L 11 R 1657/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 3 R 2625/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 1657/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 18.03.2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Der am 10.08.1970 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er kam im Alter von 11 Jahren 1981 nach Deutschland. Er absolvierte keine Berufsausbildung und war im Wesentlichen als angelernter Arbeiter im Metallbereich, zuletzt bei einer Zeitarbeitsfirma, bis Dezember 2008 erwerbstätig. Seither ist er arbeitslos und bezieht Leistungen nach dem SGB II. Bei ihm ist ein Grad der Behinderung von 70 seit 11.04.2011 festgestellt.

Nach einem erfolglosen Rentenverfahren im Jahr 2009 beantragte der Kläger am 16.04.2012 erneut Rente wegen Erwerbsminderung bei der Beklagten.

Der Kläger absolvierte vom 08.11.2011 bis 29.11.2011 aufgrund eines Vergleichs beim Sozialgericht Reutlingen (SG) eine stationäre Rehamaßnahme in Bad N ... Im Entlassungsbericht werden folgende Diagnosen genannt: &61485; Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode &61485; insulinpflichtiger Diabetes mellitus Typ II &61485; Schulter-Arm-Syndrom rechts &61485; Laktoseintoleranz &61485; Tinnitus aurium beidseits Die Rehaärzte hielten den Kläger für vollschichtig leistungsfähig mit qualitativen Einschränkungen für mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Im Verwaltungsverfahren wurde der Kläger auf Veranlassung der Beklagten durch den Orthopäden Dr. B. und die Neurologin und Psychiaterin S. untersucht. Frau S. attestierte eine Dysthymia und kombinierte Persönlichkeitsstörung und war der Ansicht, dass der Kläger mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ohne besonderen Zeitdruck, ohne schweres Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten, ohne Überkopfarbeit mit dem rechten Arm noch sechs Stunden und mehr täglich verrichten könne. Sie wies darauf hin, dass aus Ihrer Sicht von nervenärztlicher Seite eine schwere Erkrankung nicht festgestellt werden könne und der Kläger die verordneten Medikamente nicht ausreichend einnehme. Aus dem orthopädischen Befund könne nicht auf eine Leistungsminderung geschlossen werden.

Mit Bescheid vom 21.06.2012 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Den eingelegten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 17.09.2012 zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 24.09.2012 Klage zum SG erhoben. Er hat zur Begründung vorgetragen, er leide an einer seit über drei Jahren bestehenden schweren reaktiven Depression, einem Diabetes mellitus Typ II und einem Wirbelsäulenschmerzsyndrom. Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte beigezogen sowie den Neurologen und Psychiater Dr. D. gemäß § 106 SGG und den Neurologen und Psychiater Dr. B. auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG mit der Erstellung von Gutachten beauftragt.

Dr. D. hat den Kläger am 31.10.2013 untersucht und folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: &61485; Somatoforme Störungen mit einer Mischung aus anhaltender somatoformer Schmerzstörung und Somatisierungsstörung &61485; leichtgradige chronisch depressive Entwicklung im Sinne einer Dysthymia &61485; Persönlichkeitsstörung mit impulsiven, autodestruktiven und projektiven Merkmalen und starker Ich-Bezogenheit &61485; Tabakabhängigkeit Der Gutachter ist der Ansicht gewesen, dass die hauptsächliche Störung des Klägers in seiner Persönlichkeitsstruktur verankert sei. Diese Störung sei allerdings nicht so hochgradig, dass er deshalb in seinen Freiheitsgraden extrem eingeschränkt wäre. Schwere seelische Erkrankungen oder Behinderungen lägen nicht vor. Der Kläger könne auch weiterhin Erwerbstätigkeiten in einem Umfang von sechs Stunden und mehr täglich nachgehen. Nachdem der behandelnde Psychiater Dr. G. sich gegenüber dem SG für eine zeitlich befristete Rente zur Ermöglichung einer intensiven Verhaltenstherapie ausgesprochen hat, hat Dr. D. ergänzend Stellung genommen und an seiner gutachtlichen Einschätzung festgehalten.

