L 8 SB 1483/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 1 SB 4592/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 1483/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 12.03.2014 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten auch im Berufungsverfahren zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs (Merkzeichen) "G" (erhebliche Gehbehinderung) streitig.

Bei der 1953 geborenen Klägerin stellte das Versorgungsamt F. - Außenstelle R. - zuletzt mit Bescheid vom 02.12.1992 einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 seit dem 12.10.1992 fest (Bl. 114 der Verwaltungsakte). Dem lagen die Funktionsbehinderungen Verlust der Gebärmutter und der linken Anhangsgebilde, Endometriose (Teil-GdB 50); Deckplatteneinbruch des 12. Brustwirbelwirbelkörpers und degenerative Wirbelsäulenveränderungen mit brachio-cervical-Syndrom (Teil-GdB 20) und psychovegetative Labilität (Teil-GdB 30) zu Grunde. Den dagegen mit dem Ziel der Zuerkennung des Merkzeichens G eingelegten Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28.01.1993 als unbegründet zurück (Bl. 126 der Verwaltungsakte).

Die Klägerin beantragte am 04.01.2011 die Erhöhung des GdB sowie die Feststellung des Merkzeichens G. Zur Begründung machte sie Funktionsbeeinträchtigungen an beiden Knien, am Rücken sowie eine Borreliose geltend.

Der Beklagte zog Arztbriefe des Kreiskrankenhauses S. - Klinik für Chirurgie - vom 28.04.2005 (Diagnose: Verdacht auf beginnende Bakerzyste), vom 28.06.2005 (Diagnose: degenerative Meniskopathie des Innenmeniskushinterhorns), vom 22.02.2008 (Diagnose: LWS-Syndrom), vom 31.08.2010 (Diagnose: aktivierte Gonarthrose beidseits), einen OP-Bericht des Kreiskrankenhauses S. - Klinik für Allgemeine- und Unfallchirurgie - vom 27.06.2005 über eine arthroskopische Knorpelglättung/Arthroskopie/Meniskusteilresektion, einen mikrobiologischen-immunologischen Befund des Universitätsklinikums F. vom 19.12.2005, einen Arztbrief des Neurologen und Psychiaters Dr. B. vom 09.05.2008 (Diagnose: unklare Beinschmerzen rechts, neurologisch nicht sicher erklärlich), Arztbriefe des Orthopäden und Unfallchirurgen Dr. E. vom 08.09.2010 (Diagnosen: Zustand nach Kniegelenksverstauchung beidseits, Innenmeniskusschaden beidseits, aktivierte mediale Gonarthrose mit Zustand nach alter Innenbandverletzung links, Synovialzyste links sowie Kniegelenkserguss links mehr als rechts beidseits) und vom 10.01.2011 (Diagnosen: Kniegelenksverstauchung beidseits, Innenmeniskusschaden beidseits, aktivierte mediale Gonarthrose mit Zustand nach alter Innenbandverletzung links, Synovialzyste links, Kniegelenkserguss links mehr als rechts) sowie Arztbriefe der radiologischen Gemeinschaftspraxis Dr. Bü. und Kollegen vom 16.09.2010 (Beurteilung: entzündlich aktivierte mediale Gonarthrose links, ausgeprägte Chondromalazie vor allem der Femurolle bis Grad IV, degenerative Innenmeniskopathie mit Rissbildung bzw. Reruptur und Subluxation, reaktives Knochenmarködem vor allem auf Seiten der Femurrolle, Verdacht auf Lazeration der Knorpeldeckung des lateralen Tibiakopfes zentral, Chondropathia patellae mit bereits sekundären knöchernden Reaktionen knapp lateral des Patellafirst, begleitender Gelenkerguss mit Bakerzyste), vom 05.10.2010 (Beurteilung: degenerative Innenmeniskopathie, derzeit kleine Bakerzyste ohne Gelenkerguss, Hauptbefund: Bursitis der Bursa inf rapatellaris superficialis, Zustand nach Arthroskopien), einen Arztbrief des Chirurgen Dr. Su. vom 02.11.2010 (Diagnosen: Zustand nach Innenmeniskusteilresektion links, Chondromalazie Grad III bis IV, medialer Femurkondylus und Tibiaplateau sowie Chondromalazie Grad III Patellagleitlager mit Begleitsynovitis und multiplen freien Knorpeln sowie ausgedehnte Innenmeniskushinterhorn Pars media Reruptur links) bei (Bl. 142/162 der Verwaltungsakte).

