L 5 KR 3861/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 8 KR 2977/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 KR 3861/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zum Off-Label-Use und zur grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungskatalogs bei drohender Erblindung
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Konstanz 12.07.2012 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 10.05.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.09.2011 verurteilt, der Klägerin (weiterhin) die Behandlung mit dem Arzneimittel CellCept zu gewähren bzw. die Kosten hierfür zu übernehmen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Gewährung bzw. die Übernahme der Kosten einer Behandlung mit dem Arzneimittel CellCept.

Die 1941 geborene Klägerin, Mitglied der Beklagten, leidet an einem okulären Pemphigoid beider Augen. Dabei handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung aus dem Formenkreis der blasenbildenden Dermatosen. Deswegen wird die Klägerin seit (der Erstdiagnose) 2005 (u.a., neben lokaler Behandlung) systemisch (bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt) mit dem verschreibungspflichtigen Arzneimittel CellCept behandelt (Kosten 250 EUR/monatlich). CellCept enthält den Wirkstoff Mycophenolat-Mofetil (MMF). Es ist arzneimittelrechtlich (nur) zur Prophylaxe von Transplantatabstoßungsreaktionen zugelassen.

Unter dem 04.04.2011 beantragte der behandelnde Augenarzt der Klägerin Prof. Dr. R. bei der Beklagten die Vorabprüfung der Leistungspflicht im Rahmen einer Off-Label-Verordnung von CellCept. Nach seiner Einschätzung stehe für die Klägerin eine gleichermaßen wirksame Alternativbehandlung mit einem zugelassenen Arzneimittel nicht zur Verfügung. Die Behandlung mit CellCept zur Immunmodulation werde von der Universitäts-Augenklinik F. empfohlen. Dem Antrag war ein Arztbrief des Prof. Dr. R. (Universitäts-Augenklinik F.) vom 05.05.2010 (über eine ambulante Kontrolluntersuchung der Klägerin) beigefügt. Darin ist ausgeführt, die Klägerin werde u.a. mit CellCept (2x 1g) systemisch behandelt. Bei der Verlaufskontrolle sei ein sehr guter subjektiver Visus rechts bei jedoch unverändertem Befund in Bezug auf die Vernarbung festgestellt worden. Man empfehle als Versuch eine Therapieerweiterung mit All-Trans-Retinsäure, um die zunehmende Verhornung evtl. zu mindern. Die restliche Lokaltherapie solle fortgeführt werden. CellCept könne versuchsweise ausgeschlichen werden (2x 1 g tgl. für mindestens 3 Monate vor weiterer Reduktion), wobei der Augenbefund aber gut beobachtet werden müsse.

Die Beklagte befragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK). Im MDK-Gutachten (nach Aktenlage) vom 20.04.2011 führte Dr. H. aus, die Leistungsvoraussetzungen seien nicht erfüllt, da CellCept nach dem Arztbrief des Prof. Dr. R. vom 05.05.2010 ausgeschlichen werden solle.

Mit Bescheid vom 10.05.2011 lehnte die Beklagte die Gewährung bzw. Übernahme der Kosten für eine (weitere) Behandlung mit CellCept unter Hinweis auf das MDK-Gutachten vom 20.04.2011 ab.

Die Klägerin erhob Widerspruch. Sie legte den Arztbrief des Prof. Dr. R. vom 11.05.2011 (über eine weitere ambulante Kontrolluntersuchung) vor. Darin ist - unter Anführung der nach wie vor stattfindenden systemischen Therapie mit CellCept (2x 1g) - ausgeführt, es habe sich erfreulicherweise ein insgesamt ruhiger Befund beidseits gezeigt. Am rechten Auge sei die Verhornung im unteren Fonix eher rückläufig im Vergleich zu den Vorbefunden vom Mai 2010. Daher werde die Fortsetzung der genannten Therapie empfohlen.

Die Beklagte befragte erneut den MDK. Im MDK-Gutachten (nach Aktenlage) vom 29.06.2011 führte Dr. B. aus, bei der Klägerin sei 2005 die Erstdiagnose eines Pemphigus beider Augen gestellt worden. Man habe eine Therapie mit Cortikoiden und MMF (Wirkstoff des Arzneimittels CellCept) aufgenommen und (bei der Universitäts-Augenklinik F.) am 05.05.2010 und am 11.05.2011 Kontrolluntersuchungen durchgeführt. CellCept sei in Kombination mit Ciclosporin und Cortikosteroiden zur Prophylaxe von akuten Transplantat-Abstoßungsreaktionen bei Patienten mit allogener Nieren-, Herz- oder Lebertransplantation arzneimittelrechtlich zugelassen. Für die Indikation (bei der Klägerin) sei in Deutschland kein wirkstoffidentisches Präparat zugelassen. Hinsichtlich des beantragten Off-Label-Use von CellCept gebe es keine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) nach Maßgabe des Abschnitts K § 30 der Arzneimittelrichtlinien (AMR). Die Häufigkeit des okulären vernarbenden Pemphigoids liege im Bereich zwischen 1: 12.000 bis 1: 60.000. Wahrscheinlich komme die Erkrankung aber häufiger vor, da die ersten uncharakteristischen Erkrankungsstadien (Konjunktivitis) selten als okuläres Pemphigoid diagnostiziert würden. Klinisch sei vor allem das Auge betroffen. Es komme zu einer chronischen, häufig rezidivierend verlaufenden Konjunktivitis mit subepithelialer Fibrose und Schrumpfung der Konjunktiven, entzündlichen Verklebungen (Synblepharon) zwischen Konjunktiven und Sklera, Vernarbung sowie Ausbildung eines "trockenen Auges" mit sekundärer Schädigung der Hornhaut. In historischen Kollektiven sei die Prognose bezüglich des Sehvermögens schlecht gewesen mit beidseitiger Blindheit mit Verlauf von 10 bis 30 Jahren. Unter Therapie sei die Prognose heute deutlich besser.

Die Klägerin sei schon kurz nach der Erstdiagnose im Jahr 2006 mit MMF behandelt worden. Daher sei über den Krankheitsverlauf ohne diese Behandlung eine sichere Aussage nicht möglich. Davon ausgehend, dass sich jedoch auch unter multipler Therapie einschließlich der systemischen Therapie mit MMF nach den Befunden der Universitäts-Augenklinik F. von 2010 und 2011 weiterhin typische Veränderungen mit Zeichen von Krankheitsaktivität gezeigt hätten, sei nicht auszuschließen, dass es ohne MMF zu einem deutlich ausgeprägteren Verlauf, möglicherweise dann auch mit Einschränkung des Sehvermögens gekommen wäre. Aktuell könne jedoch nicht bestätigt werden, dass Blindheit drohen würde. Bei der in Rede stehenden Erkrankung handele es sich aber um eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende, freilich nicht regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung. Diese sei nicht so selten, dass systematische Studien zu Krankheitsursache und Therapie nicht möglich wären. Leitlinien zur Behandlung des okulären Pemphigoids gebe es nicht. Teilweise werde neben der lokalen Steroidtherapie eine systemische Steroidtherapie im frischen Schub sowie Ciclosporin zur immunsuppressiven Therapie angegeben. Bei der Klägerin, die durchgehend mit Dexamethason-Augentropfen, zusätzlich mit Ciclosporin-A-Augentropfen und seit 2010 mit All-Trans-Retinsäure-Augentropfen sowie MMF behandelt werde, sei die Standardbehandlung daher ausgeschöpft. Die aus dem Wirkstoff MMF freigesetzte Wirksubstanz (Mycophenolatsäure) hemme selektiv die Zellteilung von T- und B-Lymphozyten. Bei einer orientierenden Literaturrecherche hätten sich 16 Veröffentlichungen gefunden, allerdings keine für die vorliegende Fragestellung relevanten randomisierten, kontrollierten Studien, jedoch 3 offene klinische Studien. Bei einer Studie (Therapie entzündlicher Augenerkrankungen, 7,6 % mit Pemphigoid, mit MMF bei 236 Patienten/397 Augen) habe sich eine komplette Kontrolle der Entzündung unter MMF bei 53% der Patienten nach 6 Monaten und bei 73 % der Patienten nach einem Jahr gezeigt; die systemische Cortisondosis habe gesenkt werden können. Diese (und die genannten beiden anderen, erheblich kleineren, nur an 3 bzw. 5 Patienten durchgeführten) Studien deuteten auf eine Wirksamkeit von MMF in der Behandlung des okulären vernarbenden Pemphigoids hin. Die Erweiterung der Zulassung (von CellCept) sei aber nicht beantragt und es liege keine Phase-III-Studie vor, die einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbarem Risiko belegt habe. In den einschlägigen Fachkreisen bestehe auch kein Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen der in Rede stehenden Therapie aufgrund zuverlässiger, wissenschaftlich nachprüfbarer Aussagen.

Zusammengefasst leide die Klägerin sicherlich an einer schweren und die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung. Jedoch könne nicht sicher bestätigt werden, dass ihr deswegen ein Visusverlust (Blindheit) drohe Da die Klägerin aber seit 1996 (gemeint wohl 2006) offensichtlich durchgehend mit MMF behandelt werde, könne nicht sicher beurteilt werden, ob die Erkrankung ohne den Einsatz von MMF zu einer akuten Bedrohung des Sehvermögens geführt hätte. Die Möglichkeiten der Standardtherapie seien ausgeschöpft. Ungeachtet der Wirksamkeitshinweise aus den genannten offenen klinischen Studien seien die von der Rechtsprechung verlangten Wirksamkeitsnachweise für den Off-Label-Use von Arzneimitteln (randomisierte kontrollierte Studien) nicht erfüllt. Wegen der ununterbrochenen MMF-Therapie seit 2006 solle keinesfalls ein sofortiges Absetzen von MMF erfolgen. Der Versuch eines Ausschleichens der Therapie mit schrittweiser Dosisreduktion werde als sinnvoll eingeschätzt. Sollte es dabei zu einem Rezidiv bzw. zu verstärkter Krankheitsausprägung kommen, solle eine erneute gutachterliche Prüfung vorgenommen werden mit detaillierter Verlaufsdarstellung seit Dosisreduktion von MMF und ausführlicher Beschreibung der (infolgedessen aufgetretenen) klinischen Befunde. Eine Leistungspflicht der Beklagten bestehe nicht.

Die Klägerin legte das (weitere) Schreiben des Prof. Dr. R. vom 26.07.2011 vor. Darin ist ausgeführt, der Widerspruch der Klägerin werde unterstützt. Die Klägerin leide an einem okulären Pemphigoid beider Augen (rechts mehr als links) in einem fortgeschrittenen Stadium. Die Möglichkeiten der Standardtherapie seien ausgeschöpft. Zusätzlich zur intensiven Lokaltherapie sei eine systemische Dauertherapie mit CellCept medizinisch indiziert. Hierfür stütze er sich zum einen auf die in klinischen Studien nachgewiesene Wirksamkeit von MMF bei okulärem Pemphigoid, zum andern auf den individuellen Krankheitsverlauf der Klägerin unter dieser Therapie. Die Therapie sei in den letzten 6 Jahren der Krankheitsaktivität angepasst worden. U.a. habe man zusätzlich eine systemische Steroidtherapie versucht, die jedoch wegen schwerer systemischer Nebenwirkungen wieder ausgeschlichen worden sei. Bei der letzten Untersuchung am 11.05.2011 habe man erfreulicherweise einen ruhigen, bezüglich der Vernarbung leicht rückläufigen Befund dokumentiert. Dies sei als Resultat der in Rede stehenden Therapie einzuordnen. Da die systemische MMF-Gabe einen wichtigen (Therapie-)Bestandteil bilde, empfehle er dringend, die Kosten dieser Therapie zu übernehmen. Im Falle einer Progredienz des Krankheitsbildes drohten u.a. Lidfehlstellungen, rezidivierende Epitheldefekte, Keratitiden, Hornhautulzera bis -perforation mit möglichem Visusverlust. All diese Komplikationen würden mit teils schweren Operationen einhergehen und weitaus größere Kosten als die Weiterbehandlung mit CellCept verursachen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 30.09.2011 wies die Beklagte den Widerspruch unter Hinweis auf die vorliegenden MDK-Gutachten zurück; der Verlust eines Sinnesorgans (hier: Erblindung) drohe nicht akut.

Am 24.10.2011 erhob die Klägerin Klage beim Sozialgericht Konstanz. Sie gab an, sie habe sich das Arzneimittel CellCept bislang nicht auf eigene Kosten beschafft; ihre finanziellen Mittel ließen das nicht zu. Die Beklagte habe die Kosten getragen.

Die Beklagte trug vor, bei der festgestellten Erkrankungshäufigkeit des okulären Pemphigoids (1: 12.000 bis 1: 60.000) liege eine wegen ihrer Seltenheit nicht erforschbare Krankheit nicht vor.

Die Beklagte legte das MDK-Gutachten (nach Aktenlage) des Dr. B. vom 22.11.2011 vor. Darin ist ausgeführt, die Beurteilung der Krankheitsschwere sei hier dadurch kompliziert, dass CellCept bereits seit Krankheitsbeginn gegeben worden sei. Entscheidend sei daher, ob ohne die Anwendung von CellCept bei der Klägerin Erblindung eingetreten wäre. Das könne den vorliegenden Behandlungsunterlagen nicht entnommen werden. Es bleibe bei der Einschätzung im MDK-Gutachten vom 29.06.2011.

Das Sozialgericht befragte Prof. Dr. R ... Dieser führte im Bericht vom 23.01.2012 aus, die Klägerin werde seit 21.09.2005 (zuletzt am 11.05.2011) behandelt. Die Erweiterung der Zulassung von CellCept zur Behandlung der Pemphigoid-Erkrankung der Klägerin sei nicht beantragt worden und es lägen hierfür auch keine Phase-III-Studien vor. Randomisierte Studien benötigten hohe Patientenzahlen. Diese seien bei dem in Rede stehenden Krankheitsbild aufgrund der Seltenheit der Erkrankung nicht zu erreichen. Daher lägen nur retrospektive Fallserien über die Behandlung des okulären Pemphigoids mit CellCept vor. Allerdings seien außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens Erkenntnisse veröffentlicht worden, die über Qualität und Wirksamkeit von CellCept zur Behandlung des okulären Pemphigoids zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zuließen, und es bestehe aufgrund dieser Erkenntnisse in den einschlägigen Fachkreisen auch Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen der CellCept-Therapie. Man verfüge aufgrund mehrerer retrospektiver Fallserien über Erkenntnisse hinsichtlich der Wirksamkeit von CellCept beim okulären Pemphigoid. Dabei habe auch gezeigt werden können, dass das Nebenwirkungsprofil im Vergleich zu den sonstigen, bei dieser Erkrankung eingesetzten Arzneimitteln vergleichsweise gering sei. Die größte Studie (retrospektive Fallserie) habe die Wirkung von CellCept an 223 Augen von 115 Patienten mit Schleimhautpemphigoid untersucht; sie sei 2008 veröffentlicht worden. Es habe gezeigt werden können, dass CellCept als Monotherapie ein wirksames und nebenwirkungsarmes Medikament in der Behandlung von mäßig aktiven Schleimhautpemphigoiden darstelle. Das habe in einer weiteren Studie an 19 Augen und in einer dritten Studie (aus dem Jahr 1998) bestätigt werden können. Insgesamt gebe es genügend Hinweise auf die Wirksamkeit von CellCept bei weitaus besserem Nebenwirkungsprofil als bei den Alternativpräparaten.

Nachdem die Beklagte hiergegen Einwendungen erhoben hatte, führte Prof. Dr. R. unter dem 15.03.2012 ergänzend aus, die Erkrankungsinzidenz des okulären Pemphigoids betrage 1: 1.000.000 Einwohner und Jahr. Das Evidenzniveau der vorliegenden Studien betrage entsprechend der Einteilung des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin Level 4. Für Arzneimittelzulassungen werde demgegenüber Level 1 verlangt.

Die Klägerin legte abschließend den Arztbrief des PD Dr. M. (Oberarzt an der Universitäts-Augenklinik F.) vom 25.04.2012 vor. Darin ist ausgeführt, es habe sich insgesamt erfreulicherweise ein insgesamt ruhiger Befund beidseits gezeigt (bei subjektiv leichter Visusabnahme rechts). Im Fotovergleich mit den Aufnahmen vom Mai 2011 zeige sich rechts eine tendenziell etwas zunehmende Verhornung und Verbreiterung des limbusnahen keratinisierten Areals. Man empfehle, die bisherige Therapie beizubehalten.

Mit Urteil vom 12.07.2012 wies das Sozialgericht die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, die Klägerin könne die Gewährung des Arzneimittels CellCept im Rahmen eines Off-Label-Use mangels hinreichender Erfolgsaussichten der Behandlung nicht beanspruchen. Hierfür wären (positive) Ergebnisse von Phase-III-Studien oder randomisierten, placebokontrollierten Studien notwendig; solche Studien gebe es nicht. Die vorliegenden Studien erreichten nach den Angaben des Prof. Dr. R. das für eine entsprechende Erweiterung der arzneimittelrechtlichen Zulassung von CellCept erforderliche Evidenzniveau nicht. Beim okulären Pemphigoid handele es sich auch nicht um eine weltweit extrem seltene und deswegen nicht systematisch erforschbare oder behandelbare Erkrankung. Der MDK habe eine Erkrankungshäufigkeit von 1:12.000 bis 1: 60.000 angegeben und es existierten auch Studien über die Behandlung des okulären Pemphigoids (wenngleich mit nur geringem Evidenzniveau). Schließlich könne die Klägerin das Leistungsbegehren auch nicht auf die Regelung des § 2 Abs. 1a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) stützen. Ihre Erkrankung sei weder lebensbedrohlich noch verlaufe sie regelmäßig tödlich. Sie sei mit einer derartigen Erkrankung auch nicht wertungsmäßig vergleichbar. Hierfür wäre eine notstandsähnliche Lage erforderlich; ohne die begehrte Behandlung müsste sich (bei lebensbedrohlichen Krankheiten) der tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen oder es müsste (bei mit lebensbedrohlichen Krankheiten wertungsmäßig vergleichbaren Krankheiten) der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion akut drohen. Das sei nicht der Fall. Prof. Dr. R. habe im Schreiben vom 26.07.2011 bei Progredienz des okulären Pemphigoids eine drohende Lidfehlstellung, rezidivierende Epitheldefekte, Keratitiden, und Hornhautulzera bis -perforation mit möglichem Visusverlust beschrieben. Dabei handele es sich zwar um durchaus gravierende Krankheitsfolgen, nicht aber um notstandsähnliche Extremsituationen, in denen das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung aus verfassungsrechtlichen Gründen modifiziert werden müsste. Weder bestehe Lebensgefahr noch drohe akut Erblindung. Letzteres werde von Prof. Dr. R. nur als letzte mögliche Folge der Krankheitsprogredienz gesehen.

