L 13 AS 5062/15 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
13
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 AS 5442/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 AS 5062/15 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 17. November 2015 aufgehoben und der Antrag des Klägers, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 8. September 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Oktober 2015 anzuordnen, abgelehnt.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller Lebensmittelgutscheine im Wert von 75 EUR zu gewähren.

Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner am 3. November 2015 erhobenen Klage (S 9 AS 5407/15) gegen den Aufhebungs- und Sanktionsbescheid vom 8. September 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Oktober 2015, mit dem der Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bewilligungsbescheids vom 7. Mai 2015 die Beschränkung des Arbeitslosengeldes II auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung für den Zeitraum 1. Oktober 2015 bis 31. Dezember 2015 feststellte.

Der am 28. September 1991 geborene Kläger steht im langjährigen Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) des Antragsgegners. Mit Bescheid vom 7. Mai 2015 bewilligte der Antragsgegner dem Kläger Leistungen für die Zeit vom 1. Juni 2015 bis 31. Mai 2016 in Höhe von monatlich 699 EUR (Regelbedarf 399 EUR, 300 EUR für Unterkunft und Heizung).

Nachdem der Kläger eine vorgeschlagene Eingliederungsvereinbarung nicht unterzeichnet hatte, ersetzte der Antragsgegner die Vereinbarung durch Verwaltungsakt vom 26. Juni 2015. Dieser Bescheid enthielt die Verpflichtung des Antragstellers an der vom 27. Juli 2015 bis 7. August 2015 stattfindenden Aktivierungs – und Trainingsmaßnahme (ATM) bei Pro Job in Freiburg aktiv und regelmäßig teilzunehmen. Der Antragsteller nahm an dieser Maßnahme ohne Angaben von Gründen nicht teil. Nachdem eine Reaktion auf das Anhörungsschreiben des Antragsgegners vom 11. August 2015 ausblieb, stellte der Antragsgegner mit Bescheid vom 8. September 2015 die Beschränkung der Leistungen auf Bedarfe für Unterkunft und Heizung für die Zeit vom 1. September 2015 bis 31. Dezember 2015 fest und hob die Leistungsbewilligung bzgl. des Regelbedarfs für die Zeit vom 1. Oktober 2015 bis 31. Dezember 2015 auf. Der Kläger habe sich geweigert an der Maßnahme zu Eingliederung teilzunehmen. Ein wichtiger Grund habe er hierfür nicht mitgeteilt. Auf den hiergegen mit der Begründung, die Sanktionsvorschriften seien verfassungswidrig, erhobenen Widerspruch, änderte der Antragsgegner den Bescheid vom 8. September 2015 insoweit ab, als eine Minderung für die Zeit vom 1. Oktober 2015 bis 31. Dezember 2015 festgestellt werde. Im Übrigen hat der Antragsgegner den Widerspruch zurückgewiesen. Deswegen hat der Antragsteller am 3. November 2015 beim Sozialgericht Freiburg (SG) Klage erhoben (S 9 AS 5407/15) sowie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage beantragt. Der Antragsteller hat die Klage und den Antrag damit begründet, die Entscheidung des Beklagten sei aufzuheben, weil die gesetzlichen Sanktionsregelungen verfassungswidrig seien.

Mit Beschluss vom 17. November 2015 hat das SG die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 8. September 2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 6. Oktober 2015 angeordnet, soweit die darin verfügte Minderung 30 v.H. des Regelbedarfs übersteigt. Hier könnten im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens weder die Rechtslage noch der Sachverhalt abschließend geklärt werden. Die vom Antragsgegner vorgelegte Verwaltungsakte enthalte weder eine Abschrift der dem Antragsteller angeblich am 30. Juni 2015 zugestellten Eingliederungsvereinbarung noch einen Zustellungsnachweis. Es könne daher nicht überprüft werden, ob der Antragsteller wirksam zur Teilnahme an der Maßnahme verpflichtet und ordnungsgemäß über die Rechtsfolgen belehrt worden sei. Selbst wenn der vom Antragsgegner zugrunde gelegte Sachverhalt als zutreffend unterstellt werde, bestünden gegen den angefochtenen Sanktionsbescheid rechtliche Bedenken, die im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend auszuräumen seien. Das SG teile zwar nicht die vom Antragsteller zitierte Auffassung des Sozialgerichts G., wonach die Sanktionsvorschriften gegen die Verfassung verstoßen würden. Gegen die vorliegend entscheidungserhebliche Vorschrift des § 31a Abs. 2 SGB II, der verschärfte Rechtsfolgen bei der erstmaligen Pflichtverletzung unter 25-Jähriger vorsehe, bestünden jedoch aber im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG verfassungsrechtliche sowie wegen des unionsrechtlichen Verbots der Altersdiskriminierung europarechtliche Bedenken. Aufgrund der gebotenen Folgenabwägung werde daher die aufschiebende Wirkung auf einen Teil der Sanktion beschränkt.

