L 3 SB 4898/13

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 5 SB 738/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 4898/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 22. Oktober 2013 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt noch die Zuerkennung (behördliche Feststellung) der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs (Merkzeichens) "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).

Der am 07.10.1953 geborene Kläger ist britischer Staatsbürger und in Deutschland wohnhaft. Er leidet seit dem Jahre 2010 unter anfallsartigen Episoden mit Muskelzuckungen und Sprachlosigkeit. Als Diagnose wurden anfangs depressive Episoden und ein Schlaf-Apnoe-Syndrom genannt, später auch eine Somatisierungsneigung, nachdem eine genauere Diagnose wegen der geklagten Anfälle nicht gestellt werden konnte.

Mit Bescheid vom 19.07.2011 und Teil-Abhilfe-Bescheid vom 06.12.2011 stellte das Landratsamt des R.-Kreises (LRA) als Versorgungsamt einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 seit dem 03.05.2011 fest. Nachteilsausgleiche wurden nicht zuerkannt. Jenem Bescheid lagen ausweislich einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 26.10.2011 folgende Funktionsbeeinträchtigungen und Einzel-GdB zu Grunde: 1) depressive Verstimmung, seelische Störung, Anfallsleiden, 40; 2) Schlaf-Apnoe-Syndrom, 20; 3) Funktionsbehinderung der Wirbel-säule, 10; 4) Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen, 10; 5) Refluxkrankheit der Speiseröhre, funktionelle Störung des Dickdarms (colon irritabile), 10.

Vom 20.04. bis 12.05.2012 wurde der Kläger stationär im Epilepsiezentrum K. untersucht und behandelt. Ausweislich des Entlassbriefs von Prof. Dr. S. vom 03.06.2012 wurde dabei u.a. der Verdacht auf (V.a.) eine Somatisierungsstörung mit rezidivierenden anfallsartigen Episoden mit Mutismus (psychogenes Schweigen) diagnostiziert, aber kein Anhalt für eine Epilepsie gefunden.

Am 24.05.2012 beantragte der Kläger die Erhöhung des GdB und die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung). Auf Grund der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 02.08.2012 lehnte das LRA diesen Antrag mit Bescheid vom 16.08.2012 ab.

Im Vorverfahren gab der Kläger an, während der Anfälle verkrampften sich seine Extremitäten und zuckten für zwei bis fünf Minuten, auch sei er für zwei bis acht Stunden abwesend und könne nicht reagieren, obwohl er alles mitbekomme. Er sei ebenfalls in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich eingeschränkt, auch weil seine Anfälle für ihn gefährlich seien, z.B. beim Autofahren oder dem Überqueren einer Straße. Ferner wies er auf eine bislang nicht berücksichtigte Hauterkrankung hin. Das LRA holte daraufhin den Arztbrief des benannten Internisten Dr. Z. ein (Adipositas per magna, Diabetes mellitus II, V.a. Alkoholabusus). Ferner wurde, nachdem der Kläger einen weiteren Anfall mitgeteilt hatte, der Arztbrief der Neurologin und Psychiaterin Dr. S. vom 03.01.2013 eingeholt (dissoziative Störung mit psychogenen Anfällen und Mutismus, ca. 40 Anfälle im Monat, starke Einschränkung der Belastbarkeit). Auf Grund der weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. S. vom 11.01.2013 erließ sodann das R. S. des Beklagten als Landesversorgungsamt den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 29.01.2013.

Der Kläger hat am 28.02.2013 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben. In der Klageschrift hat er - nur - noch die Zuerkennung der beiden Merkzeichen begehrt; mit Schriftsatz vom 01.10.2013 hat er ausgeführt, es gehe ihm nur um das Merkzeichen "G".

Dr. S. hat, schriftlich als sachverständige Zeugin vernommen, unter dem 13.06.2013 ihre Angaben aus dem Arztbrief vom 03.01.2013 wiederholt und hinzugefügt, der Kläger berichte weiterhin von zahlreichen Anfällen, so 23 Anfällen in der Woche vor dem 05.07.2011.

