Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
13
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 5 AS 1749/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 AS 4299/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 6. Oktober 2014 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtliche Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.
Tatbestand:
Streitgegenstand ist die Aufforderung des Beklagten an den Kläger, eine geminderte Altersrente zu beantragen.
Der 1950 geborene Kläger (und Berufungsbeklagte; im Folgenden: Kläger) steht im Leistungsbezug beim Beklagten (und Berufungskläger; im Folgenden: Beklagter). Am 14. April 2014 stellte er einen Weiterbewilligungsantrag. Mit Bescheid vom gleichen Tag bewilligte der Beklagte Leistungen für die Zeit vom 1. Juni bis 30. November 2014 in Höhe von monatlich 711 EUR (391 EUR Regelbedarf und 320 EUR Kosten der Unterkunft).
Der Kläger pflegt seine pflegebedürftige Mutter. Die A. (Pflegeversicherung; im Folgenden: Pflegekasse) hat für ihn Rentenversicherungsbeiträge abgeführt: 2011 für beitragspflichtige Einnahmen in Höhe von 8.176 EUR und 2012 für beitragspflichtige Einnahmen in Höhe von 8.400 EUR. Nach der Rentenauskunft der DRV Bund vom 2. April 2014 würde er eine monatliche Regelaltersrente von 390,76 EUR erhalten, wenn bis zum Erreichen der Regelaltersrente (RAR) Beiträge wie im Durchschnitt der letzten fünf Jahre gezahlt würden; von 380,01 EUR, wenn der Berechnung ausschließlich die bisher gespeicherten rentenrechtlichen Zeiten sowie der bis zum 30. Juni 2014 maßgebende aktuelle Rentenwert zugrunde gelegt würde. Der früheste Rentenbeginn sei der 1. Oktober 2013; frühester Rentenbeginn für eine abschlagsfreie Rente der 1. Oktober 2015. Die vorzeitige Inanspruchnahme führe zu einer Minderung der Rente um 7,2 %.
Mit Bescheid vom 23. April 2014 forderte der Beklagte den Kläger zur Beantragung einer geminderten Altersrente spätestens bis zum 10. Mai 2014 auf. Für den Fall, dass die Voraussetzungen für eine geminderte Altersrente nicht bzw. erst zu einem späteren Zeitpunkt vorlägen, werde er gebeten, eine entsprechende Bescheinigung des zuständigen Leistungsträgers vorzulegen. Der Kläger sei gesetzlich verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, wenn dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Außerdem sei der Beklagte berechtigt, den Antrag ersatzweise für den Kläger zu stellen, wenn dessen Antragstellung nicht umgehend erfolgt.
Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 14. Mai 2014 Widerspruch ein. Er machte geltend, durch die vorzeitige Inanspruchnahme der Rente müsse er finanzielle Einbußen hinnehmen. Da er seine Mutter pflege, führe die Pflegekasse für ihn Rentenversicherungsbeiträge ab. Außerdem stelle er seine Arbeitskraft bis zum Beginn der regulären Rente ohne Abzüge am 1. Oktober 2015 zur Verfügung.
Mit Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2014 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Es stehe in seinem Ermessen, einen Hilfeempfänger zur Beantragung einer vorrangigen Sozialleistung aufzufordern. Hierbei sei auf die Unbilligkeitsverordnung des BMAS abzustellen, die für die vorzeitige Inanspruchnahme von Altersrente vier Fälle als unbillig wiedergebe. Für den Kläger komme nur der Fall in Betracht, dass er als Hilfebedürftiger in nächster Zukunft Altersrente abschlagsfrei in Anspruch nehmen könnte. Das Ermessen werde dahingehend ausgeübt, dass bei Abwägung des grundsätzlichen Nachranges der SGB II-Leistungen und dem Interesse des Klägers an einer abschlagsfreien Rente die Aufforderung zur sofortigen Antragstellung auszusprechen sei. Anderenfalls würden die gesetzlichen Wertungen unterlaufen. Im Übrigen sei die Rente mit und ohne Abschläge so gering, dass der Kläger ohnehin weiter auf öffentliche Fürsorgeleistungen angewiesen sein werde.
Hiergegen hat sich der Kläger mit der am 22. Mai 2014 zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhobenen Klage gewendet. Zur Begründung hat er im wesentlichen seinen Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt.
Das SG hat nach mündlicher Verhandlung mit Urteil vom 6. Oktober 2014 die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, nach § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II könnten die Leistungsträger, sofern Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen bei einem anderen Träger nicht stellen, anstelle des Leistungsberechtigten den Antrag selber stellen sowie Rechtsbehelf und Rechtsmittel einlegen. Gemäß § 12a Abs. 1 S. 1 SGB II seien Leistungsberechtigte verpflichtet, Soziallleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung des Hilfebedarfs erforderlich sei. Gemäß § 12a Abs. 1 S. Nr. 1 SGB II seien abweichend davon Leistungsberechtigte nicht verpflichtet, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorrangig in Anspruch zu nehmen. Hieraus folge, dass sowohl die Stellung des Antrags anstelle des Leistungsempfängers, als auch die Aufforderung, einen derartigen Antrag zu stellen, im Ermessen des Leistungsträgers stehe, so das SG unter Hinweis auf SG Duisburg, Beschluss vom 28. Januar 2013, S 25 AS 4787/12 ER; LSG Nordrhein Westfalen, Beschluss vom 12. Juni 2012, L 7 AS 916/12 B ER; Beschluss vom 1. Februar 2010, L 19 B 371/09 AS ER; LSG Hessen, Beschluss vom 24. Mai 2011, L 7 AS 88/11 B ER.
