Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 5 R 600/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 2841/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zur (zulässigen) Zurückverweisung in die Verwaltung, wenn der
Rentenversicherungsträger zur Entscheidung über einen
Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente noch die
behandelnden Ärzte befragen und mindestens ein, ggf sogar mehrere
ärztliche Sachverständigengutachten einholen muss.
Rentenversicherungsträger zur Entscheidung über einen
Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente noch die
behandelnden Ärzte befragen und mindestens ein, ggf sogar mehrere
ärztliche Sachverständigengutachten einholen muss.
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 19.06.2015 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungsverfahren.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Im Berufungsverfahren wendet sich die Beklagte gegen die Aufhebung des angefochtenen Bescheids und die Zurückverweisung zur weiteren Sachaufklärung.
Die 1958 geborene Klägerin war zuletzt 2012 als Montagehelferin versicherungspflichtig beschäftigt. Seither bezieht sie Arbeitslosengeld II.
Am 12.11.2014 beantragte sie die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Sie legte Arztbriefe des Chirurgen Dr. H. vom 19.10.2012 und 17.03.2014 sowie des Radiologen Dr. P. vom 25.01.2013 vor, in denen ein lumbales Bandscheibenleiden beschrieben wird sowie einen Arztbrief des Neurochirurgen Dr. R. vom 27.06.2014, in dem neben Rückenschmerzen noch über eine Raynaud-Symptomatik beidseits berichtet wird. Ferner legte sie einen Entlassungsbericht über die vom 24.08. bis 21.09.2011 durchgeführte stationäre Behandlung im Zentrum für Psychiatrie N. vor mit der Diagnose rezidivierende depressive Störung, derzeit schwere Episode ohne psychotische Symptome (F33.2). In einem vorgelegten Arztbrief des Rheumatologen Dr. W. vom 24.09.2014 wurde Weichteilrheuma, DD somatisierte Depression diagnostiziert mit seit drei Monaten bestehender Arbeitsunfähigkeit. Dr. S. vom beratungsärztlichen Dienst der Beklagten wertete ohne Untersuchung der Klägerin diese Unterlagen aus und kam zu dem Ergebnis, die Klägerin könne noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten mit qualitativen Einschränkungen verrichten. Mit Bescheid vom 27.11.2014 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab.
Mit ihrem Widerspruch vom 09.12.2014 machte die Klägerin geltend, sie habe ein Bandscheibenleiden, Schmerzen im Bereich der Schulter, der Halswirbelsäule, der Arme und Hände, Leiste, Beine und Füße sowie Kopfschmerzen und Ohrgeräusche; ihre Psyche sei nicht in Ordnung, sie sei blaseninkontinent, habe Magen- und Darmprobleme sowie Durchblutungsstörungen an Händen und Füßen, sie sei oft müde, niedergeschlagen und leide unter Konzentrationsstörungen. Nachts könne sie vor Schmerzen nicht schlafen und müsse täglich Medikamente wegen ihrer Psyche nehmen. Dr. S. verblieb mit Stellungnahme vom 15.12.2014 bei seiner Auffassung, weitere Aufklärung sei nicht notwendig. Mit Widerspruchsbescheid vom 28.01.2015 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Hiergegen richtet sich die am 27.02.2015 zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhobene Klage, mit der die Klägerin die Verurteilung der Beklagten zur Rentengewährung beantragt. Bereits die Sachaufklärung der Beklagten werde für unzureichend gehalten. Aufgrund der massiven psychischen Erkrankung mit massiven somatoformen Auswirkungen sei das Leistungsvermögen der Klägerin derzeit auf unter drei Stunden reduziert.