Gegen den am 23. November 2015 dem Antragsgegner zugestellten Beschluss richtet sich dessen am 9. Dezember 2015 eingelegte Beschwerde. Hierzu hat er unter anderem vorgetragen, dass der Eingliederungsverwaltungsakt vom 26. Juni 2015 in den Hausbriefkasten des Antragstellers eingeworfen worden sei. Der Antragsteller habe im Übrigen auch den Zugang zu keinem Zeitpunkt bestritten. Der Antragsgegner teile die vom SG dargelegten verfassungsrechtlichen bzw. ober europarechtlichen Bedenken nicht. Die unterschiedliche Behandlung unter 25-jähriger und älteren Leistungsbeziehern führe nicht zur Verfassungswidrigkeit der Norm. Die hierzu geäußerten Bedenken hätten im Rahmen der gesetzgeberischen Entscheidung keine Berücksichtigung gefunden. Im Rahmen der Folgenabwägung sei vielmehr zu berücksichtigen, dass bislang alle Versuche des Beschwerdeführers, den Antragsteller in den Arbeitsmarkt zu integrieren, nicht erfolgreich verlaufen seien. Maßgeblich ursächlich sei die mangelnde Einsichtsfähigkeit und Verweigerungshaltung des Antragstellers.

Der Antragsteller hat u.a. vorgetragen, die Sanktionsregelungen seien verfassungswidrig, im Übrigen stelle die Beschwerde eine menschenverachtende Willkür des Antragsgegners dar. Er habe in den letzten 3 Monaten kein Geld bekommen und sei am Verhungern.

II.

Die frist- und formgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§ 172, 173 SGG). Sie ist auch begründet. Das SG hat zu Unrecht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 8. Juni 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Oktober 2015 angeordnet, soweit die darin verfügte Minderung 30 vom 100 des Regelbedarfs übersteigt. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist abzulehnen.

Statthafter Rechtsbehelf hinsichtlich des Aufhebungs- und Sanktionsbescheids vom 8. Juni 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Oktober 2015 ist, worauf das SG zutreffend hingewiesen hat, § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG. In Verfahren nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG entscheidet das Gericht über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung auf der Grundlage einer Interessenabwägung. Abzuwägen sind das private Interesse des Antragstellers, vom Vollzug des Verwaltungsaktes bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens verschont zu bleiben, und das öffentliche Interesse an der Vollziehung einer behördlichen Entscheidung. Im Rahmen dieser Interessenabwägung kommt der Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs in der Hauptsache eine wesentliche Bedeutung zu. Dabei ist die Wertung des § 39 Nr. 1 SGB II zu berücksichtigen, wonach der Gesetzgeber aufgrund einer typisierenden Abwägung dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug prinzipiell den Vorrang gegenüber entgegenstehenden privaten Interessen einräumt. Eine Abweichung von diesem Regel-/Ausnahmeverhältnis kommt nur in Betracht, wenn dafür überwiegende Interessen des Antragstellers sprechen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen oder wenn besondere private Interessen überwiegen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 86b Rn. 12c mit weiteren Nachweisen).

Diese Voraussetzungen werden vorliegend nicht erfüllt. Die Überprüfung der Sanktionsentscheidung ergibt, dass diese voraussichtlich der gerichtlichen Überprüfung im Hauptsacheverfahren standhalten wird.

Bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, ist das Arbeitslosengeld II bei einer Pflichtverletzung nach § 31 auf die für die Bedarfe nach § 22 zu erbringenden Leistungen beschränkt (§ 31b Abs. 1 S. 1 SGB II). Erwerbsfähige Leistungsberechtigte verletzen ihre Pflichten, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis eine zumutbare Maßnahme zu Eingliederung in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben haben. Dies gilt nicht, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen (§ 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, S. 2 SGB II).

Aus dem vom Antragsgegner vorgelegten Eingliederungsverwaltungsakt ist ersichtlich, dass dem Antragsteller für den Teilnahmezeitraum 27. Juli 2015 bis 7. August 2015 die Pflicht auferlegt wurde, aktiv und regelmäßig an der Aktivierungs – und Trainingsmaßnahme (ATM) bei Pro Job in Freiburg teilzunehmen. Ebenso erfolgte eine Kostenzusage für Fahrkosten während der Teilnahme. Ferner wurde der Kläger über die Rechtsfolgen bei einem entsprechenden Verstoß gegen die Pflichten belehrt (im Einzelnen Bl. 4 und 5 der Senatsakten). Dieser Verwaltungsakt wurde dem Kläger, weil dieser bei einem geplanten Hausbesuch nicht angetroffen wurde, in den Hausbriefkasten eingeworfen (Bl. 16 der Prozessakten des Senats). Dieser Verpflichtung ist der Antragsteller, ohne dem Antragsgegner Gründe hierfür mitzuteilen, nicht nachgekommen. Auch im Widerspruchsverfahren und im anschließenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hat der Kläger hierfür keinerlei Begründung gegeben. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der von dem Antragsgegner angewandten Sanktionsregelung sind damit erfüllt. Die Maßnahme ist für den Antragsteller zumutbar und nach Auffassung des Senats auch sinnvoll gewesen, über die Rechtsfolgen ist er zutreffend belehrt worden. Inhaltliche oder formale Bedenken hinsichtlich des Eingliederungsverwaltungsaktes sind für den Senat nicht erkennbar.

Der Senat teilt die verfassungsrechtlichen Bedenken des SG nicht. Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebietet die Verfassung nicht die Gewährung "bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser" Sozialleistungen (Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 7. Juli 2010, 1 BvR 2556/09). Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet keinen von Mitwirkungsobliegenheiten und Eigenaktivitäten unabhängigen Anspruch auf Sicherung eines Leistungsniveaus, dass durchweg einen gewissen finanziellen Spielraum zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gewährleistet (Berlit in LPK-SGB II, 5. Aufl., § 31, Rn. 13). Der Senat teilt die vom Sozialgerichts G. im Beschluss vom 26. Mai 2015 (S 15 AS 5157/14) geäußerten Bedenken hinsichtlich der grundsätzlichen Verfassungsmäßigkeit der Sanktionsregelungen des SGB II nicht (so u.a. auch Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 8. Juli 2015, L 16 AS 381/15 B ER, Juris).

Ebenso wenig hält der erkennende Senat die Vorschrift des § 31a Abs. 2 SGB II für verfassungswidrig. Die Sonderregelung für leistungsberechtigte erwerbsfähige Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 25 Jahren soll nach dem gesetzgeberischen Willen den Eintritt einer Langzeitarbeitslosigkeit bei jungen Menschen von vornherein entgegenwirken (Bundestagsdrucksache 15/1516, Seite 61). Aus dieser Motivation ergibt sich der sachliche Grund für die unterschiedliche Behandlung von Angehörigen der Altersgruppe unter bzw. über 25 Jahren. Dieses gesetzgeberische Motiv ist nicht zu beanstanden. Gerade im Falle des Antragstellers, der sämtliche Integrationsversuche des Antragsgegners laut Aktenlage vereitelt hat, erscheint es geboten, seine Verweigerungshaltung vor Augen zu führen und entsprechend zu sanktionieren. Weder im Widerspruchsverfahren noch im anschließenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hat er Gründe genannt, die sein Verhalten rechtfertigen könnten, vielmehr hat er sich darauf berufen, die gesetzlichen Regelungen, die Folgen an seine Verweigerung knüpfen, seien verfassungswidrig. Aus dem gesamten Verhalten wird deutlich, dass der Kläger sich vorsätzlich verweigert Eingliederungsmaßnahmen in den Arbeitsmarkt nachzukommen. Im Rahmen der Folgenabwägung ist es daher auch nicht geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Jedoch hat der Antragsgegner, wie von diesem bereits in den angefochtenen Entscheidungen anerkannt, auf den nunmehr vom Kläger sinngemäß gestellten Antrag zur Sicherung der physischen Existenz für den restlichen Monat Dezember 2015 Lebensmittelgutscheine im Wert von 75 EUR zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved