch der Antragstellerin entgegensteht. Nach dieser Vorschrift sind von der Leistungsberechtigung ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen.

Die Antragstellerin hat ab Einreise in die Bundesrepublik Deutschland am 01.02.2014 nur ein Aufenthaltsrecht, das sich aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 2. Alternative des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern - FreizügG/EU -). Aufgrund der Angaben der Antragstellerin beim Leistungsantrag, im Verfahren beim SG sowie im vorliegenden Beschwerdeverfahren und der zusätzlichen Vorlage von Annoncen zur Beschäftigungssuche ist derzeit jedenfalls nach den für den einstweiligen Rechtsschutz geltenden Maßstäben hinreichend glaubhaft gemacht, dass die Antragstellerin sich zum Zwecke der Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhält. Somit ist der Anwendungsbereich der Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II eröffnet.

Es ist zweifelhaft und in der Rechtsprechung umstritten, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II europarechtskonform ist. Eine höchstrichterliche Klärung der hiermit verbundenen komplexen und schwierigen Rechtsfragen ist bislang noch nicht erfolgt. Der Senat hat dies zuletzt in seinem Beschluss vom 21.06.2013 - L 12 AS 1432/13 ER-B - (in juris) im Einzelnen dargelegt. Daran hat sich nichts geändert. Insoweit genügt der Hinweis auf das Vorabentscheidungsgesuch des BSG vom 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R - sowie auf den vom SG zitierten Beschluss des Hessischen LSG vom 06.06.2014 - L 6 AS 130/14 B ER - (beide in juris). Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens muss daher als offen bezeichnet werden. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist daher die Entscheidung anhand einer Folgenabwägung zu treffen. Diese Folgenabwägung führt regelmäßig und auch hier dazu, dass im Hinblick auf die zur Sicherung des Existenzminimums erforderlichen Leistungen das Interesse der Antragstellerin an einer vorläufigen Leistungsgewährung höher zu bewerten ist als das rein fiskalische Interesse des Antragsgegners und dieses zurückstehen muss.

3. Was den Umfang und die Dauer der demnach vorläufig zu gewährenden Leistungen betrifft, ist zunächst zu berücksichtigen, dass es grundsätzlich nicht Aufgabe des vorläufigen Rechtsschutzes ist, einen Ausgleich für Rechtsbeeinträchtigungen in der Vergangenheit herbeizuführen; mangels besonderer Umstände, die eine Ausnahme rechtfertigen könnten, sind Leistungen somit erst ab 06.06.2014 (Antragstellung beim SG) zu gewähren (vgl. hierzu z.B. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.10.2005 - L 7 SO 3804/05 ER-B -, juris). Mit Blick auf eine Überprüfung der Verhältnisse in einem angemessenen Zeitraum und den regelmäßigen Bewilligungszeitraum von sechs Monaten hält es der Senat für gerechtfertigt, die Leistungen bis Ende November 2014 (gerechnet von der Antragstellung beim SG rund sechs Monate) zuzusprechen. Zu gewähren ist vorläufig nur der Regelbedarf, nicht aber die Kosten für Unterkunft und Heizung, da insoweit bisher weder ein Anordnungsanspruch noch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht sind. Zwar hat die Antragstellerin in ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 06.06.2014 erklärt, sie wohne in Untermiete und müsse "eigentlich" an den Vermieter monatlich 160,00 EUR bezahlen, und es sei abzusehen, dass ihr das Mietverhältnis gekündigt werde und sie obdachlos werde. Irgendwelche Unterlagen, insbesondere ein schriftlicher Mietvertrag, liegen allerdings nicht vor. Es ist bisher nicht glaubhaft gemacht, dass die Antragstellerin zur Mietzahlung verpflichtet ist, insbesondere aber nicht, dass ihr der Verlust der Unterkunft droht. Denn ihren Angaben zufolge wohnt die Antragstellerin in der Wohnung eines "Bekannten", und sie ist bei diesem zusammen mit ihrer erwachsenen Tochter ohne jedes Einkommen und Vermögen eingezogen. Es ist deshalb eher unwahrscheinlich, dass die Aufnahme der Antragstellerin in die Wohnung des Bekannten von einer Mietzinszahlung abhängig war und ist. Erst recht fehlen konkrete Anhaltspunkte für einen drohenden Wohnungsverlust, insbesondere eine Kündigung und weitere Schritte wie eine Räumungsklage. Die Klärung möglicher Ansprüche der Antragstellerin wegen Kosten der Unterkunft und Heizung können daher dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

5. Der Antragstellerin ist für das Beschwerdeverfahren gemäß § 73a Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 114 ff. Zivilprozessordnung (ZPO) Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wobei die hinreichende Erfolgsaussicht gar nicht zu prüfen ist, da es sich um eine Beschwerde des Antragsgegners handelt, § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO).

6. Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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