L 1 U 1928/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 11 U 1020/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 1928/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 01.04.2015 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Erhöhung der Verletztenrente aufgrund eines anerkannten Arbeitsunfalls vom 28.08.1959 wegen einer Verschlimmerung der Unfallfolgen streitig.

Der 1948 geborene Kläger erlitt als 11-jähriger Schüler am 28.08.1959 im landwirtschaftlichen Betrieb seiner Eltern einen von der Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden einheitlich als Beklagte bezeichnet) anerkannten Arbeitsunfall, als er mit seinem linken Fuß in das Einwurfloch einer Dreschmaschine geriet, wodurch der linke Fuß bis zur Wade abgerissen wurde.

Im ersten Befundbericht vom 04.09.1959 gab der Chirurg Dr. N. an, der linke Unterschenkel sei in der distalen Hälfte abgerissen, der herausragende Knochen sei zersplittert bzw. zertrümmert und die Weichteile stark zerfetzt. Es sei eine Amputation am linken Unterschenkel in 14 cm Entfernung vom Kniegelenk vorgenommen worden. Der Stumpf habe sich gut decken lassen. Im Kniegelenk bestünden keinerlei Bewegungseinschränkungen. Im ersten Rentengutachten vom 17.02.1960 gab Facharzt für Chirurgie Dr. C. beim Befund an, der linke Unterschenkel sei 15 cm unterhalb des linken Knies abgesetzt. Es finde sich ein gut gepolsterter und reizloser prothesengerechter Stumpf und eine 12 cm lange Narbe. Das Kniegelenk sei frei beweglich. Es bestehe eine deutliche Muskelatrophie am linken Oberschenkel (Differenz 5,5 cm). Vom 28.08.1959 bis 28.11.1959 schätze er die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 100 v.H. und vom 29.11.1959 für die Dauer eines Jahres auf 60 v.H ... Die Beklagte holte sodann das zweite Rentengutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. B. vom 26.09.1961 ein, wonach bei der vergleichenden Betrachtung beider Beine eine deutliche Muskelminderung des linken Bein- es auffalle. Der Stumpf sei reizlos und ausreichend gepolstert. In der Stumpfmitte befinde sich ein gut beweglicher, haselnussgroßer derber Tumor, der äußerst berührungsempfindlich sei und einem Neurinom entspreche. Die Sensibilität oder Motorik am amputierten Bein sei nicht gestört. Die grobe Kraft sei beim Seitenvergleich mit rechts um ein Drittel herabgesetzt. Die Beweglichkeit des Knie- und Hüftgelenkes links sei frei und ungestört. Die Prothese liege gut und insgesamt beschwerdefrei an. Er schätze die MdE auf 50 v.H ... Es handele sich jedoch nur um eine Übergangsschätzung, da unter der Voraussetzung eines günstigen Unterschenkelstumpfes bei guter und moderner Prothesenversorgung wahrscheinlich auf Dauer eine MdE von 40 v.H. resultieren werde. Die Beklagte gewährte daraufhin mit Bescheid vom 22.12.1960 eine vorläufige Rente ab dem 28.11.1959 aufgrund einer MdE von 60 v.H. und ab dem 01.12.1960 aufgrund einer MdE von 50 v.H ...

Zur Feststellung einer Dauerrente holte die Beklagte das Gutachten des Dr. B. vom 26.09.1961 ein. Dieser gab bei der Befundung an, das linke Bein sei bedeutend dünner als das rechte (Differenz 4,5 cm). Am Amputationsstumpf selbst fänden sich keine Rötungen durch eventuelle Druckstellen der Prothese. Der Unterschenkelstumpf sei reizlos. In der Stumpfmitte befinde sich ein etwa kirschkerngroßes sehr druckschmerzhaftes Neurinom. Die Umgebung des kleinen Tumors sei aber völlig reizlos. Am Amputationsstumpf sowie am linken Oberschenkel fänden sich keine trophischen, motorischen oder Sensibilitätsstörungen. Die grobe Kraft sei nicht wesentlich gemindert. Die Beweglichkeit des linken Beines im Hüft- und Kniegelenk sei frei. Der Gang des Klägers mit Prothese sei gut und gewandt. Er schätze die MdE auf 40 v.H ... Aufgrund dieses Ergebnisses gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 26.10.1961 eine Verletztenrente ab dem 01.12.1961 aufgrund einer MdE von 40 v.H ... Als Unfallfolge wurde festgestellt: "Verlust des linken Unterschenkels im mittleren Drittel".

Der Kläger absolvierte sodann eine kaufmännische Lehre im Groß- und Außenhandel und war im Anschluss daran im Agrarhandelsunternehmen Z. zunächst als Kaufmann, dann als Prokurist und ab 1996 als Geschäftsführer und Anteilseigner beschäftigt. Das Unternehmen musste Anfang 2010 Insolvenz anmelden. Seit dem 01.04.2010 bezieht der Kläger eine Altersrente für Schwerbehinderte aus der gesetzlichen Rentenversicherung.

Bereits im November 1981 hatte der Kläger einen Antrag auf Gewährung einer höheren Verletztenrente nach einer MdE von 50 v.H. gestellt. Zur Begründung reichte er seinen Schwerbehindertenausweis ein, wonach ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 bestehe. Die Beklagte holte daraufhin das Gutachten des Prof. Dr. S. vom 26.04.1982 ein, wonach der linke Oberschenkel deutlich verschmächtigt sei. Im Stehen habe sich eine angedeutete rechtskonvexe Verbiegung der Wirbelsäule ohne Verspannungszustände und ohne degenerative Veränderungen gezeigt. Die grobe Kraft sei links gegenüber dem rechten Bein herabgesetzt. Gegenüber dem Vorbefund sei jedoch keine Änderung eingetreten. Hierauf gestützt lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 11.06.1982 die Gewährung einer höheren Verletztenrente ab.