Auf das ihr am 23.08.2012 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 06.09.2012 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, das Sozialgericht hätte weitere Ermittlungen anstellen, insbesondere ein Gutachten zur Häufigkeit (und systematischen Erforsch- bzw. Behandelbarkeit) des okulären Pemphigoids erheben müssen, da die Einschätzungen des MDK und des Prof. Dr. R. zur Krankheitsinzidenz widersprüchlich seien. Außerdem drohe ihr ohne die (Weiter-)Behandlung mit CellCept akut die Erblindung.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 12.07.2012 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 10.05.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.09.2011 zu verurteilen, ihr (weiterhin) die Behandlung mit dem Arzneimittel CellCept zu gewähren bzw. die Kosten hierfür zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Das okuläre Pemphigoid sei nicht derart selten, dass es weder systematisch erforsch- noch behandelbar wäre (vgl. zu den Voraussetzungen des "Seltenheitsfalls" etwa BSG, Urt. v. 03.07.2012, - B 1 KR 25/11 R -). Die Durchführung entsprechender Studien sei auch nicht aus ethischen Gründen ausgeschlossen (dazu: BSG, Urt. v. 28.03.2000, - B 1 KR 18/98 R -).

Die Klägerin hat das Schreiben des Prof. Dr. R. vom 05.02.2013 vorgelegt. Darin ist ausgeführt, zur Anwendung von CellCept beim okulären Pemphigoid lägen nach wie vor Phase-III-Studien nicht vor. Hierfür wären ungleich höhere Patentenzahlen notwendig als für die vorliegenden Fall-Kontroll-Studien mit dem Evidenzlevel 4 (nach den Vorgaben des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin). Bei der aktuellsten Studie in einer der weltweit größten Augenkliniken (in London) hätten über einen Zeitraum von 8 Jahren nur 23 Patienten rekrutiert werden können. Er habe in der Universitäts-Augenklinik F. während der vergangenen 6 Jahre knapp über 20 Patienten mit okulärem Pemphigoid betreut. Für die Durchführung einer Phase-III-Studie wären nach seiner Einschätzung 50 bis 80 Patienten notwendig. Bei einer Krankheitsinzidenz von 1: 1.000.000 Einwohnern und einer angenommenen Einwilligungsrate von 50% wäre (nach seinen Patientenzahlen unter optimistischer Schätzung) also eine Rekrutierungszeit von 8 Jahren erforderlich. Das gelte jedoch nur unter der Voraussetzung eines deutlichen Effekts von CellCept. Sinke der Effekt ab, würden bis zu 800 Patienten für signifikante Studienergebnisse benötigt mit einer Rekrutierungszeit von 40 bis 64 Jahren, was nicht durchführbar wäre. Außerdem gebe es ethische Bedenken gegen die Durchführung einer Phase-III-Studie. Da für die alternativen Therapieoptionen (Dapson, Azathioprin, Cyclophosphamid), die entweder schlechter wirkten oder erhebliche Nebenwirkungen hätten, ebenfalls keine randomisierten Studien existierten, müsste man die "Cell-Cept-Gruppe" mit einer unbehandelten Gruppe vergleichen. Bei einer Erblindungswahrscheinlichkeit von bis zu 30% im Laufe der Erkrankung wäre das ethisch nicht vertretbar. Hinsichtlich der Erblindungswahrscheinlichkeit beim okulären Pemphigoid sei in einer 2012 veröffentlichten (britischen) Studie ein Drittel der Patienten als gesetzlich blind (Visus kleiner als 3/60) angegeben worden. Studien zur Erblindung mit / ohne CellCept gebe es nicht.

Der Senat hat den behandelnden Augenarzt der Klägerin (Prof. Dr. R.) befragt. Dieser hat im Bericht vom 13.03.2014 ausgeführt, er behandele die Klägerin seit 2004. Der Gesundheitszustand der Klägerin (hinsichtlich des okulären Pemphigoids) sei dank der immunsuppressiven Therapie (mit CellCept) im Wesentlichen stabil. Schwankungen habe es insbesondere in der Einstellungsphase und durch eine komplizierte Lidoperation mit Hughes-Plastik wegen eines Unterlidtumors (Plattenepithelkarzinom rechts) gegeben. Bei der Klägerin werde CellCept (MMF) zusammen mit cyclosporinhaltigen Augentropfen und lokaler Cortisontherapie weiterhin zur Immunmodulation eingesetzt. Die Behandlung werde in enger Absprache/Konsultation mit der Universitäts-Augenklinik F. durchgeführt. Absetzversuche (Absetzung von CellCept) führten zu rasch zunehmender Vernarbung der Bindehaut, an deren Ende eine Benetzungsstörung, Bewegungsunfähigkeit des Auges und unbehandelt die Erblindung stehen würden. Die Therapie (u.a.) mit CellCept werde bis auf Weiteres fortgeführt. Ohne Therapie bestehe für die Klägerin ein sehr hohes Erblindungsrisiko. Die Erblindung beim okulären Pemphigoid trete nicht plötzlich ein, sondern kündige sich durch ein langsames Fortschreiten der Erkrankung an und könne in vielen Fällen durch Kontrollen und rechtzeitiges Einschreiten - so wie hier bei der Klägerin - verhindert werden. Eine nahe Erblindungsgefahr bestehe bei der Klägerin nicht. Das okuläre Pemphigoid stelle eine Autoimmunerkrankung dar, die durch Unterdrückung der Immunantwort des Körpers bereits günstig beeinflusst worden sei. Indizien hierfür seien, dass die Vernarbungen bei der Klägerin nicht weiter fortgeschritten und die Keratinisierungen (Vernarbungen) zurückgegangen seien. Das Fremdkörpergefühl nach Therapiebeginn habe nachgelassen und man habe das Sehvermögen der Klägerin im Gegensatz zur Spontanprognose (unbehandelter Krankheitsverlauf) erhalten können. Die Erkrankung könne (vergleichbar mit der lebenslangen Diabetesbehandlung) dauerhaft behandelt werden. Eine Heilung sei freilich nicht möglich, weshalb die immunsupressive Therapie fortgesetzt werden müsse. Die Krankheit sei selten. Da es eine "Pemphigustablette" nicht gebe, würden immunsuppressive Arzneimittel eingesetzt, die auch bei anderen Krankheiten zur Immunmodulation angewandt würden.

Die Beklagte hat das abschließende MDK-Gutachten (nach Aktenlage) des Dr. B. vom 07.04.2014 vorgelegt. Dr. B. hat ausgeführt, der arzneimittelrechtliche Zulassungsstatus von CellCept habe sich nicht geändert. Auch die zahlreichen MMF-Generika seien nur zur Prophylaxe von Transplantatabstoßungen unter bestimmten Bedingungen zugelassen. Die Angaben des Prof. Dr. R. und der MDK-Gutachter zur Erkrankungshäufigkeit seien in der Sache nicht widersprüchlich, da Prof. Dr. R. sich auf die Gesamteinwohnerzahl und die MDK-Gutachten (nur) auf die ophthalmologischen Patienten bezögen. Es sei von einer Prävalenz (Häufigkeit der Erkrankung in einer Population zu einem Zeitpunkt bzw. in einem Zeitabschnitt) von 1: 100.000 Einwohnern auszugehen. Bei der Literaturrecherche habe er 1207 Veröffentlichungen gefunden, von denen 3 als randomisierte kontrollierte Studien und weitere 32 als klinische Studien eingestuft gewesen seien. Die Studienlage zeige, dass es durchaus möglich sei, größere Patientenkollektive mit okulärem Pemphigoid zu untersuchen. Phase-III-Studien müssten allerdings als multizentrische Studien sehr wahrscheinlich im internationalen Rahmen angelegt werden, was sehr großen Aufwand erfordern würde. Das okuläre Pemphigoid könne aber insgesamt nicht als Erkrankung eingestuft werden, die wegen ihrer Seltenheit nicht systematisch erforscht werden könnte.

Die zunächst einseitig beginnende, sodann beide Augen betreffende Erkrankung könne bei unzureichender Kontrolle der Krankheitsaktivität zur Gefährdung des Visus führen. Sie verlaufe bei den meisten Patienten langsam fortschreitend, so dass beidseitige Erblindung nach 10 bis über 30 Jahren auftreten könne, wobei es aber auch Fälle mit rascherer Progression gebe. Der Krankheitsverlauf sei insgesamt schwer vorherzusagen. Bei einem Kollektiv von 104 Patienten, die über durchschnittlich 4 Jahre beobachtet worden seien, habe man bei einem Drittel Perioden des Krankheitsstillstands ohne Therapie von durchschnittlich 34 Monaten (2 bis 75 Monate) gesehen. Hinsichtlich des Krankheitsverlaufs der Klägerin könne - nach wie vor - nicht bestätigt werden, dass ohne die Behandlung mit MMF Erblindung gedroht hätte, da die MMF-Behandlung von Anfang an durchgeführt worden sei.