Diese Ermessensentscheidung habe der Beklagte nicht ordnungsgemäß im Sinne der genannten Ermessensvorschrift getroffen. Es liege eine Ermessensunterschreitung durch unzureichende Ermessenserwägungen vor, weil der Beklagte rechtsfehlerhaft davon ausgegangen sei, die Ausnahmetatbestände nach der Unbilligkeitsverordnung seien abschließend, so dass sonstige Umstände nicht zu einer Unbilligkeit der Aufforderung führen könnten.
Ermächtigungsgrundlage für die Unbilligkeitsverordnung sei § 13 Abs. 2 SGB II. § 1 Unbilligkeitsverordnung umschreibe ganz allgemein, dass Leistungsberechtigte auch nach Vollendung des 63. Lebensjahres entgegen § 12a SGB II nicht verpflichtet seien, eine Altersrente vorzeitig in Anspruch zu nehmen, wenn die Inanspruchnahme unbillig wäre. Das Kriterium "unbillig" sei mithin ermessensleitend im Hinblick auf die Erwägungen des Grundsicherungsträgers bei der Entscheidung, ob der Leistungsberechtigte zur Beantragung der Altersrente aufgefordert werden solle. Die Aufzählung in der Unbilligkeitsverordnung (Verlust des Anspruchs auf Arbeitslosengeld I - § 2; bevorstehende abschlagsfreie Altersrente - § 3; Erwerbstätigkeit - § 4, und bevorstehende Erwerbstätigkeit - § 5) sei nicht abschließend, sodass auch nicht aufgeführte Unbilligkeitsfälle möglich seien. Es handele sich um Regelbeispiele bzw. um eine systematische Hilfestellung für die vorzunehmende Einzelfallbetrachtung der Gesamtsituation des Leistungsberechtigten, so die in der Literatur vertretenen Auffassungen.
Gemäß § 39 Abs. 1 SGB I seien die Leistungsträger verpflichtet, bei der Entscheidung über Sozialleistungen, wenn diese in ihrem Ermessen stehe, ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens bestehe ein Anspruch (§ 39 Abs. 1 S 2 SGB I). Die Entscheidung nach §§ 5 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 12a SGB II müsse - vermittelt durch die nach § 35 SGB X erforderliche Begründung - erkennen lassen, dass der Ermessensspielraum erkannt und genutzt wurde (anderenfalls: Ermessensnichtgebrauch), dass sämtliche, aber auch ausschließlich die nach dem Zweck des § 5 Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 12a S. 1 SGB II relevanten Gesichtspunkte ermittelt und berücksichtigt wurden (anderenfalls: Ermessensunter- oder -Überschreitung) und welche Abwägung stattgefunden hat (anderenfalls: Ermessensmissbrauch). Fehle es an einem der genannten Kriterien, sei die Ermessensentscheidung rechtswidrig, was gemäß § 54 Abs. 2 S. 2 SGG der sozialgerichtlichen Überprüfung unterliege (Hengelhaupt, a.a.O., § 12a Rdnr. 199). Danach sei etwa auch zu berücksichtigen, dass die zu beantragende Leistung bei späterer Antragstellung in nächster Zukunft höher ausfallen würde, weil weitere Anwartschaftszeiten sich nicht nur unerheblich auswirken würden.
Hier habe der Beklagte nur das generelle Interesse des Klägers an einer abschlagsfreien Rente berücksichtigt und festgestellt, dass dieses nach der gesetzlichen Wertung als weniger gewichtig angesehen wird. Er habe nicht berücksichtigt, dass der Kläger bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Rente weitere Beitragszeiten und damit Anwartschaften einbüße. Er habe auch deren Höhe und die voraussichtliche Höhe der ungeminderten RAR nicht ermittelt, wozu angesichts des Widerspruchsvorbringens des Klägers Anlass bestand habe.
Gegen das ihm am 10. Oktober 2014 zugestellte Urteil vom 6. Oktober hat der Beklagte mit Schreiben vom 15. Oktober 2014 Berufung eingelegt. Dem Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2014 seien - entgegen den Ausführungen des SG- umfangreiche Ermessenserwägungen zu entnehmen. Es treffe zwar zu, dass die im Raume stehenden Rentenabschläge bislang nicht im Detail beziffert worden seien; ferner auch, dass die mit einer Einstellung der Beitragsleistung (Pflegekasse) verbundenen Renteneinbuße nicht präzise festgestellt worden sei. Beide Aspekte (Rentenabschläge und "Ausfall" beim Erwerb künftiger Anwartschaften) seien vorliegend jedoch nicht von Belang. Auch wenn der Kläger die RAR ohne Abschläge- nach Erreichen der Regelaltersgrenze- in Anspruch nehmen würde, könnte er allenfalls mit einer monatlichen Regelleistung von ca. 380,00 EUR rechnen. Selbst wenn man zu Gunsten des Klägers unterstellen würde, dass bis dahin (Oktober 2015) die Pflegekasse weiterhin Beiträge für den Kläger erbringt, wäre damit nur ein unwesentliches Anwachsen dieser Rentenanwartschaft verbunden. In jedem Fall werde der Kläger künftig - nach Erreichen der Regelaltersgrenze- wirtschaftlich bedürftig bleiben, d.h. er werde dann Leistungen der Sozialhilfe (vermutlich also Grundsicherung nach dem IV. Kapitel SGB XII) in Anspruch nehmen müssen. Weil jedoch die Rentenleistung in jedem Fall durch Sozialhilfeleistungen aufgestockt werden müsse, sei die Höhe der Rentenleistung nicht ausschlaggebend. Eventuelle Rentenabschläge seien genauso wenig relevant wie ein unterbleibender Zuwachs bei den Rentenanwartschaften für den Fall, dass die Pflegekasse ihre bisherige Beitragsleistung einstellt. Im Rahmen einer Ermessensentscheidung sei es nicht erforderlich, Aspekte ausführlich zu thematisieren, denen in der Lebenswirklichkeit überhaupt keine Bedeutung zukomme.
Der Beklagte und Berufungskläger beantragt,
das Urteil des Sozialgericht Karlsruhe vom 6. Oktober 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger und Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verweist im Wesentlichen auf den Inhalt der erstinstanzlichen Entscheidung und die Auffassung, dass die Aufzählung der Regelbeispiele gerade nicht abschließend sei. Eine konkrete und umfassende Einzelfallbetrachtung werde dadurch nicht entbehrlich. Die Ausführungen des Berufungsklägers seien geradezu zynisch, denn für den Kläger sei es von erheblichem Interesse, ob und in welchem Umfang er Leistungen erhalte, die er selbst "erdient" habe (Rente) und auf welche er ergänzend angewiesen sei. Zumindest die konkreten Zahlen hätten vor dem Fällen einer solchen Entscheidung ermittelt werden müssen. Zudem habe sich die Rentenanwartschaft auch wegen der Neubewertung von Erziehungszeiten ("Mütterrente") erhöht.
Bei der Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente könnten vom Kläger auch keine ergänzenden Leistungen nach §§ 16ff. SGB II mehr in Anspruch genommen werden. Noch habe der Kläger eine bis nächsten Herbst 2015 gültige Eingliederungsvereinbarung mit dem Jobcenter abgeschlossen. Wenn das Kriterium der künftigen Hilfebedürftigkeit eine ernstliche Rolle spiele, so hätte ebenfalls berücksichtigt werden müssen, dass dem Berufungsbeklagten nach dem Verlust von Leistungen nach dem SGB II nach dem Recht des Landes Baden-Württemberg ein Anspruch auf Gewährung von Wohngeld zustehen würde. Man müsse sich vergegenwärtigen, dass der Kläger augenblicklich 711 EUR erhalte und es ihm tatsächlich gelinge, hiervon auch zu leben. Seine eigenen persönlichen Ansprüche habe er in jeder Hinsicht heruntergeschraubt. Unter Umständen könnte ihm dies vielleicht sogar mit Bezug einer ungeminderten Altersrente und dem Bezug von Wohngeld weiterhin gelingen. Dies wäre zumindest zu ermitteln gewesen. Weiterhin wäre nach Auffassung des Klägers zu berücksichtigen, dass die vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente auch Auswirkungen auf die Hinzuverdienstgrenzen habe. So könne nach Erreichen der RAR ohne Anrechnung hinzuverdient werden; dies sei nicht der Fall bei der vorzeitigen Inanspruchnahme. Auch dieser Gesichtspunkt sei nicht gewürdigt worden. Der Kläger schließt sich im Übrigen den für zutreffend erachteten Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils an.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung erteilt (Schreiben vom 24. November 2014 und 9. Dezember 2014).
Wegen des weiteren Vorbringens und der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakten des Beklagten sowie auf die Prozessakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte, nachdem sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben, gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Die gemäß den §§ 143, 144, 151 SGG zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet. Die Entscheidung des SG Karlsruhe ist zutreffend. Die Bescheide des Beklagten waren aufzuheben, denn sie sind rechtwidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten. Er hat Anspruch darauf, dass im Falle einer Aufforderung zur Rentenantragstellung sämtliche von ihm genannte Aspekte zumindest in die Erwägungen der Ermessensprüfung vor Bescheiderlass einfließen.
Streitgegenstand ist der Bescheid vom 23. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Mai 2014. Mit diesem wird der Kläger zur Beantragung vorrangiger Leistungen, mithin einer Beantragung einer geminderten Altersrente bei der DRV Bund, aufgefordert. Da der Kläger sich strikt gegen eine solche Aufforderung wendet, ist zutreffende Klageart die Anfechtungsklage. Da es ihm nicht um eine Neubescheidung, sei es mit konkretem Ausspruch oder unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts geht, scheidet eine darüber hinaus gehende Verpflichtungsklage aus.
Dies hat das SG in nicht zu beanstandender Würdigung der Sach- und Rechtslage nachvollziehbar und ausführlich begründet im angegriffenen Urteil dargelegt und der Klage daher zutreffend stattgegeben. Der Senat nimmt auf die diesbezüglichen Ausführungen des SG zur Vermeidung von Wiederholungen gem. § 153 Abs. 2 SGG Bezug, macht sich diese aufgrund eigener Überzeugungsbildung vollinhaltlich zu eigen und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe weitestgehend ab.
Im Hinblick auf das Vorbringen im Berufungsverfahren ist lediglich ergänzend sowie zum anzuwendenden Rechtsmaßstab folgendes auszuführen:
Anhaltspunkte dafür, dass sich vorliegend ausnahmsweise die Wahlmöglichkeit des Beklagten auf eine einzige Alternative reduziert, weil alle anderen Entscheidungen ermessensfehlerhaft wären (sog. Ermessensreduzierung auf Null), liegen nicht vor (so auch S. Knickrehm/Hahn in: Eicher, SGB II, 3. Aufl., § 12a Rdnr. 10). Eine solche Ermessensreduzierung auf Null kommt bei erheblichen Gefahren für wesentliche Rechtsgüter in Betracht; daneben kann sich eine solche Ermessensreduzierung auch durch die Einwirkung von Grundrechten und sonstigen Verfassungssätzen ergeben. Solches Verfassungsrecht wie auch erhebliche Gefahren für wesentliche Rechtsgüter sind vorliegend nicht ersichtlich. Die Entscheidungsoptionen des Beklagten waren nicht auf eine einzige denkbare Entscheidung verdichtet.
Verbleibt dem Beklagten demnach sein ihm gesetzlich eingeräumte Ermessensspielraum in vollem Umfang, so hat sich die gerichtliche Überprüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes auf die Frage zu beschränken, ob der Beklagte bei der Ermessensbetätigung die Grenzen seins Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Eine weitergehende Inhaltskontrolle findet durch den Senat nicht statt (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Eine Berücksichtigung einer ermessenslenkenden (Verwaltungs) - Vorschrift wie hier der UnbilligkeitsVO durch den Beklagten begegnet zwar keinen grundsätzlichen Bedenken. Die Bestimmung einer einheitlichen Handhabung des Ermessens der nachgeordneten Behörden durch Verwaltungsrichtlinien einer vorgesetzten Behörde ist rechtlich unbedenklich; denn das Ermessen ist nicht nur der einzelnen Behörde, sondern auch "der Verwaltung" eingeräumt, um dieser einen Handlungsspielraum zur Entwicklung eigener Entscheidungsprogramme und -maßstäbe zu gewähren (Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl., § 7 Rdnr. 14). Darüber hinaus kommt eine solche generelle Ermessensausübung durch Ermessensrichtlinien dem Grundsatz der Gleichbehandlung entgegen (Maurer a.a.O.). Das ihm eingeräumte Ermessen gerade auch im hier zu entscheidenden Fall hat des Beklagten ausweislich der Ausführungen im angefochtenen Bescheid vom 23. April 2014 sowie mit weiteren Ausführungen im Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2014 zwar erkannt. Aus den vom SG genannten Gründen hat er sich jedoch auf die dort aufgezählten Fälle beschränkt, die allerdings nach zutreffender Auffassung des SG nicht abschließend sind und lediglich exemplarischen Charakter haben.
Dabei hat der Beklagte bei jeder Aufforderung eine Abwägung zwischen den Interessen des Leistungsbeziehers einerseits an einer zu seinen Gunsten möglichst späten Realisierung des Rentenbegehrens und andererseits des öffentlichen Interesses des subsidiären SGB II-Bezugs zu beachten.
Ein Ermessensfehlgebrauch liegt vor, wenn die Behörde bei der Ausübung des Ermessens die gesetzlichen Zielvorstellungen nicht beachtet oder die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gesichtspunkte nicht hinreichend in ihre Erwägungen miteinbezieht (Ermessensunterschreitung). Ein solcher letztgenannter Ermessensfehler liegt hier vor. Das legitime Interesse der Klägers, zwischen aus eigener Beitragszeit erwirtschafteten Rentenleistung sowie staatsfinanzierten aufstockenden Sozialleistungen zu differenzieren, rührt nicht nur an die unterschiedliche rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung dieser Zahlungen. Zutreffend weist der Kläger auf die unterschiedliche Anknüpfungsbasis der Höhe für weitere Sozialleistungen bzw. deren Verrechnung hin.
Ferner ist etwa auch zu berücksichtigen, dass die zu beantragende Leistung bei späterer Antragstellung in nächster Zukunft höher ausfallen würde, weil weitere Anwartschaftszeiten sich nicht nur unerheblich auswirken (S. Knickrehm/Hahn in: Eicher, SGB II, 3. Aufl., § 12a Rdnr. 10). Im Hinblick auf die Neubewertung von Erziehungszeiten zum 1. Juli 2014 ("Mütterrente") ist vom Kläger auch konkret dargetan, woher eine etwaige Erhöhung des Rentenzahlbetrags herrühren kann. Da hier ein Betrag von mehreren Dutzend Euro in Betracht kommt, sind die Auswirkungen auch nicht nur unerheblich. Eine genauere Berechnung ist dabei zumindest nicht Aufgabe des Senats.
Auch die Auswirkungen auf die Hinzuverdienstgrenzen als Unterschied zwischen einer vorzeitigen und einer regulären Inanspruchnahme der Altersrente sind angesichts des dauerhaften Charakters erheblich. Ob der Kläger dann tatsächlich auch dauerhaft einer Aufstockung bedarf, wenn er Wohngeld bezieht bzw. sich einen Hinzuverdienst erschließt, wäre unter Berücksichtigung gleich mehrerer der zuvor genannten Faktoren zumindest konkret zu berechnen gewesen.
Der Beklagte hat sein Ermessen somit vorliegend nicht rechtsfehlerfrei ausgeübt.
Da das angefochtene Urteil nicht zu beanstanden ist, weist Senat die Berufung des Beklagten zurück.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Im Rahmen des dem Senat nach § 193 SGG eingeräumten Ermessens war für den Senat maßgeblich, dass die Klägerin mit ihrer Rechtsverfolgung keinen Erfolg hatte. Der Senat hält es auch im Falle einer Zurückweisung des Rechtsmittels für erforderlich, nicht nur über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zu entscheiden, sondern auch über die Kosten der vorausgehenden Instanz (so Lüdtke, Kommentar zum SGG, 4. Aufl., § 197a SGG Rdnr. 3; erkennender Senat, Urteil vom 19. November 2013, L 13 R 1662/12, veröffentlicht in Juris; a.A. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 11. Auflage, § 193 SGG Rdnr. 2a; Hintz/Lowe, Kommentar zum SGG, § 193 SGG Rdnr. 11; Jansen, Kommentar zum SGG, 4. Auflage, § 193 SGG Rdnr. 4).