Am 07.07.2010 beantragte der Kläger bei der Beklagten erneut die Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 50 v.H ... Zur Begründung gab er an, hauptsächlich im Bereich seiner rechten Hüfte und auch im Rückenbereich seien massive Verschlechterungen eingetreten. Zudem habe er in zunehmenden Maße Phantomschmerzen im Stumpfbereich. Nach dem die Beklagte einen Befundbericht beim behandelnden Arzt Dr. S. eingeholt hatte, lehnte sie mit Bescheid vom 23.10.2010 den Antrag auf Rentenerhöhung ab. Es sei keine Verschlimmerung eingetreten. Allein auf den Zeitablauf seit dem Unfallgeschehen könne keine Verschlimmerung begründet werden.

Mit seinem Widerspruch hiergegen wies der Kläger im Wesentlichen darauf hin, dass die Bewertung des GdB und der MdE gleichlaufen müsse. Zur weiteren Begründung legte er das Gutachten des Dr. A. vom 12.05.2011 vor, welcher nach einer ambulanten Untersuchung die unfallbedingte MdE auf 60 v.H. schätzte. Nachdem der Beratungsarzt Dr. J. in seiner Stellungnahme vom 14.02.2011 die Auffassung vertreten hatte, dass eine wesentliche Veränderung des Befundes nicht erkennbar sei, holte die Beklagte das Gutachten des Orthopäden und Unfallchirurgen Prof. Dr. Sf vom 02.08.2011 ein. Dieser gab an, der Kläger habe keine neurologischen Ausfallserscheinungen beklagt. Es bestünde eine asymmetrische Bemuskelung der unteren Extremität. Die Umfangmasse der linken unteren Extremität sei gegenüber der rechten Extremität deutlich verringert (Differenz zwischen 6 bis 8 cm). Eine Untersuchung der Gelenkbeweglichkeit der unteren Extremitäten sei wegen einer muskulären Anspannung durch den Kläger erschwert. Soweit beurteilbar sei die Beweglichkeit der Hüft-, Knie-, Sprung- und Zehengelenke frei erhalten, wobei eine geringe Einschränkung der Außenrotation im rechten Hüftgelenk bestehe. Die Röntgenuntersuchung habe im Bereich der rechten Hüfte eine altersentsprechende degenerative Veränderung gezeigt. Im Bereich der Wirbelsäule liege eine dezente linkskonvexe Skoliose im Lendenwirbelbereich vor. Es sei weiterhin von einer MdE von 40 v.H. auszugehen. Mit Widerspruchsbescheid vom 23.02.2012 wies die Beklagte den Widerspruch sodann zurück. Eine wesentliche Änderung im Hinblick auf die in dem Bescheid vom 26.10.1961 zugrundeliegenden Verhältnissen sei nicht eingetreten. Dem Gutachten des Dr. A. vom 12.05.2011 sei nicht zu folgen. Aus dem Gutachten des Prof. Dr. Sf und den Stellungnahmen von Dr. S. und Dr. J. ergebe sich vielmehr, dass weiterhin eine unfallbedingte MdE in Höhe von 40 v.H. bestehe, zumal sich weder im Bereich der Lendenwirbelsäule noch im Bereich der rechten Hüfte eine ausgeprägte Funktionseinschränkung gezeigt habe.

Hiergegen hat der Kläger am 26.03.2012 Klage beim Sozialgericht Ulm (SG) erhoben und geltend gemacht, er leide unter erheblichen Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule sowie im Bereich der Hüfte. Er führe dies auf die jahrelange Fehlhaltung nach der Amputation zurück. Darüber hinaus liege ein massiver Phantomschmerz vor. Bei schlechten Narbenverhältnissen, Durchblutungsstörungen am Stumpf, schlechter Weichteildeckung und anderen Störungen (Schmerzen) komme eine Erhöhung der MdE um bis zu 20 v.H. in Betracht. Wegen seiner anhaltenden Minderwertigkeitsgefühle durch den erlittenen Unfall im Jahr 1959 und der Insolvenz des Unternehmens Z. habe er am 03.03.2010 eines Suizidversuch unternommen.

Das SG hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts zunächst sachverständige Zeugenaussagen eingeholt. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. M. hat angegeben (Auskunft vom 12.09.2012), er behandle den Kläger seit November 2010. Der Kläger habe wegen seiner Minderwertigkeitsgefühle einen fast schon übersteigerten Ehrgeiz mit hohem Engagement im ehrenamtlichen und beruflichen Bereich entwickelt. Durch die unverschuldet eingetretene Insolvenz seien die über lange Zeit durch Erfolg und Ehrgeiz kompensierten Minderwertigkeitsgefühle wieder reaktiviert worden, was sich in einer depressiven Symptomatik, welche bereits seit 2010 zu verzeichnen sei, manifestiert habe. Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. M2 hat ausgeführt (Auskunft vom 01.10.2012), der Kläger sei mit einer gut angepassten Prothese versorgt. Er habe sich damit gut arrangiert. Er laufe mit der Prothese flüssig. Allerdings bestünden Phantomschmerzen.

Das SG hat sodann - nachdem für die Beklagte der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. O. dahingehend Stellung genommen hatte (Stellungnahme vom 19.11.2012), dass keine außergewöhnlichen Schmerzen nachgewiesen seien und erst ab dem Jahr 2010 psychische Probleme bestünden - das Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Palliativmedizin Dr. N. vom 29.01.2013 eingeholt. Danach habe der Kläger angegeben, nach seiner Berentung im April 2010 Schmerzen im Bereich der rechten Beckenhälfte/Hüfte zu verspüren, die bis in den Oberschenkel vorne zögen. Im Bereich der Lendenwirbelsäule habe er immer mal wieder Schmerzen ohne ausstrahlenden Charakter. Seine Phantomschmerzen würden abklingen, wenn er arbeite oder sich anderweitig beschäftige. Bei der Befundung hat Dr. N. ausgeführt, im Bereich des linken Oberschenkels liege eine deutliche Atrophie im Seitenvergleich vor (Differenz 11,5 cm). Die Untersuchung habe eine Läsion des Nervus femoralis (im Folgenden: NF) mit chronisch-neurogenem Umbau im Bereich des Musculus vastus medialis links sowie eine Atrophie der Oberschenkelmuskulatur links gezeigt. Dies sei eine Unfallfolge. Als unfallabhängig seien auch das Grundschmerzsyndrom (Stumpfschmerzen) sowie das Wurzelreizsyndrom L5 rechts anzusehen. Unfallunabhängig liege eine leichte axonale Polyneuropathie, eine mittelgradige depressive Episode und pseudoradikuläre lumbale Beschwerden vor. Der Zustand des Klägers sei (analog) mit dem Verlust des Oberschenkels im unteren Drittel zu vergleichen, was zu einer MdE von 60 v.H. führe.