Zur Behandlung des okulären Pemphigoids gebe es keine Leitlinien der zuständigen Fachgesellschaften. Zur Verhinderung von Vernarbungen und Visusverlust (Erblindung) würden teilweise andere Arzneimittel als CellCept (MMF) empfohlen. Bei Therapieresistenz werde auch MMF eingesetzt. Das Arzneimittel Dapson (zugelassen zur Behandlung von Patienten mit mukösem, membranösem Pemphigoid) werde teilweise aufgrund enttäuschender Erfahrungen als wenig empfehlenswert eingestuft. Zur Behandlung des okulären Pemphigoids seien auch verschiedene Glukocortikoide zugelassen. Bei der Klägerin seien zum Erkrankungsbeginn Cortikoide angewandt, wegen schwerer (nicht näher mitgeteilter) Nebenwirkungen aber wieder abgesetzt worden. Dapson habe man bislang nicht eingesetzt. Damit könne nicht bestätigt werden, dass für die Klägerin zugelassene Therapiealternativen nicht zur Verfügung stünden; insoweit müssten die vorliegenden MDK-Gutachten korrigiert werden. Die vorliegenden Studien (die nicht als Phase-III-Studien einzustufen seien) deuteten aber darauf hin, dass mit MMF bei der Behandlung des okulären vernarbenden Pemphigoids Besserungen erzielt werden könnten. Eine Zulassungserweiterung (für CellCept) sei nicht beantragt worden. In den einschlägigen Fachkreisen liege ein Konsens über den voraussichtlichen Nutzen (der systemischen MMF-Therapie beim okulären Pemphigoid) aufgrund zuverlässiger, wissenschaftlich nachprüfbarer Aussagen nicht vor.

Bei der Klägerin liege insgesamt zwar keine tödliche, aber eine die Lebensqualität nachhaltig und schwer beeinträchtigende Erkrankung (i. S. d. "Off-Label-Kriterien") vor. Es könne nicht bestätigt werden, dass eine den tödlichen Erkrankungen gleichzustellende Erkrankung (i. S. d. § 2 Abs. 1a SGB V) vorliege. Das okuläre Pemphigoid führe unbehandelt zwar sehr häufig nach mehreren Jahren zur Erblindung. Das sei unter immunsuppressiver Behandlung jedoch nicht der Fall; eine solche Behandlung sei bei der Klägerin seit der Erstdiagnose 2005 durchgehend angewandt worden. Daher könne nicht beurteilt werden, ob die die weitere eingesetzte Therapie (ohne CellCept) oder ob (die dargestellten) zugelassenen Behandlungsalternativen ohne MMF den Krankheitsverlauf ebenso positiv beeinflusst hätten. Dies wäre nur bei Absetzen von MMF unter sorgfältiger und engmaschiger Kontrolle des Verlaufs zu ermitteln. Das habe man in den vorliegenden MDK-Gutachten aus dem Jahr 2011 auch vorgeschlagen; eine entsprechende Empfehlung habe die Universitäts-Augenklinik F. im Arztbrief vom 05.05.2010 ausgesprochen. Als zugelassene Therapiealternative stehe Dapson zur Verfügung. Die Erkrankung sei nicht derart selten, dass systematische Studien zur Pathophysiologie und Therapie nicht durchführbar wären. Aus unkontrollierten Studien folgten allerdings Hinweise darauf, dass MMF den Krankheitsverlauf bei Patienten mit okulärem Pemphigoid günstig beeinflussen könne. Die Therapie eröffne damit eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf, wenngleich die hohen Anforderungen an den Wirksamkeitsnachweis durch Phase-III-Studien nicht erfüllt seien.

Die Beklagte hat einen Vergleichsvorschlag des Senats abgelehnt. Der Klägerin könne das versuchsweise Beenden der systemischen Behandlung mit CellCept (MMF) zugemutet werden. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V seien nicht erfüllt; insoweit könne sich die Beklagte der Senatsrechtsprechung (Urteil vom 09.03.2014, - L 5 KR 1496713 -, "Krebsbehandlung mit dendritischen Zellen") nicht anschließen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Senatsentscheidung ohne mündliche Verhandlung gem. §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des Sozialgerichts und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I. Im Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).

Die Berufung der Klägerin ist gem. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG ohne Zulassung durch das Sozialgericht statthaft, da sie wiederkehrende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft. Die Klägerin begehrt die Gewährung des Arzneimittels CellCept (Kosten monatlich 250 EUR) als weitere und voraussichtlich lebenslange, jedenfalls den Zeitraum eines Jahres (weit) überschreitende Dauerbehandlung ihrer nicht heilbaren Augenerkrankung. Die Berufung ist auch sonst zulässig (§ 151 SGG).

II. Die Berufung der Klägerin ist auch begründet. Die Beklagte hat die Gewährung des Arzneimittels CellCept mit dem Wirkstoff MMF zur systemischen Behandlung des okulären Pemphigoids der Klägerin zu Unrecht abgelehnt; die Klägerin hat darauf Anspruch.

Bei der Verabreichung des Arzneimittels CellCept handelt es sich nicht um eine (neue) ärztliche Behandlungsmethode, weshalb es einer (positiven) Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V gem. i. S. d. § 135 Abs. 1 SGB V nicht bedarf (unten 1). Die Klägerin kann die Gewährung des Arzneimittels CellCept als Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung zur Behandlung ihrer Augenerkrankung zwar weder nach Maßgabe der gesetzlichen Regelungen über die Arzneimittelversorgung gesetzlich Versicherter noch nach Maßgabe der Rechtsgrundätze über den Off-Label-Use von Arzneimitteln beanspruchen (unten 2). Der geltend gemachte Leistungsanspruch folgt aber aus der (seit 01.01.2012 geltenden) Regelung des § 2 Abs. 1a SGB V bzw. aus den vom BVerfG und vom BSG entwickelten Rechtsgrundsätzen zur grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung (unten 3). Deshalb kann offenbleiben, ob die Klägerin die Gewährung des Arzneimittels CellCept zur Behandlung des okulären Pemphigoids nach den Grundsätzen des so genannten "Seltenheitsfalls" beanspruchen könnte (unten 4).

1.) Das Arzneimittel CellCept soll der Klägerin nicht im Rahmen einer ärztlichen Behandlungsmethode i. S. d § 135 Abs. 1 SGB V, sondern im Rahmen einer reinen Pharmakotherapie zur medikamentösen Behandlung ihrer Augenerkrankung (weiter) verabreicht werden.

Für die Abgrenzung der reinen Pharmakotherapie durch bloße Verabreichung eines Arzneimittels von der Pharmakotherapie als ärztliche Behandlungsmethode kommt es darauf an, welches Gewicht der ärztlichen Tätigkeit für den Therapieerfolg zukommt (vgl. näher BSG, Urt. v. 19.10.2004, - B 1 KR 27/02 R -, LSG Baden-Württemberg, Urt. v. Urt. v. 15.05.2012, - L 11 KR 5817/10 -). Ist diese im Rahmen eines Zusammenspiels von ärztlicher Kunst und Arzneimittelgabe ebenso wichtig wie das Wirkprinzip des in den Körper eingebrachten Stoffes, liegt in jedem Fall eine über die schlichte Verabreichung eines Arzneimittels hinausgehende ärztliche Behandlungsmethode vor. Die Anforderungen des Krankenversicherungsrechts sind dann ggf. im Erlaubnisverfahren nach § 135 Abs. 1 SGB V vom Gemeinsamen Bundesausschuss zu prüfen. Dessen krankenversicherungsrechtliche Prüfung kommt zur (bei Fertigarzneimitteln notwendigen - zu Behandlungen mit zulassungsfreien Rezepturarzneimitteln auch BSG, Urt. v. 13.10.2012, - B 6 KA 48/09 R -) arzneimittelrechtlichen Prüfung durch die hierfür zuständige Verwaltungsbehörde hinzu (vgl. BSG Urt. v. 19.10.2004, - B 1 KR 27/02 R -). Eine als ärztliche Behandlung ambulant durchgeführte Pharmakotherapie mit zulassungspflichtigen (Fertig)Arzneimitteln unterliegt, sofern es sich um eine neue Behandlungsmethode i. S. d. § 135 Abs. 1 SGB V handelt, daher auch dem in dieser Vorschrift festgelegten Erlaubnisvorbehalt. Für solche Pharmakotherapien besteht eine Leistungspflicht der Krankenkasse erst dann, wenn die aus dem Arzneimittelrecht folgenden leistungsrechtlichen Mindestvoraussetzungen und die krankenversicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine neue Behandlungsmethode kumulativ erfüllt sind, wenn also weder das arzneimittelrechtliche Verkehrsverbot noch der krankenversicherungsrechtliche Erlaubnisvorbehalt das verwendete Arzneimittel erfasst (BSG Urt. v. 19.10.2004, - B 1 KR 27/02 -).