Das SG hat die Beteiligten mit Schreiben vom 21.05.2015 darauf hingewiesen, dass es die Zurückverweisung der Sache an die Beklagte nach § 131 Abs 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid beabsichtige. Mit Gerichtsbescheid vom 19.06.2015 hat es sodann den Bescheid vom 27.11.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.01.2015 aufgehoben und die Streitsache zur erneuten Entscheidung an die Beklagte zurückverwiesen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung an die Verwaltung nach § 131 Abs 5 Satz 1 SGG lägen vor. Entgegen ihrer Verpflichtung zur Ermittlung des medizinischen Sachverhalts habe die Beklagte nicht die erforderlichen medizinischen Ermittlungen angestellt. Das aktuelle berufliche Leistungsvermögen der Klägerin sei nicht geklärt. Weder habe die Beklagte ihren medizinischen Dienst zur persönlichen Untersuchung und Begutachtung der Klägerin eingeschaltet, noch seien die vorhandenen medizinischen Untersuchungsergebnisse umfassend erhoben worden. Insbesondere sei der Hausarzt nicht befragt worden, sondern die Beklagte habe sich nur auf die von der Klägerin vorgelegten Befundberichte einzelner Fachärzte gestützt. Vor allem im Hinblick auf die von Dr. W. fachfremd erhobene Verdachtsdiagnose einer somatisierten Depression wären weitere Ermittlungen erforderlich gewesen, denn die Klägerin habe sich zur Begründung ihres Rentenantrags auf psychische Störungen berufen. Zwar könne das SG im Wege seiner Amtsermittlungspflicht diese unterbliebenen umfangreichen Ermittlungen während des Gerichtsverfahrens durchführen, das hätte jedoch zur Folge, dass eine Behörde unter Verzicht auf ihre eigene Obliegenheit zur Amtsermittlung die Gerichte dazu missbrauchen könnte, an ihrer Stelle den Sachverhalt aufzuklären. Die Funktion der Sozialgerichtsbarkeit liege jedoch in der Überprüfung konkreter Verwaltungsentscheidungen, nicht darin, die Funktion der Verwaltung selbst zu übernehmen. Mit der Einführung der Vorschrift des § 131 Abs 5 Satz 1 SGG zum 01.04.2008 habe der Gesetzgeber verhindern wollen, dass Verwaltungen sachwidrig den notwendigen Ermittlungsaufwand auf die Gerichte verlagerten. Die noch erforderlichen Ermittlungen seien erheblich. Zunächst müsse über eine Befragung der behandelnden Ärzte geprüft werden, welche Erkrankungen zu diagnostizieren seien, anschließend werde deren Auswirkung auf das berufliche Leistungsvermögen voraussichtlich gutachterlich zu prüfen sein. Die Zurückverweisung berücksichtige auch die Interessen der Beteiligten. Für die Klägerin entstehe der Nachteil einer zeitlichen Verzögerung, dem stehe jedoch der Vorteil gegenüber, dass ihr Anspruch in dem vom Gesetz vorgesehenen mehrstufigen Verfahren gründlich geprüft werde. Zu erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen komme es für die Klägerin nicht, da sie lediglich eine monatliche Rente von 723,66 EUR zu erwarten habe, die nicht wesentlich über den derzeitigen Einkünften aus dem Arbeitslosengeld II liegen dürfe.
Gegen den ihr am 23.06.2015 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 06.07.2015 eingelegte Berufung der Beklagten. Der medizinische Dienst der Beklagten sei nach Auswertung der medizinischen Unterlagen zu dem Ergebnis gekommen, dass als bedeutsame Gesundheitsstörungen bei der Klägerin ein Rücken-/Wirbelsäulensyndrom, Bandscheibenverlagerungen (lumbalbetont), degenerative Veränderung, eine rezidivierende depressive Störung bzw Anpassungsstörung mit Somatisierung, fibromyalgische Symptomatik, Belastungsinkontinenz bei Harnblasensenkung und Übergewicht vorlägen. Die Klägerin habe umfangreiche Unterlagen vorgelegt und im Widerspruchsverfahren keine Verschlechterung geltend gemacht. Nach Aktenlage befinde sie sich nicht in nervenärztlicher Behandlung; die stationäre Behandlung sei auf Grund einer akuten psychischen Dekompensation erfolgt. Die Beklagte habe daher keine Veranlassung gesehen, ins Blaue hinein zu ermitteln. Es hätten zeitnahe, verwertbare und einschlägige Entscheidungsgrundlagen vorgelegen. Stelle die Tatsacheninstanz Mängel in der Sachaufklärung fest, müsse sie diese Mängel selbst beheben. Die Entscheidung nach § 131 Abs 5 SGG sei grundsätzlich eine eng auszulegende Ausnahme von dem Grundsatz, dass das Gericht selbst eine Sachentscheidung über eine zulässige Klage treffen müsse. Eine missbräuchliche Verlagerung der Ermittlungstätigkeit an das Gericht liege nicht vor. Die monierte Einholung von Berichten bei behandelnden Ärzten sei auch weder von Art noch vom Umfang her erheblich, sie gehöre zu den typischen richterlichen Handlungen. Eine Zurückverweisung sei auch nicht sachdienlich.
Die Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 19.06.2015 aufzuheben und die Sache zur Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Nach ihrer Auffassung sei keinesfalls ausreichend, wenn die Beklagte ohne neurologisch-psychiatrische Begutachtung die zeitliche Leistungsfähigkeit der Klägerin meine beurteilen zu können. Angesichts der sich aus dem Bericht des Z. N. vom 08.10.2011 ergebenden Lebensgeschichte der Klägerin sei wegen der erforderlichen Beurteilung des Längsschnittverlaufs der Erkrankung auch nicht davon auszugehen, dass ins Blaue hinein zu ermitteln sei. Es liege auf der Hand, dass psychische Beeinträchtigungen vorlägen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß §§ 153 Abs 1, 124 Abs 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat keinen Erfolg.
Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs 1 SGG) eingelegte Berufung ist statthaft (§ 143 SGG) und damit zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Das SG hat zu Recht den Bescheid vom 27.11.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.01.2015 aufgehoben, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Die in § 131 Abs 5 SGG genannten Voraussetzungen liegen vor.