Das SG hat sodann den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. M. mit einer Begutachtung des Klägers beauftragt. Dieser Sachverständige hat in seinem schriftlichen Gutachten vom 16.09.2013 bekundet, der Kläger habe ihm gegenüber einen etwa 30-sekündigen Anfall am Morgen des Untersuchungstags angegeben, ferner einen gelegentlichen Tinnitus. Der Kläger habe ferner mitgeteilt, er traue sich zu, Auto zu fahren, da er relativ früh merke, wann der nächste Anfall komme. Den ersten Anfall habe er im März 2010 erlitten, den zweiten im selben Jahr. Bis heute habe er insgesamt zehn Anfälle erlitten, die ähnlich abgelaufen seien und zwischen zweieinhalb und acht Stunden gedauert hätten. Einen Anfall ohne Beteiligung von Menschen oder beim Autofahren habe er noch nicht erlebt. Der Sachverständige hat sodann ausgeführt, bei dem Kläger handle es sich um dissoziative Krampfanfälle und eine rezidivierende depressive Störung, ggw. leichtgradig, differenzialdiagnostisch um eine Dysthymia. Auf psychiatrischem Gebiet bestehe zurzeit nur ein Einzel-GdB von 30. Die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" lägen nicht vor: bei dem Kläger beständen dissoziative Krampfanfälle, die nicht einem organischen Anfallsleiden entsprächen und daher nicht zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führten.

Mit Gerichtsbescheid vom 22.10.2013 hat das SG die Klage abgewiesen. Bei einem Anfallsleiden sei die Einschränkung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nach der Art und Häufigkeit der Anfälle zu beurteilen. Hiernach könne der Kläger das Merkzeichen "G" nicht verlangen. Er habe nur zehn Anfälle seit 2013 erlitten, also einen Anfall in durchschnittlich vier Monaten. Er bemerke die Anfälle im Vorfeld noch so rechtzeitig, dass er sich in Sicherheit bringen könne. Daher bestehe bei der Fortbewegung zu Fuß keine wesentliche Gefahrenlage im Straßenverkehr. Hinzu komme, dass es sich nicht um ein organisches Anfallsleiden handle.

Gegen diesen Gerichtsbescheid hat der Kläger am 08.11.2013 bei dem SG Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg erhoben. Er trägt vor, er habe seit März 2013 fast genauso viele Anfälle gehabt wie in den Jahren zuvor. Er reicht ferner auszugsweise ein Attest des K. H. (ohne Datum) ein, das als vorläufige Diagnose eine koronare Herzerkrankung ohne höhergradige Stenosen bei leichtgradig eingeschränkter LV-Funktion (Linksventrikel) und einen V.a. auf eine beginnende dilative Kardiomyopathie (krankhafte Erweiterung des Herzmuskels) nennt.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 22. Oktober 2013 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 16. August 2012 und des Widerspruchsbescheids vom 29. Januar 2013 zu verurteilen, bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt den angegriffenen Gerichtsbescheid und seine Entscheidungen.

Entscheidungsgründe:

1. Die Berufung des Klägers ist nach § 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, da Ausschließungsgründe nach § 144 Abs. 1 SGG nicht vorliegen. Sie ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben. Sie ist aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) des Klägers auf Zuerkennung des Merkzeichens "G" abgewiesen. Ein solcher Anspruch besteht nicht.

a) Die rechtlichen Voraussetzungen der Feststellung des begehrten Merkzeichens nach § 145 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 146 Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) hat das SG in dem angegriffenen Gerichtsbescheid zutreffend dargelegt. Der Senat verweist, um Wiederholungen zu vermeiden, nach § 153 Abs. 2 SGG auf jene Ausführungen.

