Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 2 AS 40/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 397/15 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 28.01.2015 aufgehoben und festgestellt, dass die Klage gegen den Bescheid vom 22.12.2014 aufschiebende Wirkung hat.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung gewährt und Rechtsanwalt W., F., beigeordnet.
Gründe:
I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtschutzes gegen eine Entziehung der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Mit Bescheid vom 24.10.2014 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 644,18 EUR (Regelleistung 391,00 EUR, Kosten der Unterkunft 253,18 EUR) für die Zeit vom 01.12.2014 bis 31.05.2015. Mit Bescheiden vom 31.10.2014 und 01.12.2014 minderte der Antragsgegner die Leistungen um sechs mal 10 % für Monate Dezember 2014 bis Februar 2015, da der Kläger zu insgesamt sechs Meldeterminen von August bis Oktober 2014 trotz Belehrung über die Rechtsfolgen ohne wichtigen Grund nicht erschienen sei; hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 05.11.2014 und 01.12.2014 Widerspruch. Den Widerspruch wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 02.12.2014 zurück, nahm aber in Umsetzung eines Beschlusses des Sozialgerichts Reutlingen (SG) vom 12.12.2014 (S 2 AS 2837/14 ER) mit Bescheid vom 22.12.2014 die Hälfte der Minderung zurück. Mit Bescheid vom 11.12.2014 bewilligte der Antragsgegner Kosten der Unterkunft in Höhe von 287,50 EUR.
Am 21.011.2014 erließ der Antragsgegner einen Verwaltungsakt als Ersatz für eine Eingliederungsvereinbarung (Eingliederungsverwaltungsakt), da der Antragsteller sich nicht bereit erklärt hatte, eine Eingliederungsvereinbarung abzuschließen. Im Eingliederungsverwaltungsakt wurde festgelegt, dass der Antragsteller an einer psychologischen Untersuchung teilnehmen werde. Der Eingliederungsverwaltungsakt wurde dem Antragsteller am 01.12.2014 übergeben. Ebenfalls am 01.12.2014 wurde dem Antragsteller ein Schreiben übergeben, worin er darauf hingewiesen wurde, dass er verpflichtet sei, an einer psychologischen Untersuchung teilzunehmen, da ohne diese Untersuchung nicht festgestellt werden könne, ob und inwieweit ein Leistungsanspruch bestehe. Es wurde darauf hingewiesen, dass bei fehlender Mitwirkung die Leistungen vollständig versagt würden.
Am 18.12.2014 erschien der Antragsteller beim Berufspsychologischen Service der Agentur für Arbeit. Im Gespräch teilte der Antragsteller mit, nicht gewusst zu haben, dass er zum Berufspsychologischen Service geschickt werde. Deshalb wurde auf Grund der fehlenden Arbeitsbasis keine Untersuchung durchgeführt.
Mit Bescheid vom 22.12.2014 entzog der Antragsgegner dem Antragsteller die Leistungen ab 01.01.2015 ganz. Der Antragsteller sei darüber informiert worden, dass eine psychologische Untersuchung zur Eignungsfeststellung bzw. zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit erforderlich sei. Er sei auf die Rechtfolgen fehlender Mitwirkung hingewiesen worden. Es lägen keine Gründe vor, die im Rahmen einer Ermessensentscheidung zugunsten des Antragstellers hätten berücksichtigt werden können. Gegen den Bescheid erhob der Antragsteller mit Schreiben vom 24.12.2014 Widerspruch, den der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 09.01.2015 zurückwies. Die hiergegen am 02.01.2015 erhobene Klage hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 27.01.2015 abgewiesen (S 2 AS 41/15). Gegen den Gerichtsbescheid hat der Antragsteller am 03.02.2015 Berufung eingelegt (L 12 AS 398/15).
Am 02.01.2015 hat der Antragsteller beim SG einstweiligen Rechtschutz beantragt. Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom 28.01.2015 abgelehnt, da auf Grund des Gerichtsbescheides vom 27.01.2015 keine Klage mehr existiere, deren aufschiebende Wirkung angeordnet werden könne, so dass das Rechtsschutzbedürfnis fehle.
Gegen den Beschluss wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde. Sein Interesse an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung überwiege das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung. Der Entziehungsbescheid sei offensichtlich rechtswidrig. Dies ergebe sich bereits aus den widersprüchlichen Rechtsfolgenbelehrungen. Im Eingliederungsverwaltungsakt sei als Sanktion eine Minderung von 10 % genannt, in der Einladung zum Termin sei eine Minderung von 10 % vorgesehen.
Der Antragsteller beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 28.01.2015 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 22.12.2014 – betreffend den Entzug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes – und der Berufung gegen den Gerichtsbescheid vom 27.01.2015 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten des Antragsgegners, auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die Akten im Verfahren S 2 AS 41/15 und L 12 AS 398/15 Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg (1). Darüber hinaus ist ihm Prozesskostenhilfe zu gewähren (2).
1. Beschwerdeverfahren
Die unter Beachtung der Vorschrift des § 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig, insbesondere wäre im Hinblick auf die geltend gemachten Leistungen auch in der Hauptsache die Berufung zulässig, da die Berufungssumme von 750,00 EUR überschritten würde (§ 172 Absatz 3 Nummer 1 SGG).
Zu Unrecht hat das SG den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz als unzulässig wegen der am Tag zuvor ergangenen Entscheidung im Hauptsacheverfahren angesehen. Denn die durch Erhebung der Klage eingetretene Rechtshängigkeit der Streitsache (§ 94 SGG) endet erst mit Eintritt der formellen Rechtskraft (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 94 Rn. 4). Der Gerichtsbescheid vom 27.01.2015 war aber am 28.01.2015 noch nicht rechtskräftig. Damit war auch der mit der Klage angefochtene Verwaltungsakt noch nicht bestandskräftig und ein Antrag auf Anordnung oder Feststellung der aufschiebenden Wirkung noch zulässig und nicht wegen einer "nicht mehr existierenden" Klage unzulässig geworden (vgl. Leitherer a.a.O. § 86b Rn. 7).
Der Antragsteller beantragt im Beschwerdeverfahren die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs und der Berufung. § 86b SGG nennt im Zusammenhang mit der aufschiebenden Wirkung den Widerspruch und die Anfechtungsklage. Maßgebend ist - nach Klageerhebung, die hier erfolgt ist - die Klage; sie bleibt maßgebend, d.h. es geht um ihre aufschiebende Wirkung, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens, also auch noch im Rechtsmittelverfahren (Leitherer a.a.O § 86b Rn. 19). Der Antrag ist hier entsprechend auszulegen.
Entgegen der Ansicht des Antragstellers ist allerdings nicht die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 86b Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 SGG anzuordnen, sondern ihre aufschiebende Wirkung festzustellen.
Nach § 86b Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 SGG kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Ein solcher Fall ist vorliegend nicht gegeben, da der Widerspruch bzw. die Klage gegen den Entziehungsbescheid bereits von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung hat.
Nach § 86a Absatz 1 Satz 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung entfällt jedoch u.a. in den durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen (§ 86a Absatz 2 Nummer 4 SGG). Entgegen der Auffassung der Beteiligten entfällt die Wirkung hier nicht nach § 39 Nummer 1 SGB II (in der ab 01.04.2011 geltenden Fassung des Regelbedarfsermittlungsgesetzes vom 24.03.2011, BGBl I, S. 453). Danach haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt keine aufschiebende Wirkung, der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufhebt, zurücknimmt, widerruft, die Pflichtverletzung und die Minderung des Auszahlungsanspruchs feststellt oder Leistungen zur Eingliederung in Arbeit oder Pflichten erwerbsfähiger Leistungsberechtigter bei der Eingliederung in Arbeit regelt. Hierunter ist eine Entziehung nach § 66 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) nicht (mehr) zu fassen.
Für die frühere Fassung des § 39 Nummer 1 SGB II, wonach die aufschiebende Wirkung entfiel bei einem Verwaltungsakt, der "Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende ... herabsetzt", war noch umstritten, ob eine Entziehung nach § 66 SGB I erfasst war, da der Wortlaut "herabsetzt" zumindest sprachlich auch eine Entziehung nach § 66 SGB I umfassen konnte (vgl. u.a. BayLSG, Beschluss vom 11.04.2011 - L 7 AS 214/11 B ER -, aufgegeben u.a. durch BayLSG, Beschluss vom 12.04.2012 – L 7 AS 222/12 B ER –, juris).
In der ab 01.04.2011 geltenden Fassung wurde jedoch die Wendung "Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende ... herabsetzt" ersetzt durch "die Pflichtverletzung und die Minderung des Auszahlungsanspruchs feststellt". Diese Formulierung bezieht sich nach dem Wortlaut und ausweislich der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 17/3404, S. 114) auf Sanktionen nach §§ 31 ff SGB II. Damit enthält die abschließende Aufzählung in § 39 Nummer 1 SGB II nunmehr nur noch präzise Fachbegriffe des Verwaltungsverfahrensrechts (aufhebt, zurücknimmt, widerruft), ohne die Entziehung nach § 66 SGB I zu nennen. Dass eine Entziehung nach § 66 SGB I nicht (mehr) erfasst ist, ergibt sich auch aus einem Vergleich von § 86a Absatz 2 Nummer 2 SGG mit § 39 Nummer 1 SGB II. Nach § 86a Absatz 2 Nummer 2 SGG entfällt u.a. bei Verwaltungsakten der Agentur für Arbeit, die eine laufende Leistung entziehen, die aufschiebende Wirkung; während dort also die Entziehung konkret genannt wird, fehlt eine solche Erwähnung in § 39 Nummer 1 SGB II. Eine erweiternde Auslegung des § 39 Nummer 1 SGB II ist angesichts des Ausnahmecharakters dieser Vorschrift nicht möglich (BayLSG, Beschluss vom 12.04.2012 – L 7 AS 222/12 B ER –, juris; wohl auch Aubel, in: jurisPK-SGB II, 3. Aufl. 2012, § 39 Rn. 13.1; Kallert, in Gagel, SGB II / SGB III, Stand 55. Ergänzungslieferung 2014, SGB II § 39 Rn. 18a).
Die kraft Gesetzes bestehende aufschiebende Wirkung ist durch einen deklaratorischen Beschluss analog § 86b Absatz 1 Satz 1 SGG festzustellen, da die Behörde diese nicht anerkennt (vgl. Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O. § 86b Rn. 15). Insoweit war der Antrag in einen Antrag auf (deklatorische) Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nach § 86b Absatz 1 SGG umzudeuten (vgl. Keller, a.a.O.).
2. Prozesskostenhilfe
Dem Antragsteller ist Prozesskostenhilfe (PKH) zu bewilligen.
Nach § 73a Absatz 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält PKH, wer nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne des § 114 ZPO verlangt eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit; dabei sind freilich keine überspannten Anforderungen zu stellen (vgl. Bundesverfassungsgericht NJW 1997, 2102, 2103).
Der Antragsteller ist nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung zu tragen, er bezieht Leistungen nach dem SGB II.
Der Antrag hat auch hinreichende Erfolgsaussicht, da die aufschiebende Wirkung der Klage festzustellen ist (s.o.).
3.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung gewährt und Rechtsanwalt W., F., beigeordnet.
Gründe:
I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtschutzes gegen eine Entziehung der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Mit Bescheid vom 24.10.2014 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 644,18 EUR (Regelleistung 391,00 EUR, Kosten der Unterkunft 253,18 EUR) für die Zeit vom 01.12.2014 bis 31.05.2015. Mit Bescheiden vom 31.10.2014 und 01.12.2014 minderte der Antragsgegner die Leistungen um sechs mal 10 % für Monate Dezember 2014 bis Februar 2015, da der Kläger zu insgesamt sechs Meldeterminen von August bis Oktober 2014 trotz Belehrung über die Rechtsfolgen ohne wichtigen Grund nicht erschienen sei; hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 05.11.2014 und 01.12.2014 Widerspruch. Den Widerspruch wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 02.12.2014 zurück, nahm aber in Umsetzung eines Beschlusses des Sozialgerichts Reutlingen (SG) vom 12.12.2014 (S 2 AS 2837/14 ER) mit Bescheid vom 22.12.2014 die Hälfte der Minderung zurück. Mit Bescheid vom 11.12.2014 bewilligte der Antragsgegner Kosten der Unterkunft in Höhe von 287,50 EUR.
Am 21.011.2014 erließ der Antragsgegner einen Verwaltungsakt als Ersatz für eine Eingliederungsvereinbarung (Eingliederungsverwaltungsakt), da der Antragsteller sich nicht bereit erklärt hatte, eine Eingliederungsvereinbarung abzuschließen. Im Eingliederungsverwaltungsakt wurde festgelegt, dass der Antragsteller an einer psychologischen Untersuchung teilnehmen werde. Der Eingliederungsverwaltungsakt wurde dem Antragsteller am 01.12.2014 übergeben. Ebenfalls am 01.12.2014 wurde dem Antragsteller ein Schreiben übergeben, worin er darauf hingewiesen wurde, dass er verpflichtet sei, an einer psychologischen Untersuchung teilzunehmen, da ohne diese Untersuchung nicht festgestellt werden könne, ob und inwieweit ein Leistungsanspruch bestehe. Es wurde darauf hingewiesen, dass bei fehlender Mitwirkung die Leistungen vollständig versagt würden.
Am 18.12.2014 erschien der Antragsteller beim Berufspsychologischen Service der Agentur für Arbeit. Im Gespräch teilte der Antragsteller mit, nicht gewusst zu haben, dass er zum Berufspsychologischen Service geschickt werde. Deshalb wurde auf Grund der fehlenden Arbeitsbasis keine Untersuchung durchgeführt.
Mit Bescheid vom 22.12.2014 entzog der Antragsgegner dem Antragsteller die Leistungen ab 01.01.2015 ganz. Der Antragsteller sei darüber informiert worden, dass eine psychologische Untersuchung zur Eignungsfeststellung bzw. zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit erforderlich sei. Er sei auf die Rechtfolgen fehlender Mitwirkung hingewiesen worden. Es lägen keine Gründe vor, die im Rahmen einer Ermessensentscheidung zugunsten des Antragstellers hätten berücksichtigt werden können. Gegen den Bescheid erhob der Antragsteller mit Schreiben vom 24.12.2014 Widerspruch, den der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 09.01.2015 zurückwies. Die hiergegen am 02.01.2015 erhobene Klage hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 27.01.2015 abgewiesen (S 2 AS 41/15). Gegen den Gerichtsbescheid hat der Antragsteller am 03.02.2015 Berufung eingelegt (L 12 AS 398/15).
Am 02.01.2015 hat der Antragsteller beim SG einstweiligen Rechtschutz beantragt. Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom 28.01.2015 abgelehnt, da auf Grund des Gerichtsbescheides vom 27.01.2015 keine Klage mehr existiere, deren aufschiebende Wirkung angeordnet werden könne, so dass das Rechtsschutzbedürfnis fehle.
Gegen den Beschluss wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde. Sein Interesse an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung überwiege das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung. Der Entziehungsbescheid sei offensichtlich rechtswidrig. Dies ergebe sich bereits aus den widersprüchlichen Rechtsfolgenbelehrungen. Im Eingliederungsverwaltungsakt sei als Sanktion eine Minderung von 10 % genannt, in der Einladung zum Termin sei eine Minderung von 10 % vorgesehen.
Der Antragsteller beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 28.01.2015 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 22.12.2014 – betreffend den Entzug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes – und der Berufung gegen den Gerichtsbescheid vom 27.01.2015 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten des Antragsgegners, auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die Akten im Verfahren S 2 AS 41/15 und L 12 AS 398/15 Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg (1). Darüber hinaus ist ihm Prozesskostenhilfe zu gewähren (2).
1. Beschwerdeverfahren
Die unter Beachtung der Vorschrift des § 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig, insbesondere wäre im Hinblick auf die geltend gemachten Leistungen auch in der Hauptsache die Berufung zulässig, da die Berufungssumme von 750,00 EUR überschritten würde (§ 172 Absatz 3 Nummer 1 SGG).
Zu Unrecht hat das SG den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz als unzulässig wegen der am Tag zuvor ergangenen Entscheidung im Hauptsacheverfahren angesehen. Denn die durch Erhebung der Klage eingetretene Rechtshängigkeit der Streitsache (§ 94 SGG) endet erst mit Eintritt der formellen Rechtskraft (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 94 Rn. 4). Der Gerichtsbescheid vom 27.01.2015 war aber am 28.01.2015 noch nicht rechtskräftig. Damit war auch der mit der Klage angefochtene Verwaltungsakt noch nicht bestandskräftig und ein Antrag auf Anordnung oder Feststellung der aufschiebenden Wirkung noch zulässig und nicht wegen einer "nicht mehr existierenden" Klage unzulässig geworden (vgl. Leitherer a.a.O. § 86b Rn. 7).
Der Antragsteller beantragt im Beschwerdeverfahren die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs und der Berufung. § 86b SGG nennt im Zusammenhang mit der aufschiebenden Wirkung den Widerspruch und die Anfechtungsklage. Maßgebend ist - nach Klageerhebung, die hier erfolgt ist - die Klage; sie bleibt maßgebend, d.h. es geht um ihre aufschiebende Wirkung, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens, also auch noch im Rechtsmittelverfahren (Leitherer a.a.O § 86b Rn. 19). Der Antrag ist hier entsprechend auszulegen.
Entgegen der Ansicht des Antragstellers ist allerdings nicht die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 86b Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 SGG anzuordnen, sondern ihre aufschiebende Wirkung festzustellen.
Nach § 86b Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 SGG kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Ein solcher Fall ist vorliegend nicht gegeben, da der Widerspruch bzw. die Klage gegen den Entziehungsbescheid bereits von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung hat.
Nach § 86a Absatz 1 Satz 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung entfällt jedoch u.a. in den durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen (§ 86a Absatz 2 Nummer 4 SGG). Entgegen der Auffassung der Beteiligten entfällt die Wirkung hier nicht nach § 39 Nummer 1 SGB II (in der ab 01.04.2011 geltenden Fassung des Regelbedarfsermittlungsgesetzes vom 24.03.2011, BGBl I, S. 453). Danach haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt keine aufschiebende Wirkung, der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufhebt, zurücknimmt, widerruft, die Pflichtverletzung und die Minderung des Auszahlungsanspruchs feststellt oder Leistungen zur Eingliederung in Arbeit oder Pflichten erwerbsfähiger Leistungsberechtigter bei der Eingliederung in Arbeit regelt. Hierunter ist eine Entziehung nach § 66 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) nicht (mehr) zu fassen.
Für die frühere Fassung des § 39 Nummer 1 SGB II, wonach die aufschiebende Wirkung entfiel bei einem Verwaltungsakt, der "Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende ... herabsetzt", war noch umstritten, ob eine Entziehung nach § 66 SGB I erfasst war, da der Wortlaut "herabsetzt" zumindest sprachlich auch eine Entziehung nach § 66 SGB I umfassen konnte (vgl. u.a. BayLSG, Beschluss vom 11.04.2011 - L 7 AS 214/11 B ER -, aufgegeben u.a. durch BayLSG, Beschluss vom 12.04.2012 – L 7 AS 222/12 B ER –, juris).
In der ab 01.04.2011 geltenden Fassung wurde jedoch die Wendung "Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende ... herabsetzt" ersetzt durch "die Pflichtverletzung und die Minderung des Auszahlungsanspruchs feststellt". Diese Formulierung bezieht sich nach dem Wortlaut und ausweislich der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 17/3404, S. 114) auf Sanktionen nach §§ 31 ff SGB II. Damit enthält die abschließende Aufzählung in § 39 Nummer 1 SGB II nunmehr nur noch präzise Fachbegriffe des Verwaltungsverfahrensrechts (aufhebt, zurücknimmt, widerruft), ohne die Entziehung nach § 66 SGB I zu nennen. Dass eine Entziehung nach § 66 SGB I nicht (mehr) erfasst ist, ergibt sich auch aus einem Vergleich von § 86a Absatz 2 Nummer 2 SGG mit § 39 Nummer 1 SGB II. Nach § 86a Absatz 2 Nummer 2 SGG entfällt u.a. bei Verwaltungsakten der Agentur für Arbeit, die eine laufende Leistung entziehen, die aufschiebende Wirkung; während dort also die Entziehung konkret genannt wird, fehlt eine solche Erwähnung in § 39 Nummer 1 SGB II. Eine erweiternde Auslegung des § 39 Nummer 1 SGB II ist angesichts des Ausnahmecharakters dieser Vorschrift nicht möglich (BayLSG, Beschluss vom 12.04.2012 – L 7 AS 222/12 B ER –, juris; wohl auch Aubel, in: jurisPK-SGB II, 3. Aufl. 2012, § 39 Rn. 13.1; Kallert, in Gagel, SGB II / SGB III, Stand 55. Ergänzungslieferung 2014, SGB II § 39 Rn. 18a).
Die kraft Gesetzes bestehende aufschiebende Wirkung ist durch einen deklaratorischen Beschluss analog § 86b Absatz 1 Satz 1 SGG festzustellen, da die Behörde diese nicht anerkennt (vgl. Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O. § 86b Rn. 15). Insoweit war der Antrag in einen Antrag auf (deklatorische) Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nach § 86b Absatz 1 SGG umzudeuten (vgl. Keller, a.a.O.).
2. Prozesskostenhilfe
Dem Antragsteller ist Prozesskostenhilfe (PKH) zu bewilligen.
Nach § 73a Absatz 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält PKH, wer nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne des § 114 ZPO verlangt eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit; dabei sind freilich keine überspannten Anforderungen zu stellen (vgl. Bundesverfassungsgericht NJW 1997, 2102, 2103).
Der Antragsteller ist nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung zu tragen, er bezieht Leistungen nach dem SGB II.
Der Antrag hat auch hinreichende Erfolgsaussicht, da die aufschiebende Wirkung der Klage festzustellen ist (s.o.).
3.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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