L 3 AL 2070/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 3 AL 6612/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 AL 2070/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 30. April 2014 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Insolvenzgeld (Insg); primär streiten die Beteiligten darum, ob die Beklagte den klägerischen Widerspruch zu Recht als unzulässig verworfen hat.

Die Klägerin war mit bis zum 31.01.2012 befristetem Arbeitsvertrag als Tänzerin und Sängerin bei E.S. beschäftigt. Sie erstritt vor dem Arbeitsgericht M. das Versäumnisurteil vom 08.08.2011. Der ehemalige Arbeitgeber wurde verurteilt, an die Klägerin für die Abrechnungszeiträume Juni 2010 bis Mai 2011 Arbeitsentgelt von EUR 3.148,00 zu zahlen. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien vom 25.11.2009 über den 31.01.2011 hinaus fortbesteht. In diesem Rechtsstreit war die Klägerin in Begleitung eines Rechtsanwalts erschienen. Die Klägerin hat aus diesem Versäumnisurteil bereits teilweise erfolgreich vollstreckt. Ab 31.01.2012 ist die Klägerin bei der B. D. in M. beschäftigt.

Über das Vermögen des ehemaligen Arbeitgebers der Klägerin, E.S., wurde mit Beschluss des Amtsgerichts M. vom 30.07.2012 (1506 IN 1447/12) ab diesem Tage das Insolvenzverfahren eröffnet. Die Klägerin meldete ihre offenen Lohnansprüche dem Verwalter. Dieser teilte ihr unter dem 31.10.2012 mit, dass sie Insg - nur - bei der Beklagten beantragen könne und die dafür bestehende Ausschlussfrist bereits am 30.09.2012 abgelaufen sei, weswegen die Klägerin dort einen Antrag auf nachträgliche Zulassung ihres Antrags stellen müsse.

Am 12.11.2012 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Insg. In der Anlage zum Antrag gab sie an, sie mache Ersatz für Arbeitsentgelt für Juni 2010 bis Mai 2011 in Höhe von EUR 3.148,00 abzüglich bereits geleisteter Zahlungen geltend.

Mit Bescheid vom 23.07.2013 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Laut Auskunft des Verwalters sei eine Tätigkeit der Klägerin für den insolventen Arbeitgeber nicht durch Unterlagen nachgewiesen. Insofern bestünden auch keine über Insg berücksichtigungsfähigen offenen Arbeitsentgeltansprüche. Diesem Bescheid war eine Rechtsbehelfsbelehrung angehängt. In dieser wurde auf die Widerspruchsfrist von einem Monat nach Bekanntgabe des Bescheids hingewiesen.

Die Klägerin legte am 13.09.2013 Widerspruch gegen den Bescheid ein. Sie machte geltend, sie sei sehr wohl bei E.S. beschäftigt gewesen. Der Verwalter teilte der Beklagten unter dem 26.09.2013 mit, es sei zweifelhaft, dass der Zeitraum, für den das Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts Lohnansprüche zuerkannt habe, mit dem Insolvenzzeitraum übereinstimme; das tatsächliche Ende des Arbeitsverhältnisses sei unbekannt.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11.11.2013 als unzulässig zurück. Er sei nicht binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Ablehnungsbescheids vom 23.07.2013 erhoben worden. Dieser gelte als am dritten Tage nach Aufgabe zur Post zugegangen. Die Widerspruchsfrist sei demnach am 26.08.2013 abgelaufen. Der Widerspruch sei aber erst am 13.09.2013 erhoben worden.