In diesem Rahmen ist nur hervorzuheben, dass das SG zutreffend nicht lediglich organisch bedingte Anfallsleiden als Grundlage für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" anerkannt hat. Zwar befasst sich Teil D Nr. 1 lit. e der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG), der Anlage zu der nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX i.V.m. § 30 Abs. 16 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erlassenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV), ausschließlich mit "hirnorganischen" Anfällen. Diese Einschränkung ist jedoch nicht wirksam. Zum einen fehlt der VersMedV generell die notwendige Ermächtigungsgrundlage für Regelungen über die Merkzeichen außer dem in § 30 Abs. 16 BVG selbst genannten Merkzeichen "H" (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 08.05.2013, L 3 SB 5383/12, Juris Rn. 18). Zum anderen ginge eine Beschränkung auf organisch bedingte Anfallsleiden auch unzulässig über den Gesetzeswortlaut in § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX hinaus, der allgemein alle "Anfälle" genügen lässt. Mit dieser Ansicht weicht der Senat nicht ab von dem Urteil des 6. Senats des LSG Baden-Württemberg v. 12.10.2011 (L 6 SB 3032/11, Juris Rn. 43). Dort hat der 6. Senat zwar ausgeführt, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX erfasse nur "hirnorganische Anfälle, insbesondere epileptische Anfälle, aber auch hypoglykämische Schocks bei Zuckerkranken". Diese Ausführung kann aber nicht so verstanden werden, dass ausschließlich organisch bedingte Anfallsleiden erfasst sein sollen. In dem dortigen Ausgangsfall lag überhaupt kein Anfallsleiden vor. Der 6. Senat wollte mit seiner Formulierung nur "psychisch erkrankte Personen, deren Leiden nur mit sonstigen Beeinträchtigungen oder Störungen einhergehen, wie etwa Verstimmungen, Antriebsminderung und Angstzuständen," von der Zuerkennung des Merkzeichens "G" ausschließen (a.a.O.). Dies ergibt sich auch aus dem Hinweis des 6. Senats, das genannte Merkzeichen erfasse "solche Anfälle, die mit Bewusstseinsverlust und Sturzgefahr verbunden" seien (a.a.O.). Entsprechend hat z.B. auch das LSG Berlin-Brandenburg (Urt. v. 16.01.2014, L 13 SB 51/12, Juris Rn. 19, 20) eine allein psychogen bedingte Schwindelerkrankung als ausreichend anerkannt.

Ferner hat das SG zutreffend darauf abgestellt, dass für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" bei Anfallsleiden auf die Art und Häufigkeit der Anfälle sowie auf die Tageszeit des Auftretens abzustellen ist. Im Allgemeinen ist auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit erst ab einer mittleren Anfallshäufigkeit zu schließen, wenn die Anfälle überwiegend am Tage auftreten (std. Rspr., vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 16.11.2011, L 11 SB 67/09, Juris Rn. 36). Bei epileptisch bedingten Anfällen ist von einer mittleren Anfallshäufigkeit auszugehen bei "generalisierten [großen] und komplex-fokalen Anfällen mit Pausen von (nur) Wochen oder bei kleinen bzw. einfach-fokalen Anfällen mit Pausen von (nur) Tagen" (vgl. Teil B Nr. 3.1 VMG). Entsprechendes gilt für Art und Häufigkeit psychogen bedingter Anfälle.

b) Vor diesem Hintergrund erfüllt der Kläger zwar die Eingangsvoraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G". Es besteht ein Anfallsleiden mit Sturzgefahr im Sinne von § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX. Die Anfälle und die Sturzgefahr an sich hat keiner der Behandler in Frage gestellt, auch wenn sie bislang nicht von Dritten bestätigt worden sind; auch der Gerichtssachverständige Dr. M. hat in seinem Gutachten vom 16.09.2013 grundsätzliche Zweifel nicht geäußert, sondern dissoziative Krampfanfälle nach F44.5 der ICD-10 als gesicherte Diagnose genannt (sein Hinweis auf eine Dysthymia als Differenzialdiagnose bezieht sich offensichtlich nur auf die ebenfalls diagnostizierte rezidivierende depressive Störung, nicht aber auf die Anfallskrankheit). Die Anfälle selbst, die der Kläger geschildert hat, erreichen jedoch nach Art und Häufigkeit nicht jenes Ausmaß, das für das Merkzeichen "G" notwendig wäre. Sie treten nach wie vor mit durchschnittlichen Pausen von Monaten, nicht aber von Wochen oder gar Tagen, auf. Insbesondere bemerkt der Kläger ihr Herannahen. Er kann daher noch reagieren, um eine Gefährdung abzuwenden. Hierbei reicht es aus, dass er während des Zufußgehens ausreichend reagieren kann, weil das Merkzeichen "G" auf die Bewegungsfähigkeit zu Fuß abstellt. Es genügt daher, dass ihm soviel Zeit verbleibt, dass er sich auf den Boden setzen oder legen kann, bevor der Anfall zu einem Sturz führt. Dass während des Autofahrens womöglich eine größere Gefahr für sich und andere besteht, weil die Zeit zum Reagieren nicht ausreichen könnte, ist für das Merkzeichen "G" nicht erheblich. Sofern sich die Anfälle häufen oder inhaltlich verändern sollten - dies deutet der Kläger in seinem Schriftsatz vom 21.01.2013 an und dies hat er auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat beschrieben -, können ggfs. später die Voraussetzungen des Merkzeichens erreicht sein, frühestens jedoch nach sechs Monaten (vgl. den Gedanken des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX).

2. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG.

3. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) bestanden nicht.
Rechtskraft
Aus
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