Für die Beklagte hat Dr. O. Stellung genommen (Stellungnahme vom 28.06.2013), der darauf hingewiesen hat, dass eine unfallbedingte NF-Läsion unwahrscheinlich sei, da diese bereits seit August 1959, das heißt am Unfalltag, hätte vorliegen müssen. Es sei erstaunlich, dass zu keinem Zeitpunkt eine entsprechende Läsion gesehen worden sei. Auch sei nach Aktenlage bislang keine Schwäche der Hüftbeugung angegeben worden. Im Übrigen bestehe rechts ebenfalls eine (unfallunabhängige) Hüfteinschränkung. Das SG hat daraufhin die ergänzende Stellungnahme der Dr. N. vom 21.08.2013 eingeholt, wonach eine Unterschenkelstumpf-Restfunktion nicht bestehe. Die Untersuchung habe eine deutliche Schwäche der Hüftbeuger links entsprechend einem Kraftgrad 4/5 gezeigt. Sie sei aber gerne bereit, nochmals eine elektromyographische Untersuchung durchzuführen. Nachdem das SG diese Untersuchung in Auftrag gegeben hatte, hat Dr. N. in ihrem ergänzenden Gutachten vom 30.08.2013 über die elektromyographische Untersuchung berichtet. Diese Untersuchung habe einen deutlichen chronisch-neurogenen Umbau gezeigt. Sie gehe davon aus, dass es im Rahmen des Unfallereignisses am 28.08.1959 zu einer Läsion des NF gekommen sei. Ihrer Einschätzung der MdE resultiere aber nur zum Teil aus der zusätzlichen Schädigung des NF. Zum anderen beruhe sie auch darauf, dass der Unterschenkelstumpf keine Restfunktion mehr habe und damit eine Analogie mit dem Verlust des Oberschenkels im mittleren unteren Drittel gerechtfertigt sei. Die Diagnose einer Polyneuropathie halte sie aber nach der neuerlichen Untersuchung nicht mehr für zutreffend. Die Nervenleitgeschwindigkeiten seien als normwertig anzusehen.

Nachdem für die Beklagte Dr. O. in seiner Stellungnahme vom 13.01.2014 darauf hingewiesen hatte, dass der NV keine Muskeln unterhalb des Knies versorge und seiner Hauptfunktion in der Beugung des Oberschenkels im Hüftgelenk liege, hat das SG das Gutachten des Orthopäden Dr. B. vom 27.05.2014 eingeholt. Dieser hat angegeben, die Haltung des Klägers sei durch eine nur geringe skoliotische Fehlhaltung der Lendenwirbelsäule bei einer Beinverkürzung rechts um ca. 1 cm gekennzeichnet. Die Hüften seien beidseits endgradig schmerzhaft eingeschränkt, rechts etwas ausgeprägter als links. Ansonsten seien sie aktiv und passiv frei beweglich. Auch die Beweglichkeit der Kniegelenke sei aktiv und passiv frei (Beugung/Streckung: rechts 130/0/5, links 130/0/5). Die Stumpfnarbe sei reizlos. Es liege ein Narbenneurinom "am ehesten dem N. peronaeus entsprechend" vor. Die Weichteildeckung sei insgesamt spärlich. Er schätze die MdE der Unfallfolgen ab dem Verschlimmerungsantrag auf 50 v.H. ein. Der Zustand sei vergleichbar mit einer Knieexartikulation. Der Stumpf weise eine ungenügende Weichteildeckung auf, insbesondere gehe die muskuläre Deckung gegen Null. Es bestehe jetzt eindeutig ein schmerzhaftes Stumpfneurinom. Auch sei die Oberschenkelmuskulatur massiv hypotrophiert, wobei es für die Bewertung der MdE einerlei sei, ob die Muskelhypotrophie lähmungs- oder schonungsbedingt sei. Die Muskelminderung betrage im Oberschenkel maximal 12 cm, die Kraft bezüglich der Hüftbeugung und der Kniestreckung sei auf 3/5 "kraftgradig" gemindert. Insbesondere in den Muskelverhältnissen am linken Oberschenkel sei mithin eine Änderung eingetreten. Aktuell habe sich auch ein Stumpfneurinom ausgebildet.

Für die Beklagte hat der Arzt für Chirurgie Dr. Sr Stellung genommen (Stellungnahme vom 16.07.2014) und darauf hingewiesen, dass der Kläger mit seinem 15 cm langen Unterschenkelstumpf - trotz der eingeschränkten Weichteildeckung - besser gestellt sei, als ein Verletzter, bei dem der Unterschenkel im Kniegelenk habe abgesetzt werden müssen. Denn der Kläger sei in der Lage, seinen Unterschenkelstumpf aktiv im Kniegelenk zu strecken und zu beugen. Die Annahme von Dr. B., der Kläger müsse so gestellt werden, wie ein Versicherter, bei dem eine Entfernung des Unterschenkels im Kniegelenk erforderlich gewesen sei, sei nicht gerechtfertigt. Eine wesentliche Befundverschlechterung zwischen 1961 und 2014 liege trotz des über 50-jährigen Verlusts des Unterschenkels links nicht vor. Bei einer fehlenden unfallbedingten gravierenden Beinlängendifferenz seien sekundäre Auswirkungen auf die Brust-/Lendenwirbelsäule unwahrscheinlich. Auch sei eine unfallbedingte Achsabweichung im Bereich der linken unteren Gliedmaße auszuschließen.