Nach § 131 Abs 5 Satz 1 und 4 SGG (idF des Gesetzes vom 21.12.2008, BGBl I S 2933) kann das Sozialgericht binnen sechs Monaten seit Eingang der Behördenakte bei Gericht den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben ohne in der Sache selbst zu entscheiden, wenn es eine weitere Sachaufklärung für erforderlich hält, nach Art und Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Die Anwendung dieser Vorschrift führt zu einer vollständigen Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Behörde zum Zweck erneuter Ermittlungen und neuer Bescheiderteilung. Die Entscheidung nach § 131 Abs 5 SGG beinhaltet eine - grundsätzlich eng auszulegende - Ausnahme von dem Grundsatz, dass das Gericht selbst eine Sachentscheidung über eine zulässige Klage treffen muss (BSG 17.04.2007, B 5 RJ 30/05 R, BSGE 98, 198 = SozR 4-1500 § 131 Nr 2; Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg 27.01.2009, L 4 R 1519/08; LSG Nordrhein-Westfalen 17.03.2010, L 8 R 145/09; LSG Sachsen-Anhalt 05.05.2011, L 7 SB 42/09; Sächsisches LSG 15.12.2011, L 3 AS 619/10, alle juris). Das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 131 Abs 5 SGG unterliegt der uneingeschränkten Überprüfung durch das Rechtsmittelgericht (Keller in Meyer/Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl, § 131 RdNr 20; Aussprung in Roos/Wahrendorf, SGG, § 131 RdNr 92).
§ 131 Abs 5 SGG wurde durch Art 8 Nr 1 des Ersten Justizmodernisierungsgesetzes vom 24.08.2004 (BGBl. I S. 2198, 2205) mit Wirkung vom 01.09.2004 dem bisherigen § 131 SGG angefügt und gilt seit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.03.2008 (BGBl I S 444) mit Wirkung vom 01.04.2008 nunmehr auch für die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage bzw Leistungsklage. Die Vorschrift lehnt sich nach den Motiven des Gesetzgebers unmittelbar an die bereits vorhandenen, fast wortgleichen Vorschriften des § 113 Abs 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) sowie des § 100 Abs 3 Finanzgerichtsordnung (FGO) an und soll dem Gericht zeit- und kostenintensive Ermittlungen ersparen, die eigentlich der Behörde obliegen. Nach Beobachtungen der Praxis wird die erforderliche Sachverhaltsaufklärung von den Verwaltungsbehörden zum Teil unterlassen, was zu einer sachwidrigen Aufwandsverlagerung auf die Gerichte führt (BR-Drs 15/1508 S 29; BR-Drs 378/03 S 67). Das öffentliche Interesse an einer Entlastung der Gerichte von umfangreichen Sachverhaltsermittlungen steht jedoch im Widerstreit mit dem Interesse der Beteiligten an einer abschließenden und verbindlichen gerichtlichen Beurteilung des Sachverhalts. Nach dem Willen des Gesetzgebers im Rahmen der Ausgangsregelung soll das Interesse an der Entlastung der Justiz nur in besonderen Ausnahmefällen überwiegen (vgl Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) 18.11.2002, 9 C 2/02, BVerwGE 117, 200), denn in der amtlichen Begründung zu § 113 Abs 3 VwGO wurde ausgeführt: "Bei der Anwendung der Vorschrift wird weiter zu beachten sein, dass es den Interessen der Rechtsuchenden, aber auch dem Rechtsfrieden oft mehr dient, wenn das Gericht eine abschließende Streitentscheidung trifft" (BT-Drs 11/7030 S 29). Diese Wertung gilt auch für § 131 Abs 5 SGG (BSG 17.04.2007, aaO).
Die formellen Voraussetzungen für eine Zurückverweisung hat das SG eingehalten, denn die Verwaltungsakten sind am 07.04.2015 beim SG eingegangen und der Gerichtsbescheid wurde den Beteiligten bereits am 26.05.2015 zugestellt, also keine zwei Monate später.
Der Senat teilt auch die Auffassung des SG, dass noch weitere Ermittlungen erforderlich sind. Die von der Klägerin vorgelegten fachärztlichen Berichte umfassen weder vollständig die von ihr dargelegten Gesundheitsstörungen, noch lässt sich allein auf der Grundlage der vorhandenen Unterlagen das berufliche Leistungsvermögen der Klägerin bestimmen. Die Beklagte hat sich darauf beschränkt, allein die von der Klägerin vorgelegten Unterlagen durch den beratungsärztlichen Dienst auswerten zu lassen. Dies reicht vorliegend nicht aus, um das berufliche Leistungsvermögen der Klägerin bestimmen zu können. Allein aus Diagnosen lassen sich Funktionsbeeinträchtigungen nicht ableiten. Angesichts der ausführlichen Darlegung der Klägerin im Widerspruchsverfahren und insbesondere angesichts der aus den Akten bekannten Vorgeschichte mit zwei Suizidversuchen und einer schon aus dem Befundbericht des Rheumatologen ersichtlich auch aktuell fortbestehenden psychischen Problematik kann sich die Beklagte auch nicht darauf zurückziehen, bei (bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens) fehlender nervenärztlicher Behandlung bestehe offensichtlich kein Leidensdruck und daher auch keine tiefergehende Beeinträchtigung. Eine möglicherweise durch den von der Klägerin benannten Hausarzt durchgeführte Behandlung wurde ebenso wenig ermittelt wie die aktuelle Ausprägung der bekannten rezidivierenden depressiven Störung.
Die noch vorzunehmenden Ermittlungen stellen sich auch als erheblich iSv § 131 Abs 5 SGG dar. Eine Erheblichkeit der Ermittlungen kann sich aus der Art, Zeitdauer, dem Umgang und den personellen Möglichkeiten des Gerichts ergeben. Die Ermittlungen sind insbesondere dann erheblich, wenn die Behörde nach ihrer sachlichen und personellen Ausstattung eine Sachverhaltsermittlung besser bzw schneller durchführen kann als das Gericht und es auch unter übergeordneten Gesichtspunkten vernünftiger und sachgerechter ist, die Behörde tätig werden zu lassen (BVerwG 18.11.2002, aaO; BT-Drs 11/7030 S 30; BSG 17.04.2007, aaO). Dass der Gesetzgeber mit der Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 131 SGG auch auf Verpflichtungs- und Leistungsklagen die bekannte enge Auslegung der Vorschrift in der höchstrichtlichen Rechtsprechung ändern wollte, lässt sich der Gesetzesbegründung zwar an keiner Stelle entnehmen. Der Senat teilt jedoch nicht die Auffassung, dass damit in Kauf genommen wurde, dass sich ein praktischer Anwendungsbereich der Vorschrift kaum eröffnet (so LSG Nordrhein-Westfalen 17.03.2010, aaO unter Hinweis auf die Ausführungen in BSG 17.04.2007, aaO RdNr 20). Angesichts des ausdrücklichen Zwecks der Neuregelung zum 01.04.2008, die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (BT-Drs 16/7716 S 1), ist es nicht geboten, die Vorschrift derart restriktiv auszulegen, dass ihr kein sinnvoller Anwendungsbereich mehr verbleibt (vgl Hauck in Hennig, SGG, Stand Juni 2015, § 131 RdNr 187; SG Karlsruhe 09.05.2014, S 15 U 4024/13). Im vorliegenden Fall sind noch behandelnde Ärzte zu befragen und mindestens ein, ggf sogar mehrere ärztliche Sachverständigengutachten einzuholen. Die Beklagte hat die an eine Sachaufklärung zu stellenden Mindestanforderungen unterschritten. Die noch erforderlichen Ermittlungstätigkeiten sind nach alledem erheblich iSv § 131 Abs 5 SGG.
Die Aufhebung des angefochtenen Bescheids ohne Entscheidung in der Sache selbst ist auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich. Einen Vorteil hat die Ermittlung durch die Verwaltung schon dann, wenn Gutachten auf mehreren medizinischen Fachgebieten erforderlich sind und dies konzentriert durch Begutachtung an einem Termin durch Beratungsärzte des Rentenversicherungsträgers erfolgen kann (zu diesem Aspekt LSG Berlin-Brandenburg 25.04.2013, L 13 SB 73/12, juris). Insoweit ergibt sich eine erhebliche Beschleunigung gegenüber der Einholung mehrerer gerichtlicher Sachverständigengutachten (mit üblicher mehrmonatiger Dauer) nacheinander. Zudem unterhält die Beklagte einen beratungsärztlichen Dienst, dem auch mehrere Fachärzte verschiedener Fachrichtungen, ua Neurologie und Psychiatrie angehören, so dass auch insoweit eine Beschleunigung der Ermittlungen möglich ist. Darüber hinaus hat die Klägerin mit ihrer Berufungserwiderung deutlich gemacht, dass sie selbst ein Interesse daran hat, keine "Stufe der Ermittlungen" zu verlieren und daher die Zurückverweisung an die Beklagte wünscht. Angesichts der vorhandenen wirtschaftlichen Absicherung der Klägerin durch den Bezug von Leistungen nach dem SGB II und der lediglich zu erwartenden Rente in Höhe von 723,66 EUR hängen Fragen der Existenzsicherung nicht von diesem Rechtsstreit ab. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass bei Durchführung der Ermittlungen durch das Gericht selbst die hierfür anfallenden Kosten nach § 192 Abs 4 SGG der Beklagten aufzuerlegen wären. Die hierbei anfallenden Kosten könnten die Aufwendungen der Beklagten für eigene Ermittlungen schon angesichts der erforderlichen Beauftragung externer Gutachter erheblich übersteigen.
Im Rahmen der gemäß § 131 Abs 5 SGG zu treffenden Ermessensentscheidung (vgl Hauck in Hennig, aaO, § 131 RdNr 191; aA Keller in Meyer/Ladewig ua, aaO, § 131 RdNr 18b: "Kompetenz-Kann") ist das öffentliche Interesse an einer Entlastung der Gerichte von umfangreichen Sachverhaltsermittlungen mit dem Interesse der Beteiligten an einer abschließenden gerichtlichen Entscheidung des Rechtsstreits abzuwägen. Das ihm bei der Überprüfung der sozialgerichtlichen Entscheidung eingeräumte eigene Ermessen (vgl LSG Berlin-Brandenburg, 25.04.2013, L 13 SB 73/12, juris RdNr 32 mwN) übt der Senat in dem Sinne aus, dass er die Zurückverweisung an die Verwaltung für geboten hält. Hierbei hat der Senat nicht nur berücksichtigt, dass die noch erforderlichen erheblichen Ermittlungen besser, insbesondere schneller durch die Beklagte durchgeführt werden können, sondern auch den Wunsch der Klägerin nach einem erneuten Tätigwerden der Beklagten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Die Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungsverfahren.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Im Berufungsverfahren wendet sich die Beklagte gegen die Aufhebung des angefochtenen Bescheids und die Zurückverweisung zur weiteren Sachaufklärung.
Die 1958 geborene Klägerin war zuletzt 2012 als Montagehelferin versicherungspflichtig beschäftigt. Seither bezieht sie Arbeitslosengeld II.
Am 12.11.2014 beantragte sie die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Sie legte Arztbriefe des Chirurgen Dr. H. vom 19.10.2012 und 17.03.2014 sowie des Radiologen Dr. P. vom 25.01.2013 vor, in denen ein lumbales Bandscheibenleiden beschrieben wird sowie einen Arztbrief des Neurochirurgen Dr. R. vom 27.06.2014, in dem neben Rückenschmerzen noch über eine Raynaud-Symptomatik beidseits berichtet wird. Ferner legte sie einen Entlassungsbericht über die vom 24.08. bis 21.09.2011 durchgeführte stationäre Behandlung im Zentrum für Psychiatrie N. vor mit der Diagnose rezidivierende depressive Störung, derzeit schwere Episode ohne psychotische Symptome (F33.2). In einem vorgelegten Arztbrief des Rheumatologen Dr. W. vom 24.09.2014 wurde Weichteilrheuma, DD somatisierte Depression diagnostiziert mit seit drei Monaten bestehender Arbeitsunfähigkeit. Dr. S. vom beratungsärztlichen Dienst der Beklagten wertete ohne Untersuchung der Klägerin diese Unterlagen aus und kam zu dem Ergebnis, die Klägerin könne noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten mit qualitativen Einschränkungen verrichten. Mit Bescheid vom 27.11.2014 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab.
Mit ihrem Widerspruch vom 09.12.2014 machte die Klägerin geltend, sie habe ein Bandscheibenleiden, Schmerzen im Bereich der Schulter, der Halswirbelsäule, der Arme und Hände, Leiste, Beine und Füße sowie Kopfschmerzen und Ohrgeräusche; ihre Psyche sei nicht in Ordnung, sie sei blaseninkontinent, habe Magen- und Darmprobleme sowie Durchblutungsstörungen an Händen und Füßen, sie sei oft müde, niedergeschlagen und leide unter Konzentrationsstörungen. Nachts könne sie vor Schmerzen nicht schlafen und müsse täglich Medikamente wegen ihrer Psyche nehmen. Dr. S. verblieb mit Stellungnahme vom 15.12.2014 bei seiner Auffassung, weitere Aufklärung sei nicht notwendig. Mit Widerspruchsbescheid vom 28.01.2015 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Hiergegen richtet sich die am 27.02.2015 zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhobene Klage, mit der die Klägerin die Verurteilung der Beklagten zur Rentengewährung beantragt. Bereits die Sachaufklärung der Beklagten werde für unzureichend gehalten. Aufgrund der massiven psychischen Erkrankung mit massiven somatoformen Auswirkungen sei das Leistungsvermögen der Klägerin derzeit auf unter drei Stunden reduziert.
Das SG hat die Beteiligten mit Schreiben vom 21.05.2015 darauf hingewiesen, dass es die Zurückverweisung der Sache an die Beklagte nach § 131 Abs 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid beabsichtige. Mit Gerichtsbescheid vom 19.06.2015 hat es sodann den Bescheid vom 27.11.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.01.2015 aufgehoben und die Streitsache zur erneuten Entscheidung an die Beklagte zurückverwiesen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung an die Verwaltung nach § 131 Abs 5 Satz 1 SGG lägen vor. Entgegen ihrer Verpflichtung zur Ermittlung des medizinischen Sachverhalts habe die Beklagte nicht die erforderlichen medizinischen Ermittlungen angestellt. Das aktuelle berufliche Leistungsvermögen der Klägerin sei nicht geklärt. Weder habe die Beklagte ihren medizinischen Dienst zur persönlichen Untersuchung und Begutachtung der Klägerin eingeschaltet, noch seien die vorhandenen medizinischen Untersuchungsergebnisse umfassend erhoben worden. Insbesondere sei der Hausarzt nicht befragt worden, sondern die Beklagte habe sich nur auf die von der Klägerin vorgelegten Befundberichte einzelner Fachärzte gestützt. Vor allem im Hinblick auf die von Dr. W. fachfremd erhobene Verdachtsdiagnose einer somatisierten Depression wären weitere Ermittlungen erforderlich gewesen, denn die Klägerin habe sich zur Begründung ihres Rentenantrags auf psychische Störungen berufen. Zwar könne das SG im Wege seiner Amtsermittlungspflicht diese unterbliebenen umfangreichen Ermittlungen während des Gerichtsverfahrens durchführen, das hätte jedoch zur Folge, dass eine Behörde unter Verzicht auf ihre eigene Obliegenheit zur Amtsermittlung die Gerichte dazu missbrauchen könnte, an ihrer Stelle den Sachverhalt aufzuklären. Die Funktion der Sozialgerichtsbarkeit liege jedoch in der Überprüfung konkreter Verwaltungsentscheidungen, nicht darin, die Funktion der Verwaltung selbst zu übernehmen. Mit der Einführung der Vorschrift des § 131 Abs 5 Satz 1 SGG zum 01.04.2008 habe der Gesetzgeber verhindern wollen, dass Verwaltungen sachwidrig den notwendigen Ermittlungsaufwand auf die Gerichte verlagerten. Die noch erforderlichen Ermittlungen seien erheblich. Zunächst müsse über eine Befragung der behandelnden Ärzte geprüft werden, welche Erkrankungen zu diagnostizieren seien, anschließend werde deren Auswirkung auf das berufliche Leistungsvermögen voraussichtlich gutachterlich zu prüfen sein. Die Zurückverweisung berücksichtige auch die Interessen der Beteiligten. Für die Klägerin entstehe der Nachteil einer zeitlichen Verzögerung, dem stehe jedoch der Vorteil gegenüber, dass ihr Anspruch in dem vom Gesetz vorgesehenen mehrstufigen Verfahren gründlich geprüft werde. Zu erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen komme es für die Klägerin nicht, da sie lediglich eine monatliche Rente von 723,66 EUR zu erwarten habe, die nicht wesentlich über den derzeitigen Einkünften aus dem Arbeitslosengeld II liegen dürfe.