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtliche Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.
Tatbestand:
Streitgegenstand ist die Aufforderung des Beklagten an den Kläger, eine geminderte Altersrente zu beantragen.
Der 1950 geborene Kläger (und Berufungsbeklagte; im Folgenden: Kläger) steht im Leistungsbezug beim Beklagten (und Berufungskläger; im Folgenden: Beklagter). Am 14. April 2014 stellte er einen Weiterbewilligungsantrag. Mit Bescheid vom gleichen Tag bewilligte der Beklagte Leistungen für die Zeit vom 1. Juni bis 30. November 2014 in Höhe von monatlich 711 EUR (391 EUR Regelbedarf und 320 EUR Kosten der Unterkunft).
Der Kläger pflegt seine pflegebedürftige Mutter. Die A. (Pflegeversicherung; im Folgenden: Pflegekasse) hat für ihn Rentenversicherungsbeiträge abgeführt: 2011 für beitragspflichtige Einnahmen in Höhe von 8.176 EUR und 2012 für beitragspflichtige Einnahmen in Höhe von 8.400 EUR. Nach der Rentenauskunft der DRV Bund vom 2. April 2014 würde er eine monatliche Regelaltersrente von 390,76 EUR erhalten, wenn bis zum Erreichen der Regelaltersrente (RAR) Beiträge wie im Durchschnitt der letzten fünf Jahre gezahlt würden; von 380,01 EUR, wenn der Berechnung ausschließlich die bisher gespeicherten rentenrechtlichen Zeiten sowie der bis zum 30. Juni 2014 maßgebende aktuelle Rentenwert zugrunde gelegt würde. Der früheste Rentenbeginn sei der 1. Oktober 2013; frühester Rentenbeginn für eine abschlagsfreie Rente der 1. Oktober 2015. Die vorzeitige Inanspruchnahme führe zu einer Minderung der Rente um 7,2 %.
Mit Bescheid vom 23. April 2014 forderte der Beklagte den Kläger zur Beantragung einer geminderten Altersrente spätestens bis zum 10. Mai 2014 auf. Für den Fall, dass die Voraussetzungen für eine geminderte Altersrente nicht bzw. erst zu einem späteren Zeitpunkt vorlägen, werde er gebeten, eine entsprechende Bescheinigung des zuständigen Leistungsträgers vorzulegen. Der Kläger sei gesetzlich verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, wenn dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Außerdem sei der Beklagte berechtigt, den Antrag ersatzweise für den Kläger zu stellen, wenn dessen Antragstellung nicht umgehend erfolgt.
Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 14. Mai 2014 Widerspruch ein. Er machte geltend, durch die vorzeitige Inanspruchnahme der Rente müsse er finanzielle Einbußen hinnehmen. Da er seine Mutter pflege, führe die Pflegekasse für ihn Rentenversicherungsbeiträge ab. Außerdem stelle er seine Arbeitskraft bis zum Beginn der regulären Rente ohne Abzüge am 1. Oktober 2015 zur Verfügung.
Mit Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2014 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Es stehe in seinem Ermessen, einen Hilfeempfänger zur Beantragung einer vorrangigen Sozialleistung aufzufordern. Hierbei sei auf die Unbilligkeitsverordnung des BMAS abzustellen, die für die vorzeitige Inanspruchnahme von Altersrente vier Fälle als unbillig wiedergebe. Für den Kläger komme nur der Fall in Betracht, dass er als Hilfebedürftiger in nächster Zukunft Altersrente abschlagsfrei in Anspruch nehmen könnte. Das Ermessen werde dahingehend ausgeübt, dass bei Abwägung des grundsätzlichen Nachranges der SGB II-Leistungen und dem Interesse des Klägers an einer abschlagsfreien Rente die Aufforderung zur sofortigen Antragstellung auszusprechen sei. Anderenfalls würden die gesetzlichen Wertungen unterlaufen. Im Übrigen sei die Rente mit und ohne Abschläge so gering, dass der Kläger ohnehin weiter auf öffentliche Fürsorgeleistungen angewiesen sein werde.
Hiergegen hat sich der Kläger mit der am 22. Mai 2014 zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhobenen Klage gewendet. Zur Begründung hat er im wesentlichen seinen Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt.
Das SG hat nach mündlicher Verhandlung mit Urteil vom 6. Oktober 2014 die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, nach § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II könnten die Leistungsträger, sofern Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen bei einem anderen Träger nicht stellen, anstelle des Leistungsberechtigten den Antrag selber stellen sowie Rechtsbehelf und Rechtsmittel einlegen. Gemäß § 12a Abs. 1 S. 1 SGB II seien Leistungsberechtigte verpflichtet, Soziallleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung des Hilfebedarfs erforderlich sei. Gemäß § 12a Abs. 1 S. Nr. 1 SGB II seien abweichend davon Leistungsberechtigte nicht verpflichtet, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorrangig in Anspruch zu nehmen. Hieraus folge, dass sowohl die Stellung des Antrags anstelle des Leistungsempfängers, als auch die Aufforderung, einen derartigen Antrag zu stellen, im Ermessen des Leistungsträgers stehe, so das SG unter Hinweis auf SG Duisburg, Beschluss vom 28. Januar 2013, S 25 AS 4787/12 ER; LSG Nordrhein Westfalen, Beschluss vom 12. Juni 2012, L 7 AS 916/12 B ER; Beschluss vom 1. Februar 2010, L 19 B 371/09 AS ER; LSG Hessen, Beschluss vom 24. Mai 2011, L 7 AS 88/11 B ER.