Hier soll das Arzneimittel CellCept zur begleitenden systemischen Behandlung des okulären Pemphigoids der Klägerin, einer Autoimmunerkrankung, verabreicht werden. Die aus dem Wirkstoff des Arzneimittels (MMF) freigesetzte Wirksubstanz (Mycophenolatsäure) hemmt selektiv die die Zellteilung von T- und B-Lymphozyten und moduliert so die Immunreaktion des Körpers. Dadurch soll der Fortschrift der Autoimmunerkrankung der Klägerin verhindert werden (vgl. näher das MDK-Gutachten des Dr. B. vom 29.06.2011). Die Verabreichung des Arzneimittels CellCept ist damit zwar Bestandteil der aus mehreren Komponenten, wie der zusätzlichen Verabreichung von Augentropfen (Dexamethason- und Ciclosporin-A-Tropfen), bestehenden ärztlichen Behandlung der Augenerkrankung der Klägerin. Die ärztliche Tätigkeit tritt aber gegenüber dem Wirkprinzip des in den Körper eingebrachten Wirkstoffes von CellCept ganz in den Hintergrund und beschränkt sich auf die Entwicklung und Überprüfung des Behandlungsplans hinsichtlich der bei der Klägerin angewandten reinen Pharmakotherapie. Der krankenversicherungsrechtliche Erlaubnisvorbehalt des § 135 Abs. 1 SGB V für die Anwendung neuer ärztlicher Behandlungsmethoden ist daher zusätzlich zu dem arzneimittelrechtlichen Verkehrsverbot und seinen Folgewirkungen für das Krankenversicherungsrecht (dazu sogleich) nicht anzuwenden.

2.) Die Beklagte ist zur Gewährung des Arzneimittels CellCept zur systemischen Behandlung des okulären Pemphigoids der Klägerin weder gem. §§ 27 Abs. 1 Satz und Satz 2 Nr. 3, 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V (unten a) noch nach Maßgabe der Grundsätze des Off-Label-Use von Arzneimitteln (unten b) verpflichtet.

a) Gem. § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln zur Krankenbehandlung nach § 27 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 SGB V, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen sind. Der (krankenversicherungsrechtliche) Arzneimittelbegriff in §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 31 SGB V knüpft an den (verwaltungsrechtlichen) Arzneimittelbegriff des Arzneimittelgesetzes (AMG) an. Dieser ist in der Begriffsbestimmung des § 2 Abs. 1 AMG festgelegt. Arzneimittel im Sinne des AMG sind namentlich die Fertigarzneimittel (§ 4 Abs. 1 AMG), also Arzneimittel, die im Voraus hergestellt und in einer zur Abgabe an den Verbraucher bestimmten Packung in den Verkehr gebracht werden. (Fertig-)Arzneimittel (§§ 2 Abs. 1, 4 Abs. 1 AMG) bedürfen gem. § 21 Abs. 1 AMG grundsätzlich der arzneimittelrechtlichen Zulassung; sie stellen Arzneimittel auch im Sinne des Krankenversicherungsrechts dar. Da das Krankenversicherungsrecht hinsichtlich der Arzneimittelversorgung der Versicherten - anders als bei ärztlichen Behandlungsmethoden (§ 135 Abs. 1 SGB V) - weitgehend auf eigenständige Vorschriften zur Qualitätssicherung verzichtet (vgl. BSG, Urt. v. 01.03.2011, - B 1 KR 7/10 R -; Urt. v. 19.10.2004, - B 1 KR 27/02 R -), ist - sofern die arzneimittelrechtliche Zulassung erteilt und damit Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Arzneimittels nach § 1 AMG im dafür vorgesehenen Verwaltungsverfahren nachgewiesen worden sind - von der gesetzlich geforderten Arzneimittelsicherheit bzw. von der Qualität und Wirksamkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) und regelmäßig auch von der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 12 Abs. 1 SGB V) des Arzneimittels auszugehen. Ist die arzneimittelrechtliche Zulassung hingegen nicht erteilt, ist das Arzneimittel vom Leistungsanspruch des Versicherten grundsätzlich nicht umfasst (BSG, Urt. v. 08.11.2011, - B 1 KR 19/10 R -). Zu Qualität und Wirkungsweise eines Arzneimittels müssen nämlich zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen in dem Sinne vorliegen, dass der Erfolg der Behandlungsmethode in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Anzahl von Behandlungsfällen belegt ist. Da der Wirksamkeitsnachweis im Rahmen eines Arzneimittelzulassungsverfahrens zu erbringen ist, ist aus einer nicht bestehenden Zulassung (auch) auf eine nicht vorhandene Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit zu schließen (vgl. BSG, Urt. v. 28.02.2008, - B 1 KR 15/07 R -; Urt. v. 18.05.2004, - B 1 KR 21/02 R -; Urt. v. 27.09.2005, - B 1 KR 6/04 R -). Außerdem wäre das nicht zugelassene Arzneimittel nur unter Verletzung des Arzneimittelrechts und damit durch rechtswidriges Handeln zu beschaffen (vgl. BSG, Urt. v. 23.05.2000, B 1 KR 2/99 R -); hierauf kann sich der Leistungsanspruch des Versicherten nicht erstrecken. Die arzneimittelrechtliche Zulassung erfolgt anwendungsbezogen (vgl. etwa §§ 22 Abs. 1 Nr. 6, 29 Abs. 3 Nr. 3 AMG).

Das der Klägerin (weiter) zu verabreichende Arzneimittel CellCept mit dem Wirkstoff MMF ist, wie Dr. B. im MDK-Gutachten vom 29.06.2011 und vom 07.04.2014 dargelegt hat, arzneimittelrechtlich (im Kombination mit anderen Arzneimitteln) ausschließlich zur Prophylaxe von akuten Transplantat-Abstoßungsreaktionen bei Patienten mit allogener Nieren-, Herz- oder Lebertransplantation, nicht jedoch für die Anwendung zur systemischen Behandlung des okulären Pemphigoids zugelassen. Hierüber streiten die Beteiligten auch nicht. Damit steht das arzneimittelrechtliche Verkehrsverbot des AMG mit seinen Folgewirkungen für das Krankenversicherungsrecht einem Leistungsanspruch der Klägerin aus § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V entgegen.

b) Der Off-Label-Use von Arzneimitteln ist in Abschnitt K der Arzneimittel-Richtlinien (in der Fassung des Beschlusses vom 14.04.2011, BAnz. Nr. 86 S. 2052) auf der Grundlage der § 35b und 35c SGB V näher geregelt worden (richtlinienrechtlicher Off-Label-Use). Daneben gelten die in der Rechtsprechung entwickelten Maßgaben für den Off-Label-Use fort (richterrechtlicher Off-Label-Use; vgl. nur etwa BSG, Urt. v. 03.07.2012, - B 1 KR 25/11 R -).

Im Hinblick auf den richtlinienrechtlichen Off-Label-Use hat der Gemeinsame Bundesausschuss die Arzneimittel-Richtlinien durch den Abschnitt K (Verordnungsfähigkeit von zugelassenen Arzneimitteln in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten) um den § 30 bzw. den Abschnitt L (Verordnungsfähigkeit der zulassungsüberschreitenden Anwendung von Arzneimitteln in klinischen Studien gem. § 35c SGB V) um die §§ 31-39 ergänzt. Gem. § 30 Abs. 1 Nr. 1 und 2 der Arzneimittel-Richtlinien setzt die Verordnung zugelassener Arzneimittel in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten voraus, dass die Expertengruppen nach § 35b Abs. 3 Satz 1 SGB V - mit Zustimmung des pharmazeutischen Unternehmers - eine positive Bewertung zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis über die Anwendung dieser Arzneimittel in den nicht zugelassenen Indikationen oder Indikationsbereichen als Empfehlung abgegeben haben, die der Gemeinsame Bundesausschuss in die Arzneimittel-Richtlinien übernommen hat. Die entsprechende Positivliste findet sich in Anlage 6 Teil A der Arzneimittel-Richtlinien. Arzneimittel zur Anwendung in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten, die nach Bewertung der Expertengruppen nicht dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis entsprechen oder die medizinisch nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, werden ebenfalls indikationsbezogen aufgeführt. Die entsprechende Negativliste findet sich in Anlage 6 Teil B der Arzneimittel-Richtlinien (§ 30 Abs. 5 der Arzneimittel-Richtlinien).

Der Gemeinsame Bundesausschuss hat das Arzneimittel CellCept (unstreitig) nicht in die Positivliste nach Anlage 6 Teil A der Arzneimittel-Richtlinien aufgenommen, so dass der Leistungsanspruch der Klägerin auf den richtlinienrechtlichen Off-Label-Use nicht gestützt werden kann. Das hat Dr. B. im MDK-Gutachten vom 29.06.2011 bestätigt.