Gegen den ihr am 23.06.2015 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 06.07.2015 eingelegte Berufung der Beklagten. Der medizinische Dienst der Beklagten sei nach Auswertung der medizinischen Unterlagen zu dem Ergebnis gekommen, dass als bedeutsame Gesundheitsstörungen bei der Klägerin ein Rücken-/Wirbelsäulensyndrom, Bandscheibenverlagerungen (lumbalbetont), degenerative Veränderung, eine rezidivierende depressive Störung bzw Anpassungsstörung mit Somatisierung, fibromyalgische Symptomatik, Belastungsinkontinenz bei Harnblasensenkung und Übergewicht vorlägen. Die Klägerin habe umfangreiche Unterlagen vorgelegt und im Widerspruchsverfahren keine Verschlechterung geltend gemacht. Nach Aktenlage befinde sie sich nicht in nervenärztlicher Behandlung; die stationäre Behandlung sei auf Grund einer akuten psychischen Dekompensation erfolgt. Die Beklagte habe daher keine Veranlassung gesehen, ins Blaue hinein zu ermitteln. Es hätten zeitnahe, verwertbare und einschlägige Entscheidungsgrundlagen vorgelegen. Stelle die Tatsacheninstanz Mängel in der Sachaufklärung fest, müsse sie diese Mängel selbst beheben. Die Entscheidung nach § 131 Abs 5 SGG sei grundsätzlich eine eng auszulegende Ausnahme von dem Grundsatz, dass das Gericht selbst eine Sachentscheidung über eine zulässige Klage treffen müsse. Eine missbräuchliche Verlagerung der Ermittlungstätigkeit an das Gericht liege nicht vor. Die monierte Einholung von Berichten bei behandelnden Ärzten sei auch weder von Art noch vom Umfang her erheblich, sie gehöre zu den typischen richterlichen Handlungen. Eine Zurückverweisung sei auch nicht sachdienlich.
Die Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 19.06.2015 aufzuheben und die Sache zur Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Nach ihrer Auffassung sei keinesfalls ausreichend, wenn die Beklagte ohne neurologisch-psychiatrische Begutachtung die zeitliche Leistungsfähigkeit der Klägerin meine beurteilen zu können. Angesichts der sich aus dem Bericht des Z. N. vom 08.10.2011 ergebenden Lebensgeschichte der Klägerin sei wegen der erforderlichen Beurteilung des Längsschnittverlaufs der Erkrankung auch nicht davon auszugehen, dass ins Blaue hinein zu ermitteln sei. Es liege auf der Hand, dass psychische Beeinträchtigungen vorlägen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß §§ 153 Abs 1, 124 Abs 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat keinen Erfolg.
Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs 1 SGG) eingelegte Berufung ist statthaft (§ 143 SGG) und damit zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Das SG hat zu Recht den Bescheid vom 27.11.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.01.2015 aufgehoben, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Die in § 131 Abs 5 SGG genannten Voraussetzungen liegen vor.