Die Klägerin hat am 22.11.2013 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben. Zur Sache hat sie angegeben, sie sie habe einen Anspruch auf Zahlung von 3.148,00 EUR abzüglich bereits gezahlter Zahlungen für den Zeitraum Juni 2010 bis Mai 2011. Zur möglichen Verfristung des Widerspruchs hat sie vorgetragen, sie habe jeglichen Schriftwechsel mit der Beklagten zusammen mit ihrem Sozialarbeiter Herrn Hegel abgefasst, ihres Wissens sei der Widerspruch rechtzeitig geschrieben worden, hilfsweise beantrage sie Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Während des Verfahrens hat sie ihren Vortrag dahin konkretisiert, ihr Sozialarbeiter sei in der fraglichen Zeit im Urlaub gewesen; sie selbst habe wegen mangelnder Deutschkenntnisse das Ablehnungsschreiben nicht verstanden, deshalb habe sie erst verspätet reagieren können. Hierzu hat sie ein Schreiben dieses Sozialarbeiters, eines Mitarbeiters der Internationalen Beratungsstelle der E. G., vorgelegt, in dem dieser mitgeteilt hat, er sei vom 23.07. bis 08.09.2013 abwesend gewesen.

In einem Erörterungstermin am 05.03.2014 hat das SG die Klägerin im Beisein eines Dolmetschers angehört. Wegen des Ergebnisses wird auf die Niederschrift verwiesen.

Mit Gerichtsbescheid vom 30.04.2014 hat das SG die Klage als unzulässig abgewiesen. Es sei nicht das notwendige ordnungsgemäße Vorverfahren durchgeführt worden. Der Widerspruch sei verfristet gewesen. Der Klägerin könne auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Widerspruchsfrist gewährt werden. Ihr fehle es nicht an hinreichenden Deutschkenntnissen. Sie habe selbst die Klage zum SG erhoben. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren habe sie sich durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen, es sei nicht ersichtlich, warum sie nicht auch in diesem Verfahren einen Rechtsanwalt konsultiert habe. Im Erörterungstermin habe sich das SG davon überzeugen können, dass die Klägerin gut deutsch spreche und verstehe. Ein Anspruch auf Wiedereinsetzung bestehe aber auch unabhängig von den Sprachkenntnissen nicht. Auch in diesem Falle beständen Sorgfaltsobliegenheiten in der Wahrung der eigenen Rechte. Die Klägerin habe nicht alles unternommen, was ihr möglich und zumutbar gewesen sei. Selbst wenn sie bei der (schriftlichen) Einlegung des Widerspruchs Hilfe benötigt hätte, so wäre es ihr beispielsweise möglich gewesen, den Widerspruch bei der Beklagten zur Niederschrift zu erklären.

Am 09.05.2014 hat die Klägerin - auf der Geschäftsstelle und ohne Hinzuziehung eines Dolmetschers - Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Sie trägt vor, ihre Deutschkenntnisse seien nicht gut. Sie habe nicht verstanden, dass sie binnen eines Monats habe Widerspruch einlegen müssen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 30. April 2014 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 23. Juli 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. November 2013 zu verurteilen, ihr für Juni 2010 bis Mai 2011 Insolvenzgeld nach den gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Berichterstatter des Senats hat die Klägerin unter dem 26.06.2014 auf die Rechtslage hingewiesen und auch auf die Möglichkeit, bestandskräftige Bescheide einer Überprüfung zu unterziehen. Die Klägerin hat darauf nicht reagiert. Auf die Ladung zur mündlichen Verhandlung hat mit Schriftsatz vom 30.09.2014, eingegangen am 06.10.2014, mitgeteilt, sie werde nicht erscheinen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte trotz der Abwesenheit der Klägerin verhandeln und entscheiden. Die Klägerin war ordnungsgemäß geladen und auf die Möglichkeit einer Entscheidung in ihrer Abwesenheit hingewiesen worden. Sie hatte unter dem 30.09.2014 mitgeteilt, nicht zu erscheinen, weil sie befürchte, ansonsten ihre neue Arbeitsstelle zu verlieren. Diese Mitteilung enthielt keinen Verlegungsantrag (vgl. zur Auslegung solcher Prozesshandlungen Bundessozialgericht [BSG], Beschl. v. 12.04.2000, B 9 VG 11/99 B, Juris Rn. 6 m.w.N.), sodass der Senat nicht mitteilen musste, er werde gleichwohl verhandeln und entscheiden.