Das SG hat daraufhin das Gutachten der Neurologin und Psychiaterin Dr. A2 vom 24.11.2014 eingeholt. Diese ist zu der Einschätzung gelangt, ein relevantes Schmerzsyndrom liege nicht vor. Der Kläger nehme auch keine Schmerzmittel ein. Eine Polyneuropathie bestehe ebenfalls nicht. Die Peronaeus-Nervenleitgeschwindigkeit sei nicht beeinträchtigt gewesen. Für sie sei aus nervenärztlicher Sicht nicht eindeutig nachvollziehbar, dass sich im Hinblick auf die Verhältnisse von 1961 eine relevante Änderung ergeben habe. Für die depressive Störung seien externe Vorkommnisse als Ursache anzunehmen. Darüber hinaus sei die depressive Störung jetzt weitgehend abgeklungen und ein vollständiges Absetzen der Psychopharmaka sei geplant. Somit sei die depressive Störung remittiert. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die jetzt weitgehend abgeklungene depressive Episode von 2010 wesentlich durch den Unfall von 1959 mitverursacht worden sei. Insgesamt liege eine MdE von 40 v.H. vor.

Mit Urteil vom 01.04.2015 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 23.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.02.2012 abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 28.08.1959 nach einer MdE von 50 v.H. ab dem 01.08.2010 in gesetzlicher Höhe zu bewilligen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es liege eine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i.V.m. § 73 Abs. 3 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) vor. Vergleichsmaßstab sei der Bescheid vom 20.10.1961. Diesem liege das Gutachten des Dr. B. vom September 1961 zugrunde. Im Vergleich hierzu sei nunmehr ein wesentlich schlechterer Zustand zu verzeichnen. Es liege eine massive Verschlechterung der Muskelverhältnisse am linken Oberschenkel gegenüber 1961 mit zusätzlicher Kraftminderung und Auftreten eines Stumpfneurinoms vor. Es könne dahinstehen, ob die Muskelatrophie lähmungs- oder schonungsbedingt sei. Denn jedenfalls sei sie Folge der anerkannten Gesundheitsstörungen. Neben diesen auf orthopädischem Fachgebiet festgestellten Verschlechterungen der Unfallfolgen im Bereich der Weichteildeckung des Stumpfes, der Muskelminderung, der Gang- und Standunsicherheit und den Schwierigkeiten bei der Prothesenversorgung sei zudem eine Nervenlähmung als weitere neurologische Befundverschlechterung eingetreten. Dies ergebe sich aus den Gutachten der Dr. N. und ihrer ergänzenden Stellungnahme. Danach bestehe eine Läsion des NV. Die extreme Muskelatrophie könne auch nicht durch eine unfallabhängige Polyneuropathie bedingt sein, da Dr. N. eine solche nicht mehr habe bestätigen können. Im Hinblick auf die Bewertung der MdE sei zu berücksichtigen, dass eine vollständige Lähmung des NF eine MdE von 30 bis 40 v.H. bedinge. Eine partielle Läsion führe zu einer MdE von 20 bis 25 v.H ... Bei integrierender Betrachtung ergebe sich eine Gesamt-MdE von 50. Der Kläger müsse so gestellt werden, als ob er einen Verlust des Unterschenkels im Kniegelenk bewältigen müsse. Auf psychischem oder psychiatrischem Fachgebiet lägen allerdings keine Unfallfolgen vor, was sich aus dem Gutachten der Dr. A2 ergebe. Das Urteil wurde der Beklagten am 24.04.2015 zugestellt.

Hiergegen richtet sich die am 07.05.2015 beim Landessozialgericht (LSG) eingelegte Berufung der Beklagten, mit der sie geltend macht, das SG habe ihr rechtliches Gehör verletzt, da sie Dr. O. nicht als "gerichtlichen Sachverständigen" zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 12.02.2014 (dem ursprünglichen Termin) geladen habe. Das SG habe aber in seiner Urteilsbegründung darauf verwiesen, dass die Stellungnahmen des Dr. O. nicht geeignet seien, die Befunderhebungen der Dr. N. zu widerlegen, da dieser nur nach Aktenlage und ohne Untersuchung seine Stellungnahmen verfasst habe. Hierin liege ein Verstoß gegen verfahrensrechtliche Anforderungen und mithin eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Darüber hinaus sei dem Gutachten der Dr. N. nicht zu folgen. Der von ihr vermutete Nervenausriss hätte zu gravierenden Lähmungserscheinungen führen müssen. Dementsprechend hätte der linke Oberschenkel in der Hüfte nicht mehr gebeugt werden können und auch eine Streckung des verbliebenen Unterschenkelstumpfes wäre nicht mehr möglich gewesen. Entsprechende Befunde seien jedoch im Rahmen der stationären Behandlung vom 28.08. bis 29.09.1959 nicht erhoben worden. Mithin sei die Annahme der Dr. N. widerlegt. Die Primärverletzung habe auch nicht zu einer Nervenschädigung geführt. Das Verschlechterungsmerkmal "Stumpfneurinom" sei bereits im gutachterlichen Vergleichsbefund enthalten und daher so nicht nachvollziehbar. Soweit das SG von einer wesentlichen Kraftminderung ausgegangen sei, sei dies nicht überzeugend. Denn bei der Begutachtung durch Prof. Dr. Sf sei die Muskelanspannung derart stark gewesen, dass es dem Gutachter kaum möglich gewesen sei, die unteren Extremitäten zu untersuchen. Zur weiteren Begründung hat die Beklagte die Stellungnahmen des Orthopäden Dr. T. vom 03.06. und 04.10.2015 vorgelegt, wonach eine wesentliche Verschlimmerung im Vergleich zu den Befunden aus dem Jahr 1961 nicht zu erkennen sei. Allein eine Zunahme der Muskelminderung reiche als Begründung hierfür nicht aus, zumal keine Bewegungseinschränkung vorliege. Eine höhere MdE könne auch nicht mit einer verminderten Muskelkraft begründet werden, da solche Prüfungen wesentlich von der Mitarbeit der Probanden abhingen und mithin gutachterlich nicht verwertbar seien. Darüber hinaus unterliege die Umfangmessung der Extremitäten einer sehr hohen Messfehlerbreite.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 01.04.2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Dr. O. sei ein beratender Arzt der Beklagten und mithin kein gerichtlicher Sachverständiger, sodass er auch nicht zur mündlichen Verhandlung vor dem SG habe geladen werden müssen. Zu berücksichtigen sei, dass sämtliche Beratungsärzte der Beklagten ihre Aussagen nur nach Aktenlage träfen. Das SG habe zudem den Sachverhalt vollständig ausermittelt. Das Beweisergebnis stütze sein Begehren.