Dr. B. hat den Kläger am 29.08.2014 untersucht und als Spätfolgen eines schwer einstellbaren insulinpflichtigen Diabetes mellitus Typ II eine organische Persönlichkeitsstörung mit Leistungsminderung und depressiven, aggressiven und projektiven Zügen, eine diabetische Retinopathie und eine diabetische Polyneuropathie diagnostiziert. Der Sachverständige hat ausgeführt, dass der Kläger aufgrund schwerer Impulskontrollstörungen und fehlendem freien Willen nicht mehr erwerbsfähig sei. In einer ergänzenden Stellungnahme hat er mitgeteilt, dass die von ihm diagnostizierte organische Wesensänderung durch die zur Verfügung stehenden bildgebenden Verfahren ebenso wenig wie durch Psychodiagnostik ausgeschlossen oder nachgewiesen werden könnten.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 18.03.2015 abgewiesen und sich dabei auf die Ausführungen von Dr. D. gestützt. Der Beurteilung durch Dr. B. könne nicht gefolgt werden, da die von ihm angenommene organische Wesensänderung ausschließlich auf den anamnestischen Angaben beruhe.

Gegen das dem Klägerbevollmächtigten am 15.04.2015 zugestellte Urteil hat dieser am 27.04.2015 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt.

Der Senat hat den Neurologen und Psychiater Dr. B. mit der Erstellung eines Gutachtens gemäß § 106 SGG beauftragt. Der Sachverständige hat den Kläger am 30.09.2015 untersucht. Der Gutachter hat bei der Befunderhebung auf demonstrative Züge, ua bei der Gangprüfung, fehlende Compliance und eine nahezu unauffällige allgemein-körperliche Untersuchung hingewiesen. Im psychischen Befund hat er eine Einengung des inhaltlichen Denkens auf die Beschwerdesymptomatik, eine depressive Stimmung, das Nichtvorliegen von alltagsrelevanten Konzentrations- oder Auffassungsstörungen und fehlende Hinweise auf eine relevante Antriebsminderung beschrieben. Affektiv ist der Kläger kaum auslenkbar gewesen. Dr. B. hat folgende Diagnosen gestellt: &61485; Dysthymie &61485; Diabetes mellitus Typ II, insulinpflichtig &61485; leichte diabetische Polyneuropathie &61485; chronischer Schmerz mit somatischen psychischen Faktoren &61485; Zustand nach Kahnbeinfraktur links, 2003 operiert &61485; Nikotinabusus &61485; Tinnitus beidseits &61485; Laktoseintoleranz

Der Sachverständige ist der Ansicht gewesen, dass das vorliegende hohe Maß an Irritabilität, Konfliktbereitschaft und Streitbarkeit mit einer mittelschweren oder schwereren depressiven Störung nicht vereinbar und offensichtlich Ausdruck seiner Persönlichkeit sei. Es bestehe weiterhin ein vollschichtiges Leistungsvermögen. Eine organische Persönlichkeitsveränderung sei nicht nachgewiesen. Weder bestehe eine Symptomatik mit Beeinträchtigung intellektueller Fähigkeiten, Störungen der kognitiven Basisfunktionen bis hin zur völligen Teilnahmslosigkeit und einer Demenz, noch sei eine solche Erkrankung mittels Kernspintomographie nachgewiesen. Vielmehr bewege sich der Kläger auch im Umgang mit Behörden und Ämtern sehr zielorientiert, was mit der Diagnose nicht vereinbar wäre.