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg. Sie ist zwar statthaft (§ 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 143 Sozialgerichtsgesetz [SGG]), da die Klägerin um mehr als EUR 750,00 beschwert ist (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG), und auch im Übrigen zulässig, insbesondere formgerecht zur Niederschrift und fristgerecht binnen eines Monats nach Zustellung des angegriffenen Gerichtsbescheids erhoben (§ 151 Abs. 1 SGG). Sie ist aber nicht begründet.

Allerdings war die Klage zulässig. § 78 Abs. 1 SGG verlangt nur, dass ein Vorverfahren durchgeführt worden ist. Nötig sind die Erhebung eines Widerspruchs gegen einen Verwaltungsakt und der Erlass eines zurückweisenden Widerspruchsbescheids (vgl. Leitherer, in: Meyer-Lade¬wig/Kel¬ler/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 78 Rn. 2). Aus welchen Gründen der Widerspruch erfolglos bleibt, ist insoweit unerheblich. Weist eine Behörde den Widerspruch als unzulässig zurück, weil er verfristet ist und Wiedereinsetzung nicht gewährt wird, wird der Ausgangsbescheid bestandskräftig und bindend (§ 77 SGG). In einem gleichwohl nachfolgenden Gerichtsverfahren ist die Anfechtungsklage gegen diesen Bescheid dann als unbegründet zurückzuweisen (Leitherer, a.a.O., § 84 Rn. 8), wenn sich die Ansicht der Behörde als zutreffend erweist.

Aus diesem Grunde ist die Klage der Klägerin unbegründet. Der Ablehnungsbescheid ist bindend, weil die Klägerin ihn nicht binnen eines Monats nach der Bekanntgabe am 26.07.2013, also bis zum 26.08.2013, mit Widerspruch angefochten hat. Dass sie die Widerspruchsfrist nicht habe einhalten können, hat die Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren und erneut in der Berufungsbegründung selbst eingeräumt, insbesondere hat sie nicht den Erhalt des Ablehnungsbescheids vom 23.07.2013 zu dem von der Beklagten angenommenen Termin am 26.07.2013 bestritten. Die Beklagte hat auch zu Recht keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt. Die Klägerin hatte die Widerspruchsfrist nicht ohne Verschulden (§ 67 Abs. 1 SGG) versäumt. Zur Begründung hierfür verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des SG in dem angegriffenen Gerichtsbescheid (§ 153 Abs. 2 SGG). Zu ergänzen ist Folgendes: selbst wenn ein Versicherter - sei es wegen mangelnder Deutschkenntnisse oder Lesefähigkeiten, sei es wegen der Schwierigkeit bestimmter Formulierungen - ein amtliches Schriftstück, das schon nach seinem äußeren Erscheinungsbild für wichtig gehalten werden muss, nicht versteht, obliegt es ihm zumindest, bei der Behörde um Erläuterung zu bitten. Insbesondere wenn gerade ein Verwaltungsverfahren anhängig ist, weil der Versicherte selbst einen Antrag gestellt hat, muss er wegen eines solchen Schriftstücks zumindest bei der Behörde nachfragen, was dieses Schreiben bedeutet und ob ggfs. Fristen laufen, die er beachten muss. Die Behörde ist dann zu einer zutreffenden Beratung verpflichtet (§§ 13 bis 15 Erstes Buch Sozialgesetzbuch [SGB I]). Diese Anforderungen an die Sorgfaltsobliegenheiten eines Versicherten sind auch im Hinblick auf die Prozessgrundrechte (Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz [GG]) nicht überzogen; zumal in Sozialverwaltungsverfahren jederzeit ein Überprüfungsverfahren nach § 44 Abs. 1 oder Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) eingeleitet werden kann, in dem ggfs. für bis zu vier Jahre zurück bestandskräftig, aber zu Unrecht abgelehnte Zahlungsansprüche noch durchgesetzt werden können (§ 44 Abs. 4 SGB X).

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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