Nach § 131 Abs 5 Satz 1 und 4 SGG (idF des Gesetzes vom 21.12.2008, BGBl I S 2933) kann das Sozialgericht binnen sechs Monaten seit Eingang der Behördenakte bei Gericht den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben ohne in der Sache selbst zu entscheiden, wenn es eine weitere Sachaufklärung für erforderlich hält, nach Art und Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Die Anwendung dieser Vorschrift führt zu einer vollständigen Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Behörde zum Zweck erneuter Ermittlungen und neuer Bescheiderteilung. Die Entscheidung nach § 131 Abs 5 SGG beinhaltet eine - grundsätzlich eng auszulegende - Ausnahme von dem Grundsatz, dass das Gericht selbst eine Sachentscheidung über eine zulässige Klage treffen muss (BSG 17.04.2007, B 5 RJ 30/05 R, BSGE 98, 198 = SozR 4-1500 § 131 Nr 2; Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg 27.01.2009, L 4 R 1519/08; LSG Nordrhein-Westfalen 17.03.2010, L 8 R 145/09; LSG Sachsen-Anhalt 05.05.2011, L 7 SB 42/09; Sächsisches LSG 15.12.2011, L 3 AS 619/10, alle juris). Das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 131 Abs 5 SGG unterliegt der uneingeschränkten Überprüfung durch das Rechtsmittelgericht (Keller in Meyer/Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl, § 131 RdNr 20; Aussprung in Roos/Wahrendorf, SGG, § 131 RdNr 92).
§ 131 Abs 5 SGG wurde durch Art 8 Nr 1 des Ersten Justizmodernisierungsgesetzes vom 24.08.2004 (BGBl. I S. 2198, 2205) mit Wirkung vom 01.09.2004 dem bisherigen § 131 SGG angefügt und gilt seit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.03.2008 (BGBl I S 444) mit Wirkung vom 01.04.2008 nunmehr auch für die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage bzw Leistungsklage. Die Vorschrift lehnt sich nach den Motiven des Gesetzgebers unmittelbar an die bereits vorhandenen, fast wortgleichen Vorschriften des § 113 Abs 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) sowie des § 100 Abs 3 Finanzgerichtsordnung (FGO) an und soll dem Gericht zeit- und kostenintensive Ermittlungen ersparen, die eigentlich der Behörde obliegen. Nach Beobachtungen der Praxis wird die erforderliche Sachverhaltsaufklärung von den Verwaltungsbehörden zum Teil unterlassen, was zu einer sachwidrigen Aufwandsverlagerung auf die Gerichte führt (BR-Drs 15/1508 S 29; BR-Drs 378/03 S 67). Das öffentliche Interesse an einer Entlastung der Gerichte von umfangreichen Sachverhaltsermittlungen steht jedoch im Widerstreit mit dem Interesse der Beteiligten an einer abschließenden und verbindlichen gerichtlichen Beurteilung des Sachverhalts. Nach dem Willen des Gesetzgebers im Rahmen der Ausgangsregelung soll das Interesse an der Entlastung der Justiz nur in besonderen Ausnahmefällen überwiegen (vgl Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) 18.11.2002, 9 C 2/02, BVerwGE 117, 200), denn in der amtlichen Begründung zu § 113 Abs 3 VwGO wurde ausgeführt: "Bei der Anwendung der Vorschrift wird weiter zu beachten sein, dass es den Interessen der Rechtsuchenden, aber auch dem Rechtsfrieden oft mehr dient, wenn das Gericht eine abschließende Streitentscheidung trifft" (BT-Drs 11/7030 S 29). Diese Wertung gilt auch für § 131 Abs 5 SGG (BSG 17.04.2007, aaO).
Die formellen Voraussetzungen für eine Zurückverweisung hat das SG eingehalten, denn die Verwaltungsakten sind am 07.04.2015 beim SG eingegangen und der Gerichtsbescheid wurde den Beteiligten bereits am 26.05.2015 zugestellt, also keine zwei Monate später.
Der Senat teilt auch die Auffassung des SG, dass noch weitere Ermittlungen erforderlich sind. Die von der Klägerin vorgelegten fachärztlichen Berichte umfassen weder vollständig die von ihr dargelegten Gesundheitsstörungen, noch lässt sich allein auf der Grundlage der vorhandenen Unterlagen das berufliche Leistungsvermögen der Klägerin bestimmen. Die Beklagte hat sich darauf beschränkt, allein die von der Klägerin vorgelegten Unterlagen durch den beratungsärztlichen Dienst auswerten zu lassen. Dies reicht vorliegend nicht aus, um das berufliche Leistungsvermögen der Klägerin bestimmen zu können. Allein aus Diagnosen lassen sich Funktionsbeeinträchtigungen nicht ableiten. Angesichts der ausführlichen Darlegung der Klägerin im Widerspruchsverfahren und insbesondere angesichts der aus den Akten bekannten Vorgeschichte mit zwei Suizidversuchen und einer schon aus dem Befundbericht des Rheumatologen ersichtlich auch aktuell fortbestehenden psychischen Problematik kann sich die Beklagte auch nicht darauf zurückziehen, bei (bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens) fehlender nervenärztlicher Behandlung bestehe offensichtlich kein Leidensdruck und daher auch keine tiefergehende Beeinträchtigung. Eine möglicherweise durch den von der Klägerin benannten Hausarzt durchgeführte Behandlung wurde ebenso wenig ermittelt wie die aktuelle Ausprägung der bekannten rezidivierenden depressiven Störung.
Die noch vorzunehmenden Ermittlungen stellen sich auch als erheblich iSv § 131 Abs 5 SGG dar. Eine Erheblichkeit der Ermittlungen kann sich aus der Art, Zeitdauer, dem Umgang und den personellen Möglichkeiten des Gerichts ergeben. Die Ermittlungen sind insbesondere dann erheblich, wenn die Behörde nach ihrer sachlichen und personellen Ausstattung eine Sachverhaltsermittlung besser bzw schneller durchführen kann als das Gericht und es auch unter übergeordneten Gesichtspunkten vernünftiger und sachgerechter ist, die Behörde tätig werden zu lassen (BVerwG 18.11.2002, aaO; BT-Drs 11/7030 S 30; BSG 17.04.2007, aaO). Dass der Gesetzgeber mit der Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 131 SGG auch auf Verpflichtungs- und Leistungsklagen die bekannte enge Auslegung der Vorschrift in der höchstrichtlichen Rechtsprechung ändern wollte, lässt sich der Gesetzesbegründung zwar an keiner Stelle entnehmen. Der Senat teilt jedoch nicht die Auffassung, dass damit in Kauf genommen wurde, dass sich ein praktischer Anwendungsbereich der Vorschrift kaum eröffnet (so LSG Nordrhein-Westfalen 17.03.2010, aaO unter Hinweis auf die Ausführungen in BSG 17.04.2007, aaO RdNr 20). Angesichts des ausdrücklichen Zwecks der Neuregelung zum 01.04.2008, die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (BT-Drs 16/7716 S 1), ist es nicht geboten, die Vorschrift derart restriktiv auszulegen, dass ihr kein sinnvoller Anwendungsbereich mehr verbleibt (vgl Hauck in Hennig, SGG, Stand Juni 2015, § 131 RdNr 187; SG Karlsruhe 09.05.2014, S 15 U 4024/13). Im vorliegenden Fall sind noch behandelnde Ärzte zu befragen und mindestens ein, ggf sogar mehrere ärztliche Sachverständigengutachten einzuholen. Die Beklagte hat die an eine Sachaufklärung zu stellenden Mindestanforderungen unterschritten. Die noch erforderlichen Ermittlungstätigkeiten sind nach alledem erheblich iSv § 131 Abs 5 SGG.
Die Aufhebung des angefochtenen Bescheids ohne Entscheidung in der Sache selbst ist auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich. Einen Vorteil hat die Ermittlung durch die Verwaltung schon dann, wenn Gutachten auf mehreren medizinischen Fachgebieten erforderlich sind und dies konzentriert durch Begutachtung an einem Termin durch Beratungsärzte des Rentenversicherungsträgers erfolgen kann (zu diesem Aspekt LSG Berlin-Brandenburg 25.04.2013, L 13 SB 73/12, juris). Insoweit ergibt sich eine erhebliche Beschleunigung gegenüber der Einholung mehrerer gerichtlicher Sachverständigengutachten (mit üblicher mehrmonatiger Dauer) nacheinander. Zudem unterhält die Beklagte einen beratungsärztlichen Dienst, dem auch mehrere Fachärzte verschiedener Fachrichtungen, ua Neurologie und Psychiatrie angehören, so dass auch insoweit eine Beschleunigung der Ermittlungen möglich ist. Darüber hinaus hat die Klägerin mit ihrer Berufungserwiderung deutlich gemacht, dass sie selbst ein Interesse daran hat, keine "Stufe der Ermittlungen" zu verlieren und daher die Zurückverweisung an die Beklagte wünscht. Angesichts der vorhandenen wirtschaftlichen Absicherung der Klägerin durch den Bezug von Leistungen nach dem SGB II und der lediglich zu erwartenden Rente in Höhe von 723,66 EUR hängen Fragen der Existenzsicherung nicht von diesem Rechtsstreit ab. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass bei Durchführung der Ermittlungen durch das Gericht selbst die hierfür anfallenden Kosten nach § 192 Abs 4 SGG der Beklagten aufzuerlegen wären. Die hierbei anfallenden Kosten könnten die Aufwendungen der Beklagten für eigene Ermittlungen schon angesichts der erforderlichen Beauftragung externer Gutachter erheblich übersteigen.
Im Rahmen der gemäß § 131 Abs 5 SGG zu treffenden Ermessensentscheidung (vgl Hauck in Hennig, aaO, § 131 RdNr 191; aA Keller in Meyer/Ladewig ua, aaO, § 131 RdNr 18b: "Kompetenz-Kann") ist das öffentliche Interesse an einer Entlastung der Gerichte von umfangreichen Sachverhaltsermittlungen mit dem Interesse der Beteiligten an einer abschließenden gerichtlichen Entscheidung des Rechtsstreits abzuwägen. Das ihm bei der Überprüfung der sozialgerichtlichen Entscheidung eingeräumte eigene Ermessen (vgl LSG Berlin-Brandenburg, 25.04.2013, L 13 SB 73/12, juris RdNr 32 mwN) übt der Senat in dem Sinne aus, dass er die Zurückverweisung an die Verwaltung für geboten hält. Hierbei hat der Senat nicht nur berücksichtigt, dass die noch erforderlichen erheblichen Ermittlungen besser, insbesondere schneller durch die Beklagte durchgeführt werden können, sondern auch den Wunsch der Klägerin nach einem erneuten Tätigwerden der Beklagten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
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