Der Senat hat die ergänzende Stellungnahme des Dr. B. vom 09.08.2015 eingeholt. Bezüglich des Stumpfneurinoms habe er sich zugegebenermaßen offensichtlich getäuscht. Dieses sei bereits im Jahr 1961 beschrieben worden. Die Beweglichkeit im linken Hüft- und Kniegelenk sei zwar frei gewesen. Der Wert "3/5" beziehe sich auf die Kraftgrade bei der Beugung im Hüftgelenk und der Streckung im linken Kniegelenk. Auch habe Dr. T. Recht, dass alleine durch die Alterung mit einer Minderung der Muskelmasse zu rechnen sei. Allerdings betreffe eine solche beide unteren Extremitäten. Die einseitige Muskelminderung sei ein Hinweis darauf, dass sich der Kläger in der Prothese nicht mehr belasten könne, was eine Erhöhung der MdE von 40 auf 50 v.H. rechtfertige.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie auf die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist statthaft und zulässig. Sie ist auch begründet. Das SG hat zu Unrecht den Bescheid der Beklagten vom 23.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.02.2012 (§ 95 SGG) abgeändert, denn die Entscheidung der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer Verletztenrente nach einer höheren MdE als 40 v.H., weil eine wesentliche Änderung der Verletzungsfolgen nicht vorliegt.

Der Senat weist vorab daraufhin, dass das SG das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz) der Beklagten nicht verletzt hat. Denn dieses war nicht verpflichtet, Dr. O. als "gerichtlichen Sachverständigen" in die mündliche Verhandlung zu laden. Bei einer beratungsärztlichen Stellungnahme handelt es sich um einen qualifizierten Beteiligtenvortrag und nicht um einen Sachverständigenbeweis (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.02.2013 - L 9 U 3739/12, bestätigt durch BSG, Beschluss vom 04.07.2013 - B 2 U 79/13 B; jeweils in juris). Soweit sich die Beklagte auf den Beschluss des BSG vom 24.07.2012 (B 2 U 100/12 B = SozR 4-1500 § 160 Nr. 24) bezieht, geht dieser Hinweis ins Leere, da die dortige Entscheidung die mündliche Anhörung eines gerichtlichen Sachverständigen betraf. Darüber hinaus ist vorliegend auch von einem Rügeverzicht nach § 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 295 Zivilprozessordnung (ZPO) auszugehen, da die Beklagte ihren Antrag nicht bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung des SG am 01.04.2015 aufrecht erhalten hat (vgl. Keller in Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 RdNr. 18 m.w.N.). Dies entnimmt der Senat der Niederschrift des SG über die mündliche Verhandlung vom 01.04.2015.

Die Beklagte war nicht verpflichtet, auf Antrag des Klägers den Bescheid vom 26.10.1961 wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse aufzuheben. Denn eine wesentliche Änderung der Verletzungsfolgen kann der Senat nicht feststellen.

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (hier der Bescheid vom 26.10.1961) mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Nach Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 der Vorschrift soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt. Hierbei ist die Sonderregelung in § 73 Abs. 3 SGB VII zu berücksichtigen, weil diese Vorschrift auch für Versicherungsfälle gilt, die vor Inkrafttreten des SGB VII am 01.01.1997 eingetreten sind (§ 214 Abs. 3 Satz 2 SGB VII). Danach ist bei der Feststellung der MdE eine Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X nur wesentlich, wenn sie mehr als 5 v.H. beträgt. Bei Rente auf unbestimmte Zeit muss die Veränderung der MdE länger als drei Monate andauern.

Eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen ist jede Änderung des für die getroffene Regelung relevanten Sachverhalts, im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung insbesondere Änderungen im Gesundheitszustand des Betroffenen (BSG), Urteil vom 13.02.2013 - B 2 U 25/11 R = NZS 2013, 464). Ob eine Änderung eingetreten ist, ist durch Vergleich der tatsächlichen Verhältnisse zu zwei maßgeblichen Zeitpunkten zu ermitteln. Zunächst ist Vergleichsgrundlage der Zustand, der der letzten verbindlichen Leistungsfeststellung zugrunde lag. Diese maßgebliche letzte Leistungsfeststellung darf ihrerseits nicht in Frage gestellt werden; denn insoweit gilt die Bindungswirkung des § 77 SGG. Die Bindungswirkung erstreckt sich nicht nur auf die Unfallfolgen, sondern auch auf den Grad der durch sie bedingten MdE (BSG, Urteil vom 23.06.1977 - 2 RO 93/75 = SozR 2200 § 622 Nr. 12 = juris RdNr. 15). Sie besteht auch unabhängig davon, ob der Grad der unfallbedingten MdE zu niedrig festgestellt ist, der Bescheid also von Anfang an fehlerhaft war (BSG, a.a.O.). Der danach ermittelte Gesundheitszustand ist mit den bestehenden unfallbedingten Gesundheitsverhältnissen zu vergleichen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Verschlimmerungsantrag vorgelegen haben. Es muss also eine Änderung in den der Leistungsfeststellung zugrundeliegenden medizinischen Befunden eingetreten sein, die regelmäßig den Gutachten zu entnehmen sind. Dabei sind Gutachten und Befundunterlagen, die nicht zu einer verbindlichen Leistungsfeststellung geführt haben (z. B. Nachuntersuchungen, die noch keine Änderung ergeben hatten), unbeachtlich (vgl. Ricke in: Kasseler Kommentar, § 73 SGB VII RdNr. 15, Stand Dezember 2014).