Das Landratsamt L. - Fachbereich Soziales - Schwerbehinderung - (LRA) lehnte den Antrag auf Neufeststellung des GdB sowie Feststellung des Merkzeichens G auf der Grundlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. E. vom 14.03.2011 mit Bescheid vom 25.03.2011 ab (Bl. 163/165 der Verwaltungsakte).

Dagegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 30.03.2011 Widerspruch ein, zu dessen Begründung sie unter Bezugnahme auf einen beigefügten radiologischen Befundbericht des Dr. G. vom 23.02.2011 vortrug, ihr Gehvermögen sei so beeinträchtigt, dass sie keine langen Wegstrecken mehr gehen könne. Seit der letzten GdB-Feststellung vom 12.10.1992 habe sie sieben Operationen an beiden Knien gehabt, welche vom Beklagten bislang nicht erfasst seien. Sie leide unter Schmerzen und Schwellungen an den Knien und im gesamten Bein. Ferner verwies sie auf Beeinträchtigungen infolge einer Borrelioseinfektion.

Das LRA holte eine versorgungsärztliche Stellungnahme bei Dr. A. ein, welcher unter dem 24.05.2011 ein Teil-GdB von 50 für den Verlust der Gebärmutter und der linken Anhangsgebilde sowie Endometriose, ein Teil-GdB von 50 für die psychovegetative Labilität, einen Teil-GdB von 20 für degenerative Veränderungen der Wirbelsäule und Wirbelbruch am Brustwirbelkörper 12 und ein Teil-GdB von 20 für Knorpelschäden an beiden Kniegelenken vorschlug sowie den Gesamt-GdB mit 90 bewertete. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen G seien jedoch nicht erreicht, da die Funktionsstörungen der Lendenwirbelsäule und unteren Extremitäten nicht in dem geforderten schweren Maße ausgeprägt seien (Bl. 171 und 172 der Verwaltungsakte).

Mit Teil-Abhilfebescheid vom 06.06.2011 stellte das LRA bei der Klägerin einen GdB von 90 seit dem 04.01.2011 fest. Die Feststellung des Merkzeichens G wurde abgelehnt (Bl. 173 der Verwaltungsakte).

Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 14.06.2011 ließ die Klägerin vortragen, sie begehre nach wie vor die Feststellung eines GdB von 100 sowie des Merkzeichens G.

Das Regierungspräsidium S. - Landesversorgungsamt - wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 10.08.2011 als unbegründet zurück. Eine weitere Erhöhung des GdB als auf 90 lasse sich nicht begründen. Ferner lägen die Voraussetzungen für das Merkzeichen G nicht vor, da die sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule für sich allein keinen GdB von wenigstens 50 bedingten. Darüber hinaus seien die Funktionsbeeinträchtigungen der Klägerin an den unteren Gliedmaßen nicht mit einer Versteifung des Hüftgelenks, des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung vergleichbar. Keine der an den Beinen und an der Lendenwirbelsäule festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen wirke sich in besonderen Maße auf die Gehfähigkeit aus (Bl. 178 der Verwaltungsakte).

Hiergegen erhob die Klägerin am 23.08.2011 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) mit dem Ziel der Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen G. Sie sei in ihrer Bewegungsfähigkeit u. a. im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt und daher nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten bzw. Gefahren für sich oder andere in der Lage, Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen, die üblicherweise sonst noch zu Fuß erledigt werden könnten. Insbesondere wirkten sich die an den Beinen und der Lendenwirbelsäule festgestellten Beeinträchtigungen auf die Gehfähigkeit in besonderem Maße aus.

Das SG vernahm zunächst die die Klägerin behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf Bl. 20, 21/25 und 26/28 der SG-Akte Bezug genommen.

Der Allgemeinmediziner Dr. St. teilte dem SG am 04.11.2011 mit, er habe die Klägerin zuletzt am 29.10.2010 untersucht.

Der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. E. schrieb dem SG am 16.11.2011, die Klägerin leide unter einem Zustand nach Kniegelenksverstauchung beidseits, einem Innenmeniskusschaden links, einer aktivierten medialen Gonarthrose mit Zustand nach alter Innenbandverletzung links, einer Synovialzyste links sowie einem Kniegelenkserguss links mehr als rechts. Bezüglich des linken Kniegelenks schätzte Dr. E. den GdB auf 40. Der Klägerin sei das Zurücklegen einer Wegstrecke von circa einem Kilometer ohne Unterbrechung in ungefähr einer halben Stunde möglich.

Der Chirurg Dr. Su. sagte am 05.12.2011 aus, die Klägerin leide unter einer Varusgonarthrose links mit Ruhe- und Belastungsschmerzen, die Beweglichkeit sei auf 0-10-110 Grad eingeschränkt. Das Zurücklegen einer Wegstrecke von 2 Kilometern bei einer Gehdauer von etwa 30 Minuten sei auf Grund der Schmerzen bei Kniearthrose nicht möglich.

Ferner holte das SG von Amts wegen ein orthopädisches Fachgutachten bei dem Chefarzt der orthopädischen Chirurgie des Kreiskrankenhauses R. , Dr. Bi. , ein. Wegen des Ergebnisses des Beweisaufnahme wird auf Bl. 31/45 der SG-Akte Bezug genommen.

Im Gutachten vom 31.01.2012 diagnostizierte Dr. Bi. bei der Klägerin eine beidseitige Gonarthrose und dadurch bedingte deutliche funktionelle Einschränkungen, insbesondere Bewegungseinschränkungen im linken Kniegelenk bei nicht vollständiger Streckung und eingeschränkter Beugung (Streckung/Beugung 0-10-90 Grad) sowie belastungsabhängige Schmerzen an beiden Kniegelenken. Dadurch bedingt sei die schmerzfreie Gehstrecke verkürzt, sodass die Klägerin auf die Benutzung von 2 Gehstützen und die Einnahme von Analgetika angewiesen sei. Ferner leide die Klägerin unter einer Degeneration der Lendenwirbelsäule und Zustand nach Fakturen im Bereich der Brustwirbelsäule. Dr. Bi. schätzte den Teil-GdB sowohl für die degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule sowie den Zustand nach Brustwirbelbruch als auch für die Arthrose beider Kniegelenke bei Zustand nach mehreren Voroperationen beidseits auf 20. Die Wegstrecke, welche die Klägerin ohne erhebliche Schwierigkeiten oder Gefahren für sich oder andere zu Fuß und auf ihren beiden Gehstützen noch bewältigen könne, schätzte Dr. Bi. mit einem Kilometer ein. Das Zurücklegen einer Wegstrecke von 2 Kilometern in etwa einer halben Stunde hielt Dr. Bi. nicht für möglich.

Mit Gerichtsbescheid vom 12.03.2014 änderte das SG den Bescheid vom 25.03.2011 in der Fassung des Teil-Abhilfebescheids vom 06.06.2011 und in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.08.2011 ab und verurteilte den Beklagten, bei der Klägerin ab dem 04.01.2011 das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr - Merkzeichen "G" - festzustellen. Zur Begründung bezog sich das SG im Wesentlichen auf das fachorthopädische Gutachten von Dr. Bi. vom 31.01.2012. Die Feststellung einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr setze nicht voraus, dass auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder Lendenwirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 50 bestünden, sondern komme auch bei solchen Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen mit einem geringeren Einzel-GdB in Betracht. Voraussetzung sei allein, dass die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr in Folge einer Einschränkung des Gehvermögens erheblich beeinträchtigt sei. Dies sei dann anzunehmen, wenn eine ortsübliche Strecke von etwa zwei Kilometern in etwa einer halben Stunden nicht mehr zurückgelegt werden könne, was nach dem Befunderhebungen von Dr. Bi. bei der Klägerin der Fall sei.

Gegen den ihm am 20.03.2014 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 31.03.2014 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Zur Begründung trägt er gestützt auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. W. vom 26.03.2014 im Wesentlichen vor, der Gerichtsgutachter Dr. Bi. habe den bisher festgestellten Teil-GdB für die Arthrose beider Kniegelenke bestätigt. Eine GdB relevante Bewegungseinschränkung habe lediglich am linken Kniegelenk bei den Bewegungsmaßen 0-10-90 festgestellt werden können. Auch unter Berücksichtigung der weiter befundeten initialen Degeneration der Lendenwirbelsäule mit Spondylarthrose könne nicht auf eine erhebliche Gehbehinderung geschlossen werden, da nicht nachvollziehbar sei, inwieweit sich die vorgenannten Funktionsbehinderungen auf die Gehfähigkeit besonders auswirkten. Eine Vergleichbarkeit mit einer Versteifung des Hüftgelenks, des Knie- und Fußgelenks in ungünstiger Stellung oder einer arteriellen Verschlusskrankheit mit einem GdB von 40 sei nach Art und Schwere nicht annähernd vorhanden. Die Einschätzungen des Gerichtsgutachters beruhten auf den subjektiven Angaben der Klägerin.

Der Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 12.03.2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf die Ausführungen im Gerichtsbescheid des SG vom 12.03.2014.

Die Berichterstatterin hat mit den Beteiligten am 20.01.2015 einen Erörterungstermin durchgeführt, in welchem die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt haben. Auf die Niederschrift auf Bl. 21/23 der Senatsakte wird verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die vom Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte sowie auf die Prozessakten des SG Freiburg und auf die Senatsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß§ 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten, über die der Senat gemäß § 124 Abs. 2 SGG mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, jedoch nicht begründet.

Das SG hat den Beklagten zu Recht unter Abänderung des Bescheids vom 25.03.2011 in der Fassung des Teil-Abhilfebescheids vom 06.06.2011 und in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.08.2011 verurteilt, bei der Klägerin ab dem 04.01.2011 das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr - Merkzeichen "G" - festzustellen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, soweit darin die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen G abgelehnt wird. Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen G ab dem 04.01.2011.

Gemäß § 145 Abs. 1 SGB IX werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 SGB IX unentgeltlich befördert. In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ist erheblich beeinträchtigt nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.

Bis zum 31.12.2008 waren die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) heranzuziehen (BSG, Urteil vom 23.06.1993 9/9a RVs 1/91 BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 9 RVs 4/95 SozR 3 3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 B 9 SB 3/02 R BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 9a/9 RVs 7/89 BSG SozR 3 3870 § 4 Nr. 1). Die AHP besaßen zwar keine Normqualität, weil sie weder auf einem Gesetz noch auf einer Verordnung oder auch nur auf Verwaltungsvorschriften beruhten. Sie waren vielmehr als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen, die in der Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit wirkten, und deshalb normähnliche Auswirkungen hatten. Auch waren sie im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen von den Gerichten anzuwenden (vgl. BSGE 72, 285, 286; BSG SozR 3 3870 a.a.O.).

Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der AHP die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 17 BVG (jetzt § 30 Abs. 16 BVG) zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB.

Allerdings kann sich der Beklagte hinsichtlich der Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "G" nicht auf die VG (Teil D 1) berufen. Eine gesetzliche Ermächtigung für den Verordnungsgeber, die Grundsätze für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleiche durch Verordnung regeln zu können, enthalten weder § 30 Abs. 17 BVG (jetzt: Abs. 16), der nicht auf die im Schwerbehindertenrecht im SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche verweist (vgl. Dau, jurisPR SozR 4/2009), noch andere Regelungen des BVG. Eine Rechtsgrundlage zum Erlass einer Verordnung über Nachteilsausgleiche ist auch nicht in den einschlägigen Vorschriften des SGB IX vorhanden. Die Regelungen der VG zum Nachteilsausgleich G sind damit mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig. Dies entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. Urteile des Senats vom 23.07.2010 L 8 SB 3119/08 und vom 14.08.2009 L 8 SB 1691/08 , beide veröff. in juris und www.sozialgerichtsbarkeit.de) und dem ebenfalls für Schwerbehindertenrecht zuständigen 6. Senat des LSG Baden Württemberg (vgl. stellvertretend Urteil vom 04.11.2010 L 6 SB 2556/09 , unveröffentlicht; offen lassend der 3. Senat, vgl. Urteil vom 17.07.2012 L 3 SB 523/12 unveröffentlicht). Rechtsgrundlage sind daher allein die genannten gesetzlichen Bestimmungen und die hierzu in ständiger Rechtsprechung anzuwendenden Grundsätze.

Das Tatbestandsmerkmal der im Ortsverkehr üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegten Wegstrecke des § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nach ständiger Rechtsprechung der Sozialgerichte (grundlegend BSG Urt. vom 10.12.1987 9a RVs 11/87 , SozR 3870 § 60 Nr. 2; BSG Urteil vom 13.08.1997 9 RVS 1/96 , SozR 3 3870 § 60 Nr. 2) die Bewältigung von Wegstrecken von zwei km in einer halben Stunde ohne Berücksichtigung von geographischen Besonderheiten im Einzelfall. Sowohl die Gesetzesmaterialien zur gleichlautenden Vorgängervorschrift des § 58 Abs. 1 Satz 1 SchwbG 1979 als auch die AHP 1983 (Seite 123, 127f) enthielten keine Festlegung zur Konkretisierung des Begriffs der im Ortsverkehr üblichen Wegstrecke. Diese Festlegung geht auf eine in der Verwaltungs und Gerichtspraxis gegriffene Größe von 2 km zurück, die als allgemeine Tatsache, welche zur allgemeingültigen Auslegung der genannten Gesetzesvorschrift herangezogen wurde, durch verschiedene Studien (vgl. die Nachweise in BSG, Urt. vom 10.12.1987 a.a.O.) bestätigt worden ist. Der außerdem hinzukommende Zeitfaktor enthält den in ständiger Rechtsprechung bestätigten Ansatz einer geringeren Durchschnittsgeschwindigkeit als die von fünf bis sechs km pro Stunde zu erwartende Gehgeschwindigkeit rüstiger Wanderer, da im Ortsverkehr in der Vergleichsgruppe auch langsam Gehende, die noch nicht so erheblich behindert sind wie die Schwerbehinderten, denen das Recht auf unentgeltliche Beförderung zukommt, zu berücksichtigen sind (vgl. BSG Urteil vom 10.12.1987, a.a.O.). Anhaltspunkte dafür, dass infolge des Zeitablaufs sich die Tatsachengrundlage geändert haben könnte, hat der Senat nicht. Der Senat legt daher in ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Urteil des Senats vom 02.10.2012 L 8 SB 1914/10 , juris, www.sozialgerichtsbarkeit.de) diese Erkenntnisse weiter der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der ortsüblichen Wegstrecken i.S.v. § 146 Abs. 1 SGB IX zugrunde, auch wenn die entsprechenden Regelungen der VG zu dem Nachteilsausgleich "G" unwirksam sind, wie oben ausgeführt (ebenso der 3. und 6. Senat des LSG Baden Württemberg, Urteile vom 17.07.2012 a.a.O. und vom 04.11.2010 a.a.O.).

Hiervon ausgehend ist für den Senat belegt, dass bei der Klägerin eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr im Sinne des § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX besteht.

Die Klägerin leidet auf orthopädischem Fachgebiet ausweislich des Gutachtens von Dr. Bi. vom 31.01.2012 hauptsächlich unter einer Arthrose an beiden Kniegelenken bei Zustand nach mehreren Voroperationen beidseits und unter degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule sowie Zustand nach Brustwirbelbruch. Dr. Bi. hat eine Bewegungseinschränkung an beiden Kniegelenken (links mehr als rechts) festgestellt. Die von Dr. Bi. anlässlich der Untersuchung der Klägerin am 19.01.2012 erhobenen Bewegungsausmaße der Kniegelenke betrugen für Streckung/Beugung am rechten Knie 0-0-100 Grad und am linken Knie 0-10-90 Grad. Weiter zeigten die Kniegelenke bei der Untersuchung beidseits eine Weichteilschwellung mit nachweisbarem Erguss (Seite 8 des Gutachtens von Dr. Bi. ; Bl. 38 der SG-Akte). Ferner waren das Zohlen-Zeichen beidseits sowie der Steinmann- und der Böhler-Test beidseits positiv, was auf Schäden der Knorpel und des Meniskus hinweist. Ferner fand sich eine etwas vermehrte Aufklappbarkeit beider Kniegelenke lateralseitig sowie eine Druckschmerzhaftigkeit über beiden Kniegelenken, generalisiert mit Punctum maximum jeweils medialseitig. Zum Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. Bi. war am rechten Kniegelenk bereits eine fünfmalige Arthroskopie und Arthrotomie mit Meniskusteilentfernung und am linken Knie eine dreimalige Arthroskopie und Arthrotomie mit Meniskusteilentfernung vorgenommen worden. Bei der Untersuchung durch Dr. Bi. am 19.01.2012 zeigte sich ein linksseitiges Schonhinken. Die Klägerin benutzte Unterarmgehstützen. Die von Dr. Bi. beschriebenen Schwellungszustände des linken Knies waren auch beim Erörterungstermin am 20.01.2015 durch die Hose der Klägerin hindurch deutlich erkennbar. Ebenso war ein deutliches linksseitiges Schonhinken bei der auf zwei Unterarmgehstützen abgestützten Klägerin erkennbar. Aufgrund dieser Befunde hat der Sachverständige für den Senat nachvollziehbar dargelegt, dass die Klägerin eine Wegstrecke von 2 km nicht mehr in einer halben Stunde zurücklegen kann. Soweit der Beklagte unter Bezugnahme auf die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 26.03.2014 meint, der Sachverständige stützte sich hierbei unkritisch allein auf die subjektiven Angaben der Klägerin, trifft dies nicht zu. Der Sachverständige Dr. Bi. , der als Chefarzt der orthopädischen Klinik des Kreiskrankenhauses R. über eine diesbezüglich ausreichende klinische Erfahrung verfügt, bezieht sich bei seiner Bewertung der der Klägerin noch möglichen Wegstrecke auf die von ihm erhobenen Befunde einer beidseitigen Gonarthrose mit belastungsabhängigen Schmerzen in beiden Kniegelenken, wodurch eine schmerzbedingt verkürzte Gehstrecke besteht. Seine Beurteilung stimmt mit der Einschätzung des sachverständigen Zeugen Dr. Su. überein. Auch Dr. E. geht in seiner schriftlichen Zeugenaussage vom 16.11.2011 vom Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen G aus Der Versorgungsarzt Dr. W. verkennt insoweit die Ausführungen im Gutachten und würdigt nicht die vom Sachverständigen dargelegte Befundlage. Das Ausmaß der Beweglichkeitseinschränkung der Gelenke ist nur eine von mehreren Anknüpfungstatsachen, auf die sich die gutachterliche Einschätzung zur Beurteilung der Rechtsfrage einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr stützen kann. Von Bedeutung ist auch die Beeinträchtigung der Belastungsfähigkeit, sei es durch muskuläre Schwäche oder schmerzbedingt.

Der Einwand des Beklagten, die Beurteilung der noch möglichen Wegstrecke und der hierfür notwendigen Zeitdauer sei eine rein subjektive Einschätzung, weshalb auf objektive Voraussetzungen abzustellen sei, führt zu keiner anderen Entscheidung. Der vom Beklagten hierbei in den Blick genommene objektive Maßstab einer Funktionsstörung der unteren Gliedmaße und/oder der Lendenwirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 50 ist in der rechtlich unwirksamen Regelung zu den VG Teil D Nr. 1 enthalten, ist aber selbst dort nicht als abschließende Regelung getroffen. Die Beurteilung des Ausmaßes der Gehbeeinträchtigung liegt auf medizinischem Fachgebiet, weshalb die Gerichte auf das besondere Fachwissen des medizinischen Sachverständigen angewiesen sind, der die auch in seinem Fachgebiet zu treffende notwendigerweise subjektive Einschätzung anhand seines Erfahrungswissens vornimmt. Eine solche Einschätzung hat im vorliegenden Fall der Sachverständige Dr. Bi. für den Senat überzeugend getroffen. Entgegen der Auffassung des Beklagten, wonach kein Entscheidungskriterium sein könne, ob die Gehstrecke mit Pause oder schmerzfrei zurückgelegt werden könne, sind für die Beurteilung einer erheblich beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr medizinisch nachvollziehbare Gehpausen durchaus eine hinreichende Anknüpfungstatsache für die Bewertung der noch verbliebenen Belastungsfähigkeit.

Anlass zu weiteren Ermittlungen besteht nicht. Der Senat hält den relevanten Sachverhalt durch die vom SG durchgeführten Ermittlungen und die zu den Akten gelangten medizinischen Unterlagen für geklärt. Gesichtspunkte, die Anlass zu weiteren Ermittlungen geben, sind weder ersichtlich noch vorgetragen.

Nach alledem war die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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