Nach Maßgabe des weiterhin geltenden richterrechtlichen Off-Label-Use (vgl. auch Fn. 2 zur Überschrift des Abschnitt K der Arzneimittel-Richtlinien sowie BVerfG, Beschl. v. 30.06.2008, - 1 BvR 1665/07 -; BSG, Urt. v. 03.07.2012, - B 1 KR 25/11 R -: Avastin zur Behandlung des Makulaödems) kommt die Verordnung eines Arzneimittels in einem anderen von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet in Betracht, wenn (1.) es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, (2.) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn (3.) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Die Anforderungen an das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung bleiben zwar hinter den Anforderungen des Krankheitskriteriums bei der grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungskatalogs (dazu unten 3) zurück, sind aber gleichwohl erheblich. Nicht jede Art von Erkrankung kann den Anspruch auf eine Behandlung mit dazu nicht zugelassenen Arzneimitteln begründen, sondern nur eine solche, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt (BSG, Urt. v. 26.09.2006, - B 1 KR 14/06 R -). Für die Erfüllung der unter 3. genannten Voraussetzung müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder wenn außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSG, Urt. v. 03.07.2012, - B 1 KR 25/11 R -; Urt. v. 19.03.2002, - B 1 KR 37/00 R -, Urt. v. 26.09.2006, - B 1 KR 1/06 R - und - B 1 KR 14/06 R -; Urt. v. 28.02.2008, - B 1 KR 15/07 R -). In beiden Fällen (innerhalb und außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens) ist das Schutzniveau aber gleich; Maßstab sind jeweils die qualitativen Anforderungen an Phase-III-Studien (insoweit klarstellend: BSG, Urt. v. 08.11.2011, - B 1 KR 19/10 R -). Leitlinien und Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften genügen für sich allein grundsätzlich nicht (BSG, a. a. O.).

Danach kann die - unstreitig an einer die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung leidende - Klägerin die Gewährung des Arzneimittels CellCept zur Behandlung des okulären Pemphigoids auch im Rahmen des richterrechtlichen Off-Label-Use nicht beanspruchen. Es fehlt (jedenfalls) an der hierfür in der Rechtsprechung aufgestellten dritten Voraussetzung, nämlich einer aus der Datenlage feststellbaren begründeten Aussicht auf einen (kurativen) Behandlungserfolg. Wie aus dem MDK-Gutachten des Dr. B. vom 29.06.2011 hervorgeht und unter den Beteiligten auch nicht streitig ist, gibt es zwar einschlägige wissenschaftliche Veröffentlichungen und offene klinische Studien, die durchaus auf eine Wirksamkeit des Arzneimittels CellCept bzw. seines Wirkstoffs MMF in der Behandlung des okulären vernarbenden Pemphigoids hindeuten. Randomisierte, kontrollierte Studien der Phase III liegen indessen nicht vor und es besteht in den einschlägigen Fachkreisen auch kein dem Evidenzniveau von Phase-III-Studien gleichkommender Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen der in Rede stehenden Therapie aufgrund zuverlässiger, wissenschaftlich nachprüfbarer Aussagen. Prof. Dr. R. hat das Fehlen von Phase-III-Studien im Berichten vom 23.01.2012 und im Arztbrief vom 05.02.2013 bestätigt und im ergänzenden Bericht vom 15.03.2012 dargelegt, dass das Evidenzniveau der vorliegenden Studien nach der Einteilung des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin dem Level 4 zuzuordnen ist, während für die arzneimittelrechtliche Zulassung der Evidenzlevel 1 verlangt wird.

3.) Die Klägerin kann die (Weiter-)Gewährung des Arzneimittels CellCept aber gem. § 2 Abs. 1a SGB V bzw. nach Maßgabe der Grundsätze des BVerfG und des BSG über die grundrechtsorientierte Auslegung des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung beanspruchen.

Gem. § 2 Abs. 1a SGB V können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V abweichende, insbesondere also eine in Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse (noch) nicht entsprechende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Die Krankenkasse erteilt für Leistungen nach § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V vor Beginn der Behandlung eine Kostenübernahmeerklärung, wenn Versicherte oder behandelnde Leistungserbringer dies beantragen. Mit der Kostenübernahmeerklärung wird die Abrechnungsmöglichkeit der Leistung festgestellt.

Für Auslegung und Anwendung des § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V sind die Maßgaben der Rechtsprechung des BVerfG und des BSG zur grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungskatalogs heranzuziehen (Senatsurteil vom 14.03.2012, - L 5 KR 5406/11 -). In seinem Beschluss vom 06.12.2005 (- B 1 BvR 347/98 -) hat es das BVerfG für mit dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar erklärt, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Die zu einem solchen Ergebnis führende Auslegung der leistungsrechtlichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts sei in der extremen Situation krankheitsbedingter Lebensgefahr (im vom BVerfG entschiedenen Fall durch die Duchenne`sche Muskeldystrophie) verfassungswidrig. Das BSG hat diese verfassungsgerichtlichen Vorgaben seiner Rechtsprechung zugrunde gelegt und näher konkretisiert. Danach - so etwa BSG Urt. v. 07.11.2006 - B 1 KR 24/06 R -; Urt. v. 04.04.2006 - B 1 KR 7/05 R - verstößt die Leistungsverweigerung der Krankenkasse unter Berufung darauf, eine bestimmte neue ärztliche Behandlungsmethode sei im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen, weil der zuständige Gemeinsame Bundesausschuss diese noch nicht anerkannt oder sie sich zumindest in der Praxis und in der medizinischen Fachdiskussion noch nicht durchgesetzt habe, gegen das Grundgesetz, wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind: Es liegt (1.) eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Krankheit (BSG, Urt. v. 16.12.2008, - B 1 KN 3/07 KR R -; Übersicht bei BSG, Urt. v. 5.5.2009, - B 1 KR 15/08 R -) vor. Der Fall drohender Erblindung (nicht jedoch bloß hochgradiger Sehstörungen) ist der lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar (vgl. BSG, Urt. v. 20.04.2010, - B 1/3 KR 22/08 R -; BSG, Urt. v. 05.05.2009, - B 1 KR 15/08 R -). Für diese Krankheit steht (2.) eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung. Beim Versicherten besteht (3.) hinsichtlich der ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Es muss eine durch nahe Lebensgefahr gekennzeichnete individuelle Notlage gegeben sein, wobei das BVerfG es in einer speziellen Situation (Apharesebehandlung in einem besonderen Fall) hat ausreichen lassen, dass die Erkrankung voraussichtlich erst in einigen Jahren zum Tod führt (BVerfG, Beschl. 06.02.2007, - 1 BvR 3101/06 -).

Diese Grundsätze sind auf die Arzneimittelversorgung übertragen worden. Sie können ggf. einen Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln begründen, die arzneimittelrechtlich noch gar nicht oder nicht für den in Rede stehenden Anwendungsbereich zugelassen sind. Ergänzend hat das BSG - im Hinblick auf die Versorgung mit Arzneimitteln - aber dargelegt, dass an das Krankheits-Kriterium (im Sinne der vorstehend unter 1. genannten Voraussetzung) strengere Anforderungen zu stellen sind als an das Kriterium der schwerwiegenden Erkrankung für die Eröffnung des Off-Label-Use (vgl. BSG, Urt. v. 08.11.2011, - B 1 KR 19/10 R -; auch BSG, Urt. v. 13.10.2010, - B 6 KA 48/09 R -). Hinsichtlich des Erfolgsaussichten-Kriteriums (im Sinne der vorstehend unter 3. genannten Voraussetzung) darf kein Verstoß gegen das Arzneimittelrecht vorliegen, muss der voraussichtliche Nutzen unter Berücksichtigung des gebotenen - in Abhängigkeit von Krankheitsschwere und Krankheitsstadium abgestuften - Wahrscheinlichkeitsmaßstabs bei der vor der Behandlung erforderlichen sowohl abstrakten als auch speziell auf den Versicherten bezogenen konkreten Analyse und Abwägung von Chancen und Risiken überwiegen und ist die Behandlung auch im Übrigen den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend durchzuführen und ausreichend zu dokumentieren (BSG, Urt. v. 04.04.2006, - B 1 KR 7/05 R -). Schließlich ist die Einwilligung des Versicherten nach der erforderlichen Aufklärung notwendig (BSG, a. a. O.).