Diese Ermessensentscheidung habe der Beklagte nicht ordnungsgemäß im Sinne der genannten Ermessensvorschrift getroffen. Es liege eine Ermessensunterschreitung durch unzureichende Ermessenserwägungen vor, weil der Beklagte rechtsfehlerhaft davon ausgegangen sei, die Ausnahmetatbestände nach der Unbilligkeitsverordnung seien abschließend, so dass sonstige Umstände nicht zu einer Unbilligkeit der Aufforderung führen könnten.
Ermächtigungsgrundlage für die Unbilligkeitsverordnung sei § 13 Abs. 2 SGB II. § 1 Unbilligkeitsverordnung umschreibe ganz allgemein, dass Leistungsberechtigte auch nach Vollendung des 63. Lebensjahres entgegen § 12a SGB II nicht verpflichtet seien, eine Altersrente vorzeitig in Anspruch zu nehmen, wenn die Inanspruchnahme unbillig wäre. Das Kriterium "unbillig" sei mithin ermessensleitend im Hinblick auf die Erwägungen des Grundsicherungsträgers bei der Entscheidung, ob der Leistungsberechtigte zur Beantragung der Altersrente aufgefordert werden solle. Die Aufzählung in der Unbilligkeitsverordnung (Verlust des Anspruchs auf Arbeitslosengeld I - § 2; bevorstehende abschlagsfreie Altersrente - § 3; Erwerbstätigkeit - § 4, und bevorstehende Erwerbstätigkeit - § 5) sei nicht abschließend, sodass auch nicht aufgeführte Unbilligkeitsfälle möglich seien. Es handele sich um Regelbeispiele bzw. um eine systematische Hilfestellung für die vorzunehmende Einzelfallbetrachtung der Gesamtsituation des Leistungsberechtigten, so die in der Literatur vertretenen Auffassungen.
Gemäß § 39 Abs. 1 SGB I seien die Leistungsträger verpflichtet, bei der Entscheidung über Sozialleistungen, wenn diese in ihrem Ermessen stehe, ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens bestehe ein Anspruch (§ 39 Abs. 1 S 2 SGB I). Die Entscheidung nach §§ 5 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 12a SGB II müsse - vermittelt durch die nach § 35 SGB X erforderliche Begründung - erkennen lassen, dass der Ermessensspielraum erkannt und genutzt wurde (anderenfalls: Ermessensnichtgebrauch), dass sämtliche, aber auch ausschließlich die nach dem Zweck des § 5 Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 12a S. 1 SGB II relevanten Gesichtspunkte ermittelt und berücksichtigt wurden (anderenfalls: Ermessensunter- oder -Überschreitung) und welche Abwägung stattgefunden hat (anderenfalls: Ermessensmissbrauch). Fehle es an einem der genannten Kriterien, sei die Ermessensentscheidung rechtswidrig, was gemäß § 54 Abs. 2 S. 2 SGG der sozialgerichtlichen Überprüfung unterliege (Hengelhaupt, a.a.O., § 12a Rdnr. 199). Danach sei etwa auch zu berücksichtigen, dass die zu beantragende Leistung bei späterer Antragstellung in nächster Zukunft höher ausfallen würde, weil weitere Anwartschaftszeiten sich nicht nur unerheblich auswirken würden.
Hier habe der Beklagte nur das generelle Interesse des Klägers an einer abschlagsfreien Rente berücksichtigt und festgestellt, dass dieses nach der gesetzlichen Wertung als weniger gewichtig angesehen wird. Er habe nicht berücksichtigt, dass der Kläger bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Rente weitere Beitragszeiten und damit Anwartschaften einbüße. Er habe auch deren Höhe und die voraussichtliche Höhe der ungeminderten RAR nicht ermittelt, wozu angesichts des Widerspruchsvorbringens des Klägers Anlass bestand habe.
Gegen das ihm am 10. Oktober 2014 zugestellte Urteil vom 6. Oktober hat der Beklagte mit Schreiben vom 15. Oktober 2014 Berufung eingelegt. Dem Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2014 seien - entgegen den Ausführungen des SG- umfangreiche Ermessenserwägungen zu entnehmen. Es treffe zwar zu, dass die im Raume stehenden Rentenabschläge bislang nicht im Detail beziffert worden seien; ferner auch, dass die mit einer Einstellung der Beitragsleistung (Pflegekasse) verbundenen Renteneinbuße nicht präzise festgestellt worden sei. Beide Aspekte (Rentenabschläge und "Ausfall" beim Erwerb künftiger Anwartschaften) seien vorliegend jedoch nicht von Belang. Auch wenn der Kläger die RAR ohne Abschläge- nach Erreichen der Regelaltersgrenze- in Anspruch nehmen würde, könnte er allenfalls mit einer monatlichen Regelleistung von ca. 380,00 EUR rechnen. Selbst wenn man zu Gunsten des Klägers unterstellen würde, dass bis dahin (Oktober 2015) die Pflegekasse weiterhin Beiträge für den Kläger erbringt, wäre damit nur ein unwesentliches Anwachsen dieser Rentenanwartschaft verbunden. In jedem Fall werde der Kläger künftig - nach Erreichen der Regelaltersgrenze- wirtschaftlich bedürftig bleiben, d.h. er werde dann Leistungen der Sozialhilfe (vermutlich also Grundsicherung nach dem IV. Kapitel SGB XII) in Anspruch nehmen müssen. Weil jedoch die Rentenleistung in jedem Fall durch Sozialhilfeleistungen aufgestockt werden müsse, sei die Höhe der Rentenleistung nicht ausschlaggebend. Eventuelle Rentenabschläge seien genauso wenig relevant wie ein unterbleibender Zuwachs bei den Rentenanwartschaften für den Fall, dass die Pflegekasse ihre bisherige Beitragsleistung einstellt. Im Rahmen einer Ermessensentscheidung sei es nicht erforderlich, Aspekte ausführlich zu thematisieren, denen in der Lebenswirklichkeit überhaupt keine Bedeutung zukomme.
Der Beklagte und Berufungskläger beantragt,
das Urteil des Sozialgericht Karlsruhe vom 6. Oktober 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger und Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verweist im Wesentlichen auf den Inhalt der erstinstanzlichen Entscheidung und die Auffassung, dass die Aufzählung der Regelbeispiele gerade nicht abschließend sei. Eine konkrete und umfassende Einzelfallbetrachtung werde dadurch nicht entbehrlich. Die Ausführungen des Berufungsklägers seien geradezu zynisch, denn für den Kläger sei es von erheblichem Interesse, ob und in welchem Umfang er Leistungen erhalte, die er selbst "erdient" habe (Rente) und auf welche er ergänzend angewiesen sei. Zumindest die konkreten Zahlen hätten vor dem Fällen einer solchen Entscheidung ermittelt werden müssen. Zudem habe sich die Rentenanwartschaft auch wegen der Neubewertung von Erziehungszeiten ("Mütterrente") erhöht.
Bei der Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente könnten vom Kläger auch keine ergänzenden Leistungen nach §§ 16ff. SGB II mehr in Anspruch genommen werden. Noch habe der Kläger eine bis nächsten Herbst 2015 gültige Eingliederungsvereinbarung mit dem Jobcenter abgeschlossen. Wenn das Kriterium der künftigen Hilfebedürftigkeit eine ernstliche Rolle spiele, so hätte ebenfalls berücksichtigt werden müssen, dass dem Berufungsbeklagten nach dem Verlust von Leistungen nach dem SGB II nach dem Recht des Landes Baden-Württemberg ein Anspruch auf Gewährung von Wohngeld zustehen würde. Man müsse sich vergegenwärtigen, dass der Kläger augenblicklich 711 EUR erhalte und es ihm tatsächlich gelinge, hiervon auch zu leben. Seine eigenen persönlichen Ansprüche habe er in jeder Hinsicht heruntergeschraubt. Unter Umständen könnte ihm dies vielleicht sogar mit Bezug einer ungeminderten Altersrente und dem Bezug von Wohngeld weiterhin gelingen. Dies wäre zumindest zu ermitteln gewesen. Weiterhin wäre nach Auffassung des Klägers zu berücksichtigen, dass die vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente auch Auswirkungen auf die Hinzuverdienstgrenzen habe. So könne nach Erreichen der RAR ohne Anrechnung hinzuverdient werden; dies sei nicht der Fall bei der vorzeitigen Inanspruchnahme. Auch dieser Gesichtspunkt sei nicht gewürdigt worden. Der Kläger schließt sich im Übrigen den für zutreffend erachteten Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils an.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung erteilt (Schreiben vom 24. November 2014 und 9. Dezember 2014).
Wegen des weiteren Vorbringens und der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakten des Beklagten sowie auf die Prozessakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte, nachdem sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben, gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Die gemäß den §§ 143, 144, 151 SGG zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet. Die Entscheidung des SG Karlsruhe ist zutreffend. Die Bescheide des Beklagten waren aufzuheben, denn sie sind rechtwidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten. Er hat Anspruch darauf, dass im Falle einer Aufforderung zur Rentenantragstellung sämtliche von ihm genannte Aspekte zumindest in die Erwägungen der Ermessensprüfung vor Bescheiderlass einfließen.
Streitgegenstand ist der Bescheid vom 23. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Mai 2014. Mit diesem wird der Kläger zur Beantragung vorrangiger Leistungen, mithin einer Beantragung einer geminderten Altersrente bei der DRV Bund, aufgefordert. Da der Kläger sich strikt gegen eine solche Aufforderung wendet, ist zutreffende Klageart die Anfechtungsklage. Da es ihm nicht um eine Neubescheidung, sei es mit konkretem Ausspruch oder unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts geht, scheidet eine darüber hinaus gehende Verpflichtungsklage aus.
Dies hat das SG in nicht zu beanstandender Würdigung der Sach- und Rechtslage nachvollziehbar und ausführlich begründet im angegriffenen Urteil dargelegt und der Klage daher zutreffend stattgegeben. Der Senat nimmt auf die diesbezüglichen Ausführungen des SG zur Vermeidung von Wiederholungen gem. § 153 Abs. 2 SGG Bezug, macht sich diese aufgrund eigener Überzeugungsbildung vollinhaltlich zu eigen und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe weitestgehend ab.
Im Hinblick auf das Vorbringen im Berufungsverfahren ist lediglich ergänzend sowie zum anzuwendenden Rechtsmaßstab folgendes auszuführen:
Anhaltspunkte dafür, dass sich vorliegend ausnahmsweise die Wahlmöglichkeit des Beklagten auf eine einzige Alternative reduziert, weil alle anderen Entscheidungen ermessensfehlerhaft wären (sog. Ermessensreduzierung auf Null), liegen nicht vor (so auch S. Knickrehm/Hahn in: Eicher, SGB II, 3. Aufl., § 12a Rdnr. 10). Eine solche Ermessensreduzierung auf Null kommt bei erheblichen Gefahren für wesentliche Rechtsgüter in Betracht; daneben kann sich eine solche Ermessensreduzierung auch durch die Einwirkung von Grundrechten und sonstigen Verfassungssätzen ergeben. Solches Verfassungsrecht wie auch erhebliche Gefahren für wesentliche Rechtsgüter sind vorliegend nicht ersichtlich. Die Entscheidungsoptionen des Beklagten waren nicht auf eine einzige denkbare Entscheidung verdichtet.
Verbleibt dem Beklagten demnach sein ihm gesetzlich eingeräumte Ermessensspielraum in vollem Umfang, so hat sich die gerichtliche Überprüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes auf die Frage zu beschränken, ob der Beklagte bei der Ermessensbetätigung die Grenzen seins Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Eine weitergehende Inhaltskontrolle findet durch den Senat nicht statt (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Eine Berücksichtigung einer ermessenslenkenden (Verwaltungs) - Vorschrift wie hier der UnbilligkeitsVO durch den Beklagten begegnet zwar keinen grundsätzlichen Bedenken. Die Bestimmung einer einheitlichen Handhabung des Ermessens der nachgeordneten Behörden durch Verwaltungsrichtlinien einer vorgesetzten Behörde ist rechtlich unbedenklich; denn das Ermessen ist nicht nur der einzelnen Behörde, sondern auch "der Verwaltung" eingeräumt, um dieser einen Handlungsspielraum zur Entwicklung eigener Entscheidungsprogramme und -maßstäbe zu gewähren (Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl., § 7 Rdnr. 14). Darüber hinaus kommt eine solche generelle Ermessensausübung durch Ermessensrichtlinien dem Grundsatz der Gleichbehandlung entgegen (Maurer a.a.O.). Das ihm eingeräumte Ermessen gerade auch im hier zu entscheidenden Fall hat des Beklagten ausweislich der Ausführungen im angefochtenen Bescheid vom 23. April 2014 sowie mit weiteren Ausführungen im Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2014 zwar erkannt. Aus den vom SG genannten Gründen hat er sich jedoch auf die dort aufgezählten Fälle beschränkt, die allerdings nach zutreffender Auffassung des SG nicht abschließend sind und lediglich exemplarischen Charakter haben.
Dabei hat der Beklagte bei jeder Aufforderung eine Abwägung zwischen den Interessen des Leistungsbeziehers einerseits an einer zu seinen Gunsten möglichst späten Realisierung des Rentenbegehrens und andererseits des öffentlichen Interesses des subsidiären SGB II-Bezugs zu beachten.
Ein Ermessensfehlgebrauch liegt vor, wenn die Behörde bei der Ausübung des Ermessens die gesetzlichen Zielvorstellungen nicht beachtet oder die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gesichtspunkte nicht hinreichend in ihre Erwägungen miteinbezieht (Ermessensunterschreitung). Ein solcher letztgenannter Ermessensfehler liegt hier vor. Das legitime Interesse der Klägers, zwischen aus eigener Beitragszeit erwirtschafteten Rentenleistung sowie staatsfinanzierten aufstockenden Sozialleistungen zu differenzieren, rührt nicht nur an die unterschiedliche rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung dieser Zahlungen. Zutreffend weist der Kläger auf die unterschiedliche Anknüpfungsbasis der Höhe für weitere Sozialleistungen bzw. deren Verrechnung hin.
Ferner ist etwa auch zu berücksichtigen, dass die zu beantragende Leistung bei späterer Antragstellung in nächster Zukunft höher ausfallen würde, weil weitere Anwartschaftszeiten sich nicht nur unerheblich auswirken (S. Knickrehm/Hahn in: Eicher, SGB II, 3. Aufl., § 12a Rdnr. 10). Im Hinblick auf die Neubewertung von Erziehungszeiten zum 1. Juli 2014 ("Mütterrente") ist vom Kläger auch konkret dargetan, woher eine etwaige Erhöhung des Rentenzahlbetrags herrühren kann. Da hier ein Betrag von mehreren Dutzend Euro in Betracht kommt, sind die Auswirkungen auch nicht nur unerheblich. Eine genauere Berechnung ist dabei zumindest nicht Aufgabe des Senats.
Auch die Auswirkungen auf die Hinzuverdienstgrenzen als Unterschied zwischen einer vorzeitigen und einer regulären Inanspruchnahme der Altersrente sind angesichts des dauerhaften Charakters erheblich. Ob der Kläger dann tatsächlich auch dauerhaft einer Aufstockung bedarf, wenn er Wohngeld bezieht bzw. sich einen Hinzuverdienst erschließt, wäre unter Berücksichtigung gleich mehrerer der zuvor genannten Faktoren zumindest konkret zu berechnen gewesen.
Der Beklagte hat sein Ermessen somit vorliegend nicht rechtsfehlerfrei ausgeübt.
Da das angefochtene Urteil nicht zu beanstanden ist, weist Senat die Berufung des Beklagten zurück.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Im Rahmen des dem Senat nach § 193 SGG eingeräumten Ermessens war für den Senat maßgeblich, dass die Klägerin mit ihrer Rechtsverfolgung keinen Erfolg hatte. Der Senat hält es auch im Falle einer Zurückweisung des Rechtsmittels für erforderlich, nicht nur über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zu entscheiden, sondern auch über die Kosten der vorausgehenden Instanz (so Lüdtke, Kommentar zum SGG, 4. Aufl., § 197a SGG Rdnr. 3; erkennender Senat, Urteil vom 19. November 2013, L 13 R 1662/12, veröffentlicht in Juris; a.A. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 11. Auflage, § 193 SGG Rdnr. 2a; Hintz/Lowe, Kommentar zum SGG, § 193 SGG Rdnr. 11; Jansen, Kommentar zum SGG, 4. Auflage, § 193 SGG Rdnr. 4).
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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