Auf Einwände des Klägerbevollmächtigten hat Dr. B. ergänzend Stellung genommen. Er hat darauf hingewiesen, dass bei seiner Untersuchung ein toxischer Wirkspiegel von Venlafaxin vorgelegen habe. Bei zwei vorangegangenen Begutachtungen hätten die Laboruntersuchungen bezüglich des Antidepressivums ergeben, dass das Medikament nicht eingenommen worden sei. Ein Intoxikationseffekt habe bei der Untersuchung nicht festgestellt werden können. Das bei der Untersuchung gezeigte außerordentlich kleinschrittige Gangbild mit reduzierter Gehgeschwindigkeit habe sich beim Verlassen der Klinik deutlich gebessert und beschleunigt. Eine bildmorphologische Diagnostik könne im vorliegenden Fall nichts zur sozialmedizinischen Leistungseinschätzung beitragen. Die fehlende Eigenmotivation mit nicht gegebener Veränderungsbereitschaft bis hin zum Vermeidungsverhalten begründe per se keine Leistungseinbuße

Der Kläger ist der Auffassung, dass er keine Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mehr verrichten könne. Er stützt sich dabei auf eine Stellungnahme des behandelnden Psychiaters Dr. G ... Im Übrigen liege eine Summierung von Leistungseinschränkungen vor. Bei zumindest zeitweise pathologisch erhöhten Blutzuckerwerten bedürfe es während der regulären Arbeitszeit Blutzuckerbestimmungen und unter Umständen auch Zwischenmahlzeiten. Insoweit handle sich um unübliche Arbeitspausen. Hinzu trete das erhöhte Aggressionspotenzial.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 18.03.2015 sowie den Bescheid vom 21.06.2012 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 17.09.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 01.04.2012 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalt und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz, die beigezogenen Akte S 11 R 868/10 betreffend das vorangegangene Rentenverfahren sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist statthaft und zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.

Gegenstand der Berufung ist der Bescheid der Beklagten vom 21.06.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.09.2012, mit dem der Antrag des Kläger auf Rente wegen Erwerbsminderung abgelehnt worden ist.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, da der Bescheid rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt. Er hat keinen Anspruch auf eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung und auch nicht auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.

Versicherte haben gemäß §§ 43 Abs 1, Abs 2 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller bzw teilweise Erwerbsminderung, wenn sie 1. voll bzw teilweise erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs 3 SGB VI).

§ 240 SGB VI dehnt aus Gründen des Vertrauensschutzes den Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auf vor dem 02.01.1961 geborene und berufsunfähig gewordene Versicherte aus, wenn die sonstigen Voraussetzungen des § 43 SGB VI erfüllt sind. Da der Kläger 1970 geboren ist, findet § 240 SGB VI auf ihn keine Anwendung.

Die Voraussetzungen des §§ 43 Abs 1, Abs 2 SGB VI liegen beim Kläger nicht vor.

Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass der Kläger noch vollschichtig leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten verrichten kann. Nicht zumutbar sind nur schwere Tätigkeiten oder dauerhaft mittelschwere Tätigkeiten, Arbeiten unter hohem Zeitdruck sowie Arbeiten mit Publikumsverkehr und Tätigkeiten auf Gerüsten und Leitern. Bei dieser Einschätzung stützt sich der Senat insbesondere auf die schlüssigen und überzeugenden Ausführungen des Gutachters Dr. B., die im Einklang mit den Gutachten von Dr. D. und Frau S. stehen.

Beim Kläger liegen neben einer Persönlichkeitsstörung mit impulsiven, autodestruktiven und projektiven Merkmalen und starker Ich-Bezogenheit folgende Gesundheitsstörungen vor: &61485; Dysthymie &61485; Diabetes mellitus Typ II, insulinpflichtig &61485; leichte diabetische Polyneuropathie &61485; chronischer Schmerz mit somatischen psychischen Faktoren &61485; Zustand nach Kahnbeinfraktur links, 2003 operiert &61485; Nikotinabusus &61485; Tinnitus beidseits &61485; Laktoseintoleranz