Vergleichsmaßstab ist der Bescheid der Beklagten vom 26.10.1961 und das diesem Bescheid zugrunde liegende Gutachten des Dr. B. vom 26.09.1961, nicht aber der Bescheid vom 11.06.1982 über die Ablehnung der Neufeststellung. Denn die Ablehnung der Neufeststellung ist keine Rentenfeststellung und es handelt sich hierbei auch nicht um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.05.2004 - L 7 U 5091/03 = juris RdNr. 30). Ausgehend hiervon sind im vorliegenden Fall die medizinischen Befunde Vergleichsgrundlage, die der Rentengewährung ab dem 01.12.1961 zugrunde lagen, also die in dem Gutachten des Dr. B. vom 26.09.1961 beschriebenen Befunde aus der Untersuchung vom gleichen Tag. Dr. B. stellte hierbei fest, dass das linke Bein bedeutend dünner war als das rechte. Die Haut war an beiden Beinen normal gefärbt. Am Amputationsstumpf fanden sich keine Rötungen durch eventuelle Druckstellen der Prothese. Der etwa 15 cm lange Unterschenkelstumpf war reizlos, ebenso die Amputationsnarbe. Im interossären Bereich der Unterschenkelknochen links fand er ein etwa kirschkerngroßes, sehr druckschmerzhaftes Neurinom. Die Umgebung des kleinen Tumors war völlig reizlos und die Hauttemperatur erschien seitengleich. Am Amputationsstumpf sowie am linken Oberschenkel fand er keine trophischen, motorischen oder Sensibilitätsstörungen. Die grobe Kraft war nicht wesentlich gemindert. Die Beweglichkeit des linken Beines im Hüft- und Kniegelenk war frei. Der Gang des Klägers war mit Prothese gut und gewandt. Er gelangte insoweit zu einer Einschätzung der MdE von 40 v.H ... All dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Dr. B. vom 26.09.1961.

Vergleicht man die im Verwaltungs- und Klageverfahren erhobenen Befunde mit denen, die Dr. B. im genannten Gutachten erhoben hat, so kann der Senat keine wesentliche Änderung feststellen.

Für den Senat steht fest, dass eine Änderung der Umfangmaße der linken unteren Extremität eingetreten ist. Dies ergibt sich bereits aus dem Gutachten des Prof. Dr. Sf vom 02.08.2011, das im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden kann. Dieser stellte im Wesentlichen eine deutliche Verringerung der Umfangmaße der linken unteren Extremität gegenüber der rechten Extremität fest. Die Differenz lag nach dem Messblatt für untere Gliedmaßen zwischen 6 und 8 cm. Wie sich aus den Gutachten der Dr. N. vom 29.01.2013 und 30.08.2013 sowie aus deren ergänzenden Stellungnahme vom 21.08.2013 ergibt, konnte sie den von Prof. Dr. Sf bereits geschilderten Abbau der Oberschenkelmuskulatur links bestätigen. Sie gelangte bei ihrer Messung zu einer Umfangsdifferenz von 11,5 cm. Auch Dr. B. hat in seinem Gutachten vom 27.05.2014 Umfangsdifferenzen der unteren Extremitäten mit einer Differenz bis zu 12 cm angegeben. Schließlich hat Dr. A2 in ihrem Gutachten vom 24.11.2014 eine ausgeprägte Muskelatrophie im Bereich des linken Oberschenkels bestätigt.

Porf. Dr. S. hat darüber hinaus über eine dezente linkskonvexe Skoliose im Bereich der Lendenwirbelsäule berichtet. Allerdings zeigten die Röntgenbilder im Bereich der Lendenwirbelsäule und der rechten Hüfte nur altersentsprechende degenerative Veränderungen. Die Beweglichkeit der Hüft-, Knie-, Sprung- und Zehengelenke war frei erhalten, wobei die Untersuchung durch die muskuläre Anspannung des Klägers erschwert war. Insgesamt konnte Prof. Dr. Sf weder im Bereich der Lendenwirbelsäule, noch im Bereich der rechten Hüfte eine ausgeprägte Funktionseinschränkung feststellen. Wie sich aus den Gutachten der Dr. N. vom 29.01.2013 und 30.08.2013 sowie aus deren ergänzenden Stellungnahme vom 21.08.2013 weiter ergibt, geht sie von einer einer Läsion des NF, den sie als Ursache für die von ihr erhobene Umfangsdifferenz von Minus 11,5 cm ansieht, aus. Einen Phantomschmerz konnte sie hingehen nicht diagnostizieren. Sie geht insofern von einem chronisch-neurogenen Umbau im Bereich des linken Oberschenkels aus. Dr. B. hat in seinem Gutachten von 27.05.2014 eine freie Hüft- und Kniebeweglichkeit beschrieben sowie eine geringe skoliotische Fehlhaltung. Das rechte Bein weist danach eine Verkürzung um 1 cm auf. Darüber hinaus hat er in seinen Befunden eine spärliche Weichteildeckung des Amputationsstumpfes und ein Narbenneurinom angegeben. Des Weiteren stellte er Kraftminderung der Hüftbeugung der Kniestreckung auf 3/5 Kraftgrade sowie eine Gang- und Standunsicherheit fest. Dr. A2 hat in ihrem Gutachten vom 24.11.2014 eine 4/5-Hüftbeugeschwäche links sowie eine Minderung der Kniestreckung links auf 3/5 im Rahmen ihres neurologischen Untersuchungsbefundes angegeben. Der psychische Befund war hingehen unauffällig, sodass sie ein relevantes Schmerzsyndrom nicht feststellen konnte.