Hier sind die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V unter Berücksichtigung der Maßgaben (insbesondere) der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nach Auffassung des Senats erfüllt.

a) Die Klägerin leidet (unstreitig) zwar nicht an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung. Ihr droht wegen der Erkrankung an einem okulären Pemphigoid aber die Erblindung, so dass ihre Erkrankung der lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung i. S. d. § 2 Abs. 1a SGB V wertungsmäßig vergleichbar ist. Das okuläre Pemphigoid führt unbehandelt mit hoher Wahrscheinlichkeit, wenngleich bei unterschiedlich langer Krankheitsdauer zum Verlust des Visus und damit zur Erblindung. Hierüber herrscht unter den Beteiligten ersichtlich im Kern kein Streit. Dr. B. hat im MDK-Gutachten vom 29.06.2011 ausgeführt, die Prognose des Sehvermögens sei in historischen Kollektiven (also ohne adäquate Behandlung) schlecht gewesen mit beidseitiger Blindheit im Verlauf von 10 bis 30 Jahren. Im MDK-Gutachten vom 07.04.2014 hat er (nochmals) bestätigt, dass das okuläre Pemphigoid unbehandelt sehr häufig nach mehreren Jahren zur Erblindung führt, wobei es langsam fortschreitende Krankheitsverläufe, aber auch Krankheitsverläufe mit rascher Progression gibt. Dass der bei der Klägerin ohne ausreichende Therapie zu erwartende individuelle Krankheitsverlauf und das ihr konkret drohende Erblindungsrisiko - gerade wegen der von Anfang an durchgeführten systemischen (Begleit-)Behandlung mit dem Arzneimittel CellCept - nicht sicher eingeschätzt werden kann, ist unschädlich. Dr. B. hat im MDK-Gutachten vom 29.06.2011 jedenfalls hervorgehoben, dass bei der Klägerin auch unter der nach der Erstdiagnose des okulären Pemphigoids aufgenommenen multiplen Therapie einschließlich der systemischen Therapie mit CellCept weiterhin typische Veränderungen mit Zeichen von Krankheitsaktivität aufgetreten sind, was darauf schließen lässt, dass es ohne die systemische CellCept-Therapie zu einem (noch) deutlich ausgeprägteren Krankheitsverlauf, möglicherweise dann auch mit Einschränkungen des Sehvermögens gekommen wäre. Prof. Dr. R. hat im Arztbrief vom 26.07.2011 zusätzlich das fortgeschrittene Krankheitsstadium der Klägerin betont und im Fall der weiteren Progredienz des Krankheitsbildes auf drohende Lidfehlstellungen, rezidivierende Epitheldefekte, Keratitiden, Hornhautulzera- bis -perforationen und schließlich den drohenden Visusverlust (Erblindung) verwiesen. Ergänzend hat Prof. Dr. R. im Bericht vom 13.03.2014 klargestellt, dass Versuche der Absetzung von CellCept zu rasch zunehmender Vernarbung der Bindehaut und am Ende zu Benetzungsstörungen, zur Bewegungsunfähigkeit des Auges und schließlich zur Erblindung führen. Nach Auffassung des Senats ist bei dieser Sachlage nicht von einem eher abstrakten und (auch zeitlich) fern liegenden (vgl. etwa BSG, Beschl. v. 29.06.2006, - B 1 KR 16/06 B - zit. Bei BSG, Urt. v. 05.05.2009, - B 1 KR 15/08 R -: drohende Erblindung in 20 bis 30 Jahren wegen Stoffwechselstörungen), sondern von einem ausreichend konkreten Erblindungsrisiko und damit vom Vorliegen einer wertungsmäßig mit tödlichen Erkrankungen vergleichbaren Erkrankung auszugehen.

b) Für die Behandlung der Augenerkrankung der Klägerin und die Abwendung der ihr drohenden Erblindung steht eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung. Der Senat entnimmt das den vorliegenden Arztberichten und MDK-Gutachten.

Die Behandlung des okulären Pemphigoids der Klägerin allein mit lokal wirkenden Arzneimitteln (Augentropfen) ist ersichtlich nicht ausreichend, um das weitere Fortschreiten der Erkrankung und die drohende Erblindung der Klägerin aufzuhalten. Vielmehr bedarf es dazu zusätzlich der systemischen Behandlung. Diese setzt - wegen der Eigenart des okulären Pemphigoids als Autoimmunerkrankung - folgerichtig an der Immunabwehr des Körpers an, die moduliert bzw. (teilweise) unterdrückt werden muss. Zu diesem Zweck wird die Zellteilung von T- und B-Lymphozyten durch die aus dem Wirkstoff von CellCept (MMF) freigesetzte Wirksubstanz Mycophenolatsäure selektiv gehemmt. Dr. B. hat das im MDK-Gutachten vom 29.06.2011 näher dargelegt. Die Notwendigkeit einer ergänzenden systemischen Behandlung ist unter den Beteiligten in der Sache auch nicht streitig. Prof. Dr. R. hat im Arztbrief vom 26.07.2011 insoweit betont, die systemische Gabe (hier) von MMF (CellCept) bilde einen wichtigen Therapiebestandteil. Prof. Dr. R. hat im Bericht vom 13.03.2014 ergänzend dargelegt, Absetzversuche im Hinblick auf die systemische (Begleit-)Therapie führten zu rasch zunehmender Vernarbung der Bindehaut mit Benetzungsstörungen, Bewegungsunfähigkeit des Auges und schließlich zur drohenden Erblindung. Dr. B. hat in seinen MDK-Gutachten die grundsätzliche Notwendigkeit der immunmodulierenden systemischen Therapie nicht in Abrede gestellt, sondern, etwa in seinen Berichten zur einschlägigen Studienlage, jeweils implizit vorausgesetzt. Er hat indessen angenommen, hierfür stünden andere (zugelassene) Arzneimittel zur Verfügung, so dass es der Anwendung von CellCept mit dem Wirkstoff MMF auf der Grundlage des § 2 Abs. 1a SGB V nicht bedürfe. Dem kann sich der Senat jedoch nicht anschließen. Dr. B. ist zunächst im MDK-Gutachten vom 29.06.2011 (noch) selbst davon ausgegangen, dass für die Behandlung des okulären Pemphigoids der Klägerin die Standardtherapie, insbesondere mit zur systemischen Behandlung arzneimittelrechtlich zugelassenen Glukocortikoiden, ausgeschöpft ist. Prof. Dr. R. hat im Arztbrief vom 26.07.2011 präzisierend dargelegt, man habe eine systemische Steroidtherapie (mit Cortikoiden) auch versucht, diese jedoch wegen schwerer systemischer Nebenwirkungen wieder ausschleichen müssen. Diese Art der teilweise in der Behandlung des okulären Pemphigoids angewandten systemischen Therapie scheidet daher vorliegend als Therapiealternative aus. Dr. B. hat das im MDK-Gutachten vom 07.04.2014 nicht in Abrede gestellt, sondern stattdessen auf das Arzneimittel Dapson als Therapiealternative verwiesen. Dies kann allerdings schon deshalb nicht überzeugen, weil Dr. B. im gleichen MDK-Gutachten dargelegt hat, Dapson werde aufgrund enttäuschender Erfahrungen als wenig empfehlenswert eingestuft. Dann kann es aber nicht angehen, die an einer schwerwiegenden Erkrankung leidende Versicherte, der die Erblindung droht, auf eine Therapie mit dem wenig empfehlenswerten und damit der Sache nach als wenig tauglich eingestuften Arzneimittel zu verweisen.

c) Für die systemische Behandlung des okulären Pemphigoids mit dem Arzneimittel CellCept (bzw. dem Wirkstoff MMF) besteht schließlich auch eine auf Indizien gestützte nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Das ist unter den Beteiligten (wiederum) in der Sache nicht streitig. Dr. B. hat das im MDK-Gutachten vom 07.04.2014 und auch bereits im MDK-Gutachten vom 29.06.2011 angenommen und sich hierfür zutreffend auf vorliegende Studien und retrospektive Fallserien gestützt. Diese deuten auf eine Wirksamkeit von MMF in der Behandlung des okulären vernarbenden Pemphigoids hin (so MDK-Gutachten vom 29.06.2011). Auch Prof. Dr. R. hat diese Einschätzung im Arztbrief vom 26.07.2011 und im Bericht vom 23.01.2012 bestätigt. Danach hatte (bspw.) eine große retrospektive Fallserie an 223 Augen von 115 Patienten mit Schleimhautpemphigoid gezeigt, dass CellCept als Monotherapie ein wirksames und nebenwirkungsarmes Medikament in der Behandlung von mäßig aktiven Schleimhautpemphigoiden darstellt. Hierüber besteht in den einschlägigen Fachkreisen offenbar auch Konsens. Das genügt. Anders als bei dem Off-Label-Use eines Arzneimittels sind für dessen Anwendung nach Maßgabe des § 2 Abs. 1a SGB V bzw. der grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungskatalogs Wirksamkeitsnachweise auf dem Evidenzniveau von Phase-III-Studien nicht notwendig (vgl. auch etwa Senatsurteil vom 19.03.2014, - L 5 KR 1496/13 -: Krebsbehandlung durch dendritische Zellen). Ein Verstoß gegen das Arzneimittelrecht liegt nicht vor und aus dem vorstehend Gesagten folgt auch, dass der voraussichtliche Nutzen der systemischen CellCept-Behandlung sowohl bei einer abstrakten wie auf den Fall der Klägerin bezogenen konkreten Abwägung von Chancen und Risiken überwiegt; darüber herrscht unter den Beteiligten ebenfalls kein Streit.

d) Nach Auffassung des Senats scheitert der Leistungsanspruch der Klägerin aus § 2 Abs. 1a SGB V im vorliegenden (Einzel-)Fall auch nicht daran, dass gegenwärtig unter der von Anfang an durchgeführten und nach wie vor ununterbrochen stattfindenden systemischen (Dauer-)Therapie mit CellCept ein akute Erblindungsgefahr nicht besteht. Der Klägerin ist im Hinblick auf den grundrechtlichen Hintergrund des in § 2 Abs. 1a SGB V geregelten (besonderen) Leistungstatbestands auch nicht abzuverlangen, die offenkundig erfolgreiche Behandlung vorübergehend zu beenden und die Erkrankung einstweilen fortschreiten zu lassen, damit die Krankheitsentwicklung (durch den MDK) in unbehandeltem Zustand beurteilt werden kann.