Der Kläger klagt hauptsächlich über Rückenschmerzen und schlechte Stimmung. Der allgemein-körperliche und orientierend orthopädische Befund war bei sämtlichen Untersuchungen durch die Gutachter nahezu unauffällig. Der insulinpflichtige Diabetes mellitus Typ II bedarf einer regelmäßigen Blutzuckereinstellung. Insoweit sind die Gesundheitsstörungen für die Leistungsbeurteilung nur sehr untergeordnet von Bedeutung. Gleiches gilt für die leicht ausgeprägte beginnende diabetische Polyneuropathie. Paresen oder sonstige pathologische Befunde bestanden insoweit noch keine. Eine relevante Sehbehinderung aufgrund einer möglichen diabetischen Retinopathie liegt nicht vor. Diese Gesundheitsstörungen führen deshalb ausschließlich zu der oben beschriebenen qualitativen Leistungseinschränkung. Die Wegefähigkeit ist erhalten.

Eine zeitliche Leistungseinschränkung ergibt sich aber auch nicht auf psychiatrischem Fachgebiet. Zur Überzeugung der Kammer liegt im Längsschnitt lediglich eine Dysthymie und keine schwerwiegende depressive Erkrankung vor, da es insoweit an den erforderlichen psychopathologischen Befunden fehlt. Das beim Kläger vorliegende hohe Maß an Konfliktbereitschaft und Streitbarkeit ist Ausdruck seiner Persönlichkeit und nicht mit einer mittelschweren oder schwereren depressiven Störung vereinbar. Insoweit folgt das Gericht den Gutachtern Dr. B. und Dr. D ... Aber auch der behandelnde Neurologe und Psychiater Dr. G. attestierte in seinem Bericht für das SG nur eine Dysthymie. Wenn dieser Arzt jetzt in seiner aktuellen Stellungnahme vom 25.01.2016 von einer wesentlichen Verschlechterung ausgeht, ist dies nicht überzeugend, insbesondere nicht im Hinblick auf die erforderliche längerfristige Betrachtung.

Der Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit eines Versicherten durch gerichtliche Sachverständige kommt nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. Urteile vom 18.06.2013, L 11 R 506/12; 17.01.2012, L 11 R 4953) grundsätzlich ein höherer Beweiswert zu als der Einschätzung der behandelnden Ärzte, hier des Dr. G ... Bei der Untersuchung von Patienten unter therapeutischen Gesichtspunkten spielt die Frage nach der Einschätzung des beruflichen Leistungsvermögens in der Regel keine Rolle. Dagegen ist es die Aufgabe des Sachverständigen, die Untersuchung gerade im Hinblick darauf vorzunehmen, ob und in welchem Ausmaß gesundheitliche Beschwerden zu einer Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens führen. In diesem Zusammenhang muss der Sachverständige auch die Beschwerdeangaben eines Versicherten danach überprüfen, ob und inwieweit sie sich mit dem klinischen Befund erklären lassen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (zB Urteile vom 14.12.2010L 11 R 3243/09, vom 20.07.2010, L 11 R 5140/09 und vom 24.09.2009, L 11 R 742/09) wird der Schweregrad psychischer Erkrankungen und somatoformer Schmerzstörungen aus den daraus resultierenden Defiziten im Hinblick auf die Tagesstrukturierung, das allgemeine Interessenspektrum und die soziale Interaktionsfähigkeit abgeleitet und daran gemessen. Es ist jedoch zu beachten, dass die Tagesstrukturierung mit jedem Gutachten dürftiger ausfallen kann. Außerdem ist zu berücksichtigen, ob und in welcher Form der Betroffene versucht, einem sich aus der Schmerzstörung ergebenden Leidensdruck durch angemessene therapeutische Bemühungen entgegenzuwirken. Solange zumutbare Behandlungsmöglichkeiten auf psychischem bzw psychiatrischem Gebiet gar nicht versucht werden und noch ein entsprechend erfolgversprechendes Behandlungspotential besteht, kann eine dauerhafte quantitative Leistungsminderung grundsätzlich nicht auf eine aktuell Arbeitsunfähigkeit verursachende psychische Erkrankung gestützt werden (Bayerisches LSG 15.02.2012, L 19 R 774/06; hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG 29.05.2013, 1 BvR 1522/12, BVerfGK 20, 139; siehe auch Senatsurteil 22.04.2015, L 11 R 5112/14; LSG Berlin-Brandenburg 18.09.2008, L 3 R 1816/07, juris RdNr 36).

Beim Kläger fällt auf, dass bisher noch keine stationäre psychiatrische Behandlung und Psychotherapie stattgefunden hat und der Kläger eine solche auch nicht möchte. Zudem bestehen erhebliche Zweifel an der Medikamenten-Compliance. So waren bei den Untersuchungen durch Frau S. und Dr. D. Psychopharmaka im Blut nicht nachweisbar. Bei der Untersuchung durch Dr. B. lag ein toxischer Wirkspiegel des Antidepressivums Venlafaxin vor. Dieser Befund legt die Annahme nahe, dass der Kläger vor der Untersuchung im Wissen um die zu erwartende Laboruntersuchung mehrere Tabletten zu sich genommen hat. Denn bei der verordneten Dosierung von 150 mg täglich ist ein toxischer Wirkspiegel nicht zu erwarten.

Im Gegensatz zur Einschätzung von Dr. B. hält der Senat es nicht für nachgewiesen und schon nicht für nachvollziehbar, dass beim Kläger ein organisches Psychosyndrom oder gar eine organische Persönlichkeitsveränderung bei Diabetes mellitus vorliegt. Der Senat folgt insoweit der Beurteilung von Dr. B ... Die Diagnose von Dr. B. basiert ausschließlich auf den eigenen Angaben des Klägers. Objektiv liegen die hierfür erforderlichen starken Beeinträchtigungen intellektueller Fähigkeiten, Störungen der kognitiven Basisfunktionen in Form von Antrieb und der Exekutivfunktion, bis hin zur völligen Teilnahmslosigkeit oder einer Demenz nicht vor. Solche objektiven Befunde wurden von keinem Gutachter beschrieben. Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des vom Klägerbevollmächtigten vorgelegten Internetausdrucks zum organischen Psychosyndrom. Die dortigen Ausführungen zum akuten oder chronischen organischen Psychosyndrom widersprechen den Ausführungen von Dr. B. nicht. Im Übrigen konnte bei der Kernspintomographie des Schädels am 23.12.2015 ein der Wesensänderung zugrundeliegender hirnorganischer Prozess explizit ausgeschlossen werden.

Der Senat teilt die Einschätzung von Dr. D., dass beim Kläger eine Persönlichkeitsstörung mit impulsiven, autodestruktiven und projektiven Zügen besteht. Diese Störung ist jedoch nicht so hochgradig, dass der Kläger deshalb in seinen Freiheitsgraden extrem eingeschränkt wäre. Der Kläger ist frei in seiner Entscheidung, sich zu ändern und auch ärztliche und sonstige therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es bestehen jedoch erhebliche Hinweise dafür, dass er sich nicht ändern will. Eine relevante zeitliche Leistungsminderung resultiert daraus nicht. Allenfalls sind die oben beschriebenen qualitativen Einschränkungen zu beachten.

Anhaltspunkte dafür, dass vorliegend in der Person des Klägers eine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeeinträchtigungen oder eine spezifische Leistungsbeeinträchtigung gegeben wäre, bestehen nicht. Ein Teil der qualitativen Beschränkungen wird bereits durch den Umstand, dass nur leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten zumutbar sind, mitberücksichtigt. Schließlich ist hier auch nicht von einem verschlossenen Arbeitsmarkt im Sinne der Rechtsprechung des BSG und der dort aufgestellten Kriterien auszugehen (siehe BSG 30.11.1983, 5a RKn 28/82, BSGE 56, 64, SozR 2200 § 1246 Nr 110; siehe insbesondere auch hierzu den bestätigenden Beschluss des Großen Senats vom 19.12.1996, BSGE 80, 24, SozR 3-2600 § 44 Nr 8; siehe auch BSG 05.10.2005, B 5 RJ 6/05 R, SozR 4-2600 § 43 Nr 5). Insbesondere ist die regelmäßig erforderliche Blutzuckereinstellung und die gegebenenfalls notwendige zusätzliche Verpflegung jederzeit im Rahmen der persönlichen Verteilzeiten ohne unübliche Arbeitspausen möglich (vgl Senatsurteil vom 26.10.2010, L 11 R 5203/09; Kreikebohm, SGB VI, § 43 Rn 34). Die eingeschränkte psychische Belastbarkeit und das erhöhte Aggressionspotential des Klägers ist bereits bei den qualitativen Leistungseinschränkungen berücksichtigt. Es war im Übrigen im Hinblick auf das zur Überzeugung des Senats bestehende Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden pro Arbeitstag unter Berücksichtigung nicht arbeitsmarktunüblicher qualitativer Leistungseinschränkungen zu der Frage, inwieweit welche konkrete Tätigkeit dem Kläger noch leidensgerecht und zumutbar ist, keine Prüfung durchzuführen, da die jeweilige Arbeitsmarktlage bei einer Leistungsfähigkeit von sechs Stunden täglich und mehr nicht zu berücksichtigen ist (§ 43 Abs 3 letzter Halbsatz SGB VI).

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt; die vorhandenen Gutachten und Arztauskünfte bilden eine ausreichende Grundlage für die Entscheidung des Senats. Die vorliegenden Gutachten von Dr. D. und Dr. B. haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs 1 ZPO). Die Gutachten gehen von zutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen aus, enthalten keine unlösbaren inhaltlichen Widersprüche und geben auch keinen Anlass, an der Sachkunde oder Unparteilichkeit der Gutachter zu zweifeln; weitere Beweiserhebungen waren daher von Amts wegen nicht mehr notwendig. Den Vorwurf des Klägers, die Begutachtung durch den gerichtlichen Sachverständigen Dr. B. scheine die gebotene Objektivität und Neutralität vermissen zu lassen, hält der Senat für unbegründet. Soweit die Prozessbevollmächtigte des Klägers unter Hinweis auf die von ihr selbst durchgeführte Internetrecherche zu den Symptomen eines organischen Psychosyndroms die Aussagen des gerichtlichen Sachverständigen in Zweifel zieht, übersieht sie, dass Dr. B. keine Ausführungen zu den möglichen Symptomen einer solchen Erkrankung gemacht hat. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 12.11.2015 hat er sich vielmehr konkret zu den Auswirkungen eines organischen Psychosyndroms bei Diabetes mellitus als Ausdruck einer Marklagerencephalopathie des Gehirns geäußert. Patienten mit einem solchen Krankheitsbild würden eine recht typische psychopathologische Symptomatik entwickeln, die beim Kläger gerade nicht vorliegt. Diese Aussage wird durch die Internetrecherche der Prozessbevollmächtigten des Klägers weder erschüttert noch gar widerlegt.

Die Würdigung unterschiedlicher Gutachtenergebnisse oder unterschiedlicher ärztlicher Auffassungen zur Leistungsfähigkeit des Versicherten gehört wie die anderer sich widersprechender Beweisergebnisse zur Beweiswürdigung selbst. Eine Verpflichtung zu weiterer Beweiserhebung besteht auch bei einander widersprechenden Gutachtenergebnissen im Allgemeinen nicht; vielmehr hat sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung mit den einander entgegenstehenden Ergebnissen auseinanderzusetzen. Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem anschließen, ohne eine weitere Sachaufklärung zu betreiben. Bei einer derartigen Fallkonstellation ist für eine weitere Beweiserhebung regelmäßig kein Raum (BSG 08.12.2009, B 5 R 148/09 B, juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Nr 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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