Betrachtet man die von Prof. Dr. Sf, Dr. N. , Dr. B. und Dr. A2 erhobenen Befunde, so kann der Senat im Vergleich zur Befundung des Dr. B. aus dem Jahre 1961 im Wesentlichen nur eine Änderung der Muskulatur der unteren linken Extremität feststellen. Sämtliche Gerichtssachverständigen und Prof. Dr. Sf haben - wie bereits dargelegt - eine Muskelatrophie im linken Oberschenkelbereich beschrieben. Ob diese Muskelatrophie, die im Hinblick auf die von Dr. B. erhobenen Befunde eine Änderung darstellt, letztlich auf eine Läsion des NV zurückzuführen ist, kann der Senat offen lassen, da diese Frage nicht streitentscheidend ist. Denn maßgeblich ist im vorliegenden Fall, dass die Muskelatrophie zu keiner Funktionsstörung geführt hat. Deswegen kommt es auch nicht darauf an, dass die erhobenen Umfangmaße - worauf Dr. T. in seiner Stellungnahme vom 04.10.2015 zu Recht hinweist - nicht einheitlich ausgefallen sind. Denn der Senat ist davon überzeugt, dass die Hüft- und Kniebeweglichkeit im Bereich der linken unteren Extremität hierdurch nicht eingeschränkt ist. Dies entnimmt der Senat insbesondere dem Gutachten des Dr. B ... Danach besteht sowohl am linken als auch am rechten Knie eine Beweglichkeit von 130/0/5 Grad, was nach Dr. B. einen Normalbefund darstellt. Dies deckt sich auch mit dem Befund des Prof. Dr. Sf, der ebenfalls eine freie Beweglichkeit beschrieben hat. Bereits im ersten Befundbericht vom 04.09.1959 von Dr. N. wurde angeben, dass im Kniegelenk keinerlei Bewegungseinschränkungen bestanden. Dies deckt sich mit dem Befund von Dr. C. (erstes Rentengutachten vom 17.02.1960). Und auch Dr. B. hat in seinem hier maßgeblichen Gutachten vom 26.09.1961 keine motorischen Störungen am linken Oberschenkel feststellen können.

Soweit Dr. B. eine Minderung der Hüftbeugung und der Kniestreckung von 3/5 Kraftgrade festgestellt hat, ist darauf hinzuweisen, dass Dr. A2 bezüglich der linken Hüfte nur eine 4/5-Hüftbeugeschwäche feststellen konnte. Der Senat geht mit Dr. T. davon aus (vgl. dessen Stellungnahme vom 04.10.2015), dass die Prüfung der Muskelkraft wesentlich von der Mitarbeit des Klägers abhängt. Bereits Prof. Dr. Sf hat aber in diesem Zusammenhang beschrieben, dass der Kläger in der Lage war, seine Muskulatur derart anzuspannen, dass eine Untersuchung der Hüft- und Kniegelenksbeweglichkeit nicht ohne Schwierigkeiten möglich war. Der Senat ist daher nicht davon überzeugt, dass tatsächlich eine (von der subjektiven Mitarbeit unabhängige) Minderung der Muskelkraft im Bereich der linken unteren Extremität vorliegt. Selbst wenn jedoch von einer entsprechenden Kraftminderung auszugehen ist, so hat diese nicht zu wesentlichen Funktionsstörungen geführt. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Dr. B., wonach die Hüft- und Kniebeweglichkeit aktiv und passiv frei war.

Die festgestellte Muskelminderung im Bereich der linken unteren Extremität stellt aber keine wesentliche Änderung dar, denn sie begründet keine höhere MdE als 40 v.H ...

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen oder geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII), d.h. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (BSGE 1, 174, 178; BSG SozR 2200 § 581 Nr. 22). Für die Bewertung einer unfallbedingten MdE kommt es auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen oder geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfall- bzw. Berufskrankheitsfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet (BSG, Urt. vom 26.06.1985 - 2 RU 60/84 -, in: SozR 2200 § 581 RVO Nr. 23 m.w.N.; BSG, Urt. vom 19.12.2000 - B 2 U 49/99 R -, in: HVBG-Info 2001, 499). Die Sachkunde des ärztlichen Sachverständigen bezieht sich in erster Linie darauf, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Folgen des Unfalls oder der Berufskrankheit beeinträchtigt sind. Schlüssige ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind zwar bedeutsame Anhaltspunkte, besitzen aber keine bindende Wirkung, auch wenn sie eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE darstellen (BSG, Urteil vom 05.09.2006, - B 2 U 25/05 R = SozR 4-2700 § 56 Nr. 2. Bei der Bewertung der MdE sind schließlich auch die in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung und dem versicherungsrechtlichen oder versicherungsmedizinischen Schrifttum ausgearbeiteten Erfahrungssätze zu beachten, um eine gerechte und gleiche Bewertung der zahlreichen Parallelfälle der täglichen Praxis zu gewährleisten.

In der gutachterlichen Praxis wird nach Amputationen bei der Einschätzung der MdE die Strukturverletzung zugrunde gelegt, ohne sie von der Funktion abhängig zu machen. Die Funktionsbewertung wird im Sinne einer Durchschnittsbewertung nämlich mit einbezogen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, S. 691). Liegen "besondere" Funktionsstörungen vor, sind diese zusätzlich zu berücksichtigen. Der Verlust des Unterschenkels an typischer Stelle - wie vorliegend beim Kläger - am Übergang vom mittleren zum unteren Drittel (Stumpflänge von mehr als 10 cm) wird danach mit einer MdE von 40 bewertet (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 692). Bei schlechten Narbenverhältnissen, Durchblutungsstörungen am Stumpf, schlechter Weichteildeckung und anderer Störungen (Schmerzen) kommen Erhöhungen bis zu 20 % in Betracht. Die Muskelatrophie kann danach nicht zu einer Erhöhung der MdE-Werte führen, wenn sie nicht "besondere" Funktionseinschränkungen oder Schmerzen, die über das normale (in der MdE-Schätzung bereits enthaltene) Maß hinausgehen. Wie der Senat bereits dargelegt hat, können vorliegend keine entsprechenden Funktionsstörungen festgestellt werden. Soweit Dr. N. davon ausgeht, dass der Verlust des Unterschenkels mit Atrophie des Oberschenkels (in Analogie) mit dem Verlust des Oberschenkels im mittleren und unteren Drittel gleichzusetzen sei, findet dies in der unfallrechtlichen Literatur keine Grundlage. Die Sachverständige hat sich bei ihrer Einschätzung zwar auf das bereits zitierte Werk von Schönberger/Mehrtens/Valentin bezogen, jedoch ohne eine genaue Fundstelle anzugeben. Der Senat kann indes dem genannten Werk (S. 691 ff.) nicht entnehmen, dass der Verlust eines Unterschenkels mit Atrophie des Oberschenkels dem Verlust des Oberschenkels im mittleren und unteren Drittel, der mit einer MdE von 60 v.H. eingeschätzt wird, gleichzusetzen ist. Ein relevantes Schmerzsyndrom, das zu einer Erhöhung der MdE führen könnte, kann der Senat ebenfalls nicht feststellen. Dabei stützt er sich auf das Gutachten der Dr. A2 vom 24.11.2014, die das Vorliegen eines solchen Schmerzsyndroms nachvollziehbar und schlüssig verneint hat.

Nachdem der Kläger aber bei einem 15 cm langen Unterschenkelstumpf sowohl die Hüfte als auch das Knie frei bewegen kann, kann der Senat auch der Auffassung des Dr. B., wonach der Kläger einem Versicherten gleichzustellen sei, bei dem der Unterschenkel im Kniegelenk abgesetzt werden musste, nicht folgen. Der Senat stützt sich hierbei auf die (ebenfalls im Wege des Urkundenbeweises verwertbaren) Ausführungen von Dr. Sr in seiner Stellungnahme vom 16.07.2014. Er hat für den Senat nachvollziehbar und schlüssig ausgeführt, dass bei einem Verlust des Unterschenkels im Kniegelenk zusätzliche Verbindungselemente zwischen dem körpernahen und körperfernen Prothesenschaftanteil erforderlich werden, die über eine zusätzliche Kinematik bzw. Hydraulik gesteuert werden müssten. Der Kläger ist hingegen in der Lage, ohne eine zusätzliche Kinematik bzw. Hydraulik seinen Unterschenkelstumpf aktiv im Kniegelenk zu strecken und zu beugen. Dies hat der Senat bereits dargelegt.

Soweit Dr. B. ursprünglich eine wesentliche Änderung der Verhältnisse darin gesehen hat, dass der Kläger an einem Narbenneurinom leidet, hat er übersehen, dass dies bereits Dr. B. in seinem Gutachten vom 26.09.1961 festgestellt hat und insoweit keine wesentliche Änderung eingetreten ist. Dies hat Dr. B. auch in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 09.08.2015 bestätigt.

Überlastungsschäden als Amputationsfolge kann der Senat ebenfalls nicht feststellen. Soweit Prof. Dr. Sf eine linkskonvexe Skoliose im Bereich der Lendenwirbelsäule und Dr. B. eine skoliotische Fehlhaltung der Lendenwirbelsäule diagnostiziert haben, so führt dies nicht zu einer Höherbewertung der MdE. Zwar wird in der unfallrechtlichen Literatur vertreten, dass bei amputationsbedingten Skoliosen eine Höherbewertung der MdE um 10 % vertretbar sein kann (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 695 m.w.N.; kritisch Thomann/ Schröter/Grosser, Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung, 2. Aufl 2013, S. 226). Allerdings wurde die beim Kläger vorhandene Skoliose von Prof. Dr. Sf als "dezent" und von Dr. B. als "gering" beschrieben. Beide haben keine hierdurch bedingten wesentlichen Funktionsstörungen beschrieben, sodass allein deswegen eine Höherbewertung der MdE nicht in Betracht kommt. Denn nur wenn eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen der Wirbelsäule vorliegt (was hier nicht der Fall ist), ist eine Anhebung der MdE gerechtfertigt (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 698). Insofern führt auch das von Dr. N. diagnostizierte Wurzelreizsyndrom L5 rechts, das sie als unfallbedingt beschreibt, nicht zu einer Höherbewertung der MdE. Denn ihren Gutachten kann nicht entnommen werden, dass es hierdurch zu wesentlichen Veränderungen bzw. zu besonderen Funktionseinschränkungen gekommen ist. So hat sie in ihrem Gutachten vom 29.01.2013 angegeben, dass nur ein "leichtes" chronisches Wurzelreizsymptom L5 vorliegt, das zu keinen Lähmungserscheinungen geführt hat.

Soweit das SG seine Einschätzung der Gesamt-MdE auf die von Dr. N. angegebene Läsion des NF stützt, vermag dies nicht zu überzeugen. Zwar hat das SG zutreffend darauf hingewiesen, dass ein vollständiger Ausfall des NF eine MdE von 30 bis 40 v.H. und eine teilweise Läsion eine MdE von 20 bis 25 v.H. rechtfertigt (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 230). Die MdE-Erfahrungswerte beziehen sich aber auf den vollständigen Ausfall des betroffenen Nervs, d.h. bei einer Schädigung des NF müsste eine Quadrizepslähmung festgestellt werden können (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 226). Eine Quadrizepslähmung lässt sich jedoch den vorliegenden Gutachten und Befundberichten in keiner Weise entnehmen. Auch Anhaltspunkte für eine teilweise Quadrizepslähmung liegen nicht vor.

Auch eine wesentliche Änderung auf psychischem bzw. psychiatrischem Fachgebiet kann nicht festgestellt werden. Die beim Kläger zeitweise aufgetretene depressive Störung lässt sich nicht mit Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall vom 28.08.1959 wesentlich zurückführen. Der Senat stützt sich insoweit auf das Gutachten der Dr. A2 vom 24.11.2014. Sie hat nachvollziehbar und schlüssig ausgeführt, dass eine relevantes Schmerzsyndrom nicht vorliegt und die depressive Störung remittiert ist. Der Kläger hat ihr gegenüber auch angegeben, dass er keine Schmerzmittel einnimmt, sodass der Senat die Einschätzung der Dr. A2 im Hinblick auf das Fehlen eines relevanten Schmerzsyndroms für nachvollziehbar und schlüssig hält. Vor dem Jahr 2010 sind keine psychischen Behandlungen aktenkundig. Insoweit hält der Senat die Einschätzung der Dr. A2 für überzeugend, dass der Suizidversuch im Jahr 2010 durch unfallunabhängige Vorkommnisse, nämlich die Insolvenz der Firma Z., ausgelöst wurde. Rechtlich wesentliche Ursache für die depressive Störung, die zum Zeitpunkt der Untersuchung durch Dr. A2 im November 2014 bereits weitgehend abgeklungen war, ist danach nicht der im August 1959 erlittene Arbeitsunfall.

Auf die Berufung der Beklagten war mithin das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 SGG), liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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