Die Regelung des § 2 Abs. 1a SGB V nimmt insoweit eine Sonderstellung im Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung ein, als sie (auch) im Hinblick auf die grundrechtsfundierte Pflicht des Staates zum Schutz von Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG) für extreme Ausnahmefälle die Leistungspflicht der Krankenkassen auf Leistungen erstreckt, die abweichend von § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V hinsichtlich Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse (ggf. noch) nicht entsprechen und die daher an sich im Normalfall vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung nicht umfasst sind. § 2 Abs. 1a SGB V darf daher auf der einen Seite nicht zu weit ausgelegt werden. Andernfalls bestünde die Gefahr, das im Gesetz und in Richtlinien (etwa des Gemeinsamen Bundesausschusses) differenziert ausgeformte und auch mit Schutzmechanismen zur Abwehr von Gefahren für die Versicherten versehene Leistungsrecht letztendlich unter "Durchgriff" auf das Grundrecht auf Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und die Schaffung gleichsam grundrechtsunmittelbar fundierter Leistungsansprüche zu unterlaufen. Dem wird wesentlich dadurch begegnet, dass der Leistungsanspruch aus § 2 Abs. 1a SGB V naturgemäß nicht in (krankenversicherungsrechtlichen) Normal- und auch noch nicht in Ausnahmefällen, sondern nur in Extremfällen besteht. Es muss, insoweit in Kombination eines sachlichen und eines zeitlichen Moments, grundsätzlich eine durch nahe Lebensgefahr gekennzeichnete individuelle Notlage gegeben sein (vgl. auch BT-Drs. 17/6906 S. 53). Auf der anderen Seite steht der grundrechtliche Hintergrund des Leistungsanspruchs aus § 2 Abs. 1a SGB V mit dem besonders engen Bezug zur Pflicht des Staates, die Grundrechtsgüter, hier das Leben und die Gesundheit als Höchstwert, wirksam zu schützen, aber auch einer zu restriktiven Handhabung des § 2 Abs. 1a SGB V entgegen. Deswegen hat der Senat etwa im Senatsurteil vom 19.03.2014 (- L 5 KR 1496/13 -) die Krebsbehandlung mit dendritischen Zellen - entgegen der insoweit zu engen Sichtweise des MDK und der Krankenkassen - als vom Leistungsanspruch des Versicherten aus § 2 Abs. 1a SGB V umfasst angesehen. Der Senat sieht sich dabei im Einklang mit dem Grundgedanken der höchstrichterlichen Rechtsprechung insbesondere des BVerfG zur grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung. So hat das BVerfG zwar einerseits betont, es müsse eine durch nahe Lebensgefahr gekennzeichnete individuelle Notlage vorliegen und das BSG hat eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem "gewissen Zeitdruck" zum Ausdruck kommenden Problematik verlangt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch sei, was bedeute, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen müsse, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen werde (BSG, Urt. v. 14.12.2006, - B 1 KR 12/06 R -) Andererseits ist das die Extremsituation des Versicherten kennzeichnende Zeitmoment aber auch sachbezogen differenziert und nicht abstrakt im Sinne einer etwa grundsätzlich nach wenigen Wochen oder Monaten bemessenen (Höchst-)Zeitspanne gehandhabt worden. Das BVerfG hat im Beschluss vom 06.02.2007 (- 1 BvR 3101/06 -: Apharesebehandlung) für die Annahme einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage etwa ausreichen lassen, dass die Erkrankung voraussichtlich erst in einigen Jahren zum Tod führt (insoweit aber relativierend wiederum BVerfG, Beschl. v. 26.03.2014, - 1 BvR 2415/13 - im Hinblick auf die Bezugnahme im Beschluss vom 06.02.2007, a. a. O. auf den Beschluss vom 06.12.2005, - 1 BvR 347/98 -).

Im Hinblick darauf muss nach Auffassung des Senats vorliegend auch eine Extremsituation im vorstehend beschriebenen Sinn angenommen werden. Prof. Dr. R. und Prof. Dr. R. sind sich in der Sache darüber einig, dass der Klägerin wegen der Erkrankung an einem okulären Pemphigoid ohne ausreichende - auch systemische - Behandlung die Erblindung droht, wobei der endgültige Verlust des Augenlichts möglicherweise erst in einigen Jahren, aber auch in einer kürzeren Zeitspanne eintreten kann; eine genauere Verlaufsprognose ist ersichtlich nicht möglich, nach Maßgabe der dargestellten Rechtsgrundsätze aber hier auch entbehrlich. Der Krankheitsfortschritt der Autoimmunerkrankung der Klägerin ist - so die auch durch Kontrolluntersuchungen gestützte und schlüssige Einschätzung der behandelnden Ärzte - durch die von Anfang an (seit der Erstdiagnose) aufgenommene systemische, das Immunsystem der Klägerin gezielt modulierende Behandlung mit CellCept (nach erfolgloser, weil zu nebenwirkungsreicher systemischer Behandlung mit Glukokorticoiden) im Wesentlichen aufgehalten und in einen (labilen) Verharrungszustand überführt worden. Dieser Verharrungszustand wird aber bei Beendigung oder Aussetzung der systemischen Behandlung mit CellCept mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder in Bewegung geraten und die Pemphigoid-Erkrankung wird wieder zu dem Endzustand der Erblindung hin voranschreiten. Prof. Dr. R. hat hierzu im Bericht vom 13.03.2014 betont, dass für die Klägerin - auch wenn die Erblindungsgefahr angesichts des durch die Therapie erreichten Verharrungszustands der Erkrankung derzeit nicht nahe ist - ohne Therapie ein sehr hohes Erblindungsrisiko besteht. Dr. B. hat dem in seinen MDK-Gutachten in der Sache nicht substantiiert widersprochen, vielmehr darauf abgestellt, man möge in einem Absetzversuch eruieren, welchen Krankheitsverlauf die Erkrankung der Klägerin - dann in systemisch unbehandeltem Zustand - nimmt. Er hat sich dafür ersichtlich an der im Arztbrief des Prof. Dr. R. vom 05.05.2010 ausgesprochenen Anregung zu einer versuchsweisen Ausschleichung von CellCept orientiert. Einen solchen Ausschleichversuch haben die behandelnden Ärzte der Klägerin in der Folgezeit freilich nicht unternommen, sondern, ersichtlich unter Abwägung von Nutzen und Risiken, die immunmodulierende systemische Behandlung der Klägerin mit CellCept lückenlos fortgeführt, um den einmal erreichten Verharrungszustand nicht zu gefährden. Prof. Dr. R. hat im Arztbrief vom 11.05.2011 an der versuchsweisen Ausschleichung von CellCept auch nicht mehr festgehalten, sondern angesichts der Ergebnisse der durchgeführten Kontrolluntersuchung die Fortsetzung der Therapie empfohlen. Bei dieser Sachlage kann es der Klägerin nicht abverlangt werden, einen Ausschleichversuch nicht aus medizinischen, sondern letztendlich allein aus (verfahrens-)rechtlichen Gründen zu unternehmen, damit der für die (Weiter-)Gewährung der Krankenbehandlung maßgebliche Sachverhalt besser aufgeklärt werden kann. Letzteres hat Dr. B. in seinen MDK-Gutachten vom 29.06.2011 und vom 07.04.2014 in der Sache postuliert. Aus der Weigerung, einen Ausschleichversuch dieser Art zu unternehmen bzw. den (vorübergehenden) Abbruch der systemische Therapie als wesentliches Element der Behandlung des okulären Pemphigoids zur weiteren Sachaufklärung zu dulden, dürfen Schlussfolgerungen zu Lasten der Klägerin nicht gezogen, darf insbesondere das Vorliegen der den Leistungsanspruch aus § 2 Abs. 1a SGB kennzeichnenden individuellen Notlage im Sinne einer Extremsituation nicht verneint werden.

4.) Da die Klägerin die Gewährung des Arzneimittels CellCept danach gem. § 2 Abs. 1a SGB V beanspruchen kann, kann der Senat offen lassen, ob sie den Leistungsanspruch auch auf die Grundsätze zum so genannten "Seltenheitsfall" stützen könnte (dazu näher BSG, Urt. v. 03.07.2012, - B 1 KR 25/11 R -; auch Urt. v. 30.06.2009, - B 1 KR 5/09 R -). Dagegen spricht jedenfalls, dass es zur Erforschung des okulären Pemphigoids jedenfalls Publikationen und Studien gibt. Dr. B. hat im MDK-Gutachten vom 07.04.2014 hierzu dargelegt, bei einer Literaturrecherche habe er 1207 Veröffentlichungen gefunden, darunter 3 randomisierte kontrollierte Studien und 32 weitere klinische Studien. Offenbar ist es danach - ungeachtet der von Prof. Dr. R. im Bericht vom 05.02.2013 dargelegten Zweifeln - möglich, größere Patientenkollektive mit okulärem Pemphigoid zu untersuchen, wobei freilich - so Dr. B. (a. a. O.) - Phase-III-Studien als multizentrische Studien mit erheblichem Forschungsaufwand wohl in internationalem Rahmen angelegt werden müssten. Nähere Feststellungen zur Erforschbarkeit des okulären Pemphigoids hinsichtlich Ursache und Therapiemöglichkeiten muss der Senat im vorliegenden Verfahren nicht treffen; es kommt entscheidungserheblich hierauf nicht an.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved