L 11 R 2363/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 2 R 609/16
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 2363/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 24.03.2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Fortführung des Verfahrens S 2 R 1531/15 vor dem Sozialgericht Heilbronn (SG) nach Erklärung des Rechtsstreits für erledigt und in der Sache die Zahlung von Übergangsgeld bis 24.04.2016.

Mit Bescheid vom 29.04.2014 bewilligte die Beklagte der Klägerin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (RI-Maßnahme REAL bei B. L. gGmbH). Sie behielt sich den Widerruf dieses Bescheides für den Fall vor, dass Umstände bekannt werden, die die Durchführung der Leistung als nicht oder nicht mehr angezeigt erscheinen ließen, zB aus leistungsmäßigen Gründen oder bei Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse. Mit Bescheid vom 18.11.2014 widerrief die Beklagte die Bewilligung mit der Begründung, die Leistungen reichten nicht aus, das Rehabilitationsziel in der vorgesehenen Zeit zu erreichen. Der Übergangsgeldanspruch ende mit dem 31.10.2014, dem letzten Tag der Teilnahme an der Maßnahme. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Mit Änderungsbescheid vom 26.01.2015 widerrief die Beklagte die Bewilligung mit Wirkung ab 21.11.2014, zu diesem Tag ende das Übergangsgeld. Auch hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 23.04.2015 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen richtete sich die am 11.05.2015 zum SG erhobene Klage nebst Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz wegen Weiterzahlung des Übergangsgeldes. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz wurde mit Beschluss vom 09.06.2015 abgelehnt (S 2 R 1530/15 ER). Die dagegen eingelegte Beschwerde blieb ohne Erfolg (Beschluss des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg vom 20.08.2015, L 4 R 2960/15 ER-B).

Mit ihrer Klage wandte sich die Klägerin gegen die Beendigung der Reintegrationsmaßnahme vor deren regulärem Ende zum 09.01.2015 und verlangte die Tragung von Kosten einer selbst beschafften Qualifizierungsmaßnahme beim Bildungsträger A. Training und Beratung in M ... Im Erörterungstermin am 16.02.2016 erklärte die Klägerin nach Erörterung der Sach- und Rechtslage den Rechtsstreit für erledigt.

Mit Schreiben vom 20.02.2016 hat sich die Klägerin erneut an das SG gewandt und ausgeführt, sie widerrufe bzw fechte das Anerkenntnis vom 16.02.2016 an. Objektiv gesehen seien weitere Teilhabeleistungen zum Abschluss der Maßnahme beim B. erforderlich gewesen, da das Reha-Ziel nicht erreicht gewesen sei. Der Anspruch auf Weiterzahlung des Übergangsgeldes nach § 51 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) sei gegeben. Sie sei über den Inhalt der Erledigungserklärung im Irrtum gewesen und fechte diese an. Sie sei der Meinung, dass sie 14 Tage ein Widerrufsrecht habe.

Mit Urteil vom 24.03.2016 hat das SG festgestellt, dass das Klageverfahren S 2 R 1531/15 erledigt ist. Die Klägerin habe ausweislich der Niederschrift am 16.02.2016 den Rechtsstreit für erledigt erklärt. Sachlich handele es sich dabei um eine Klagerücknahme, die nach § 102 Abs 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) den Rechtsstreit in der Hauptsache erledige. Zweifel an der Wirksamkeit der Erklärung bestünden nicht, die Klägerin sei beteiligten- und prozessfähig. Eine Anfechtung wegen Irrtums führe nicht zur Unwirksamkeit der Erklärung. Eine Klagerücknahme könne grundsätzlich nicht widerrufen und nicht angefochten werden.

Gegen das ihr am 18.06.2016 zugestellte Urteil richtet sich die am 27.06.2016 eingegangene Berufung der Klägerin. Die Unwirksamkeit der Klagerücknahme beziehe sich nicht auf die Klageanträge im Schriftsatz vom 04.05.2015, insoweit sei der Renteneintritt zum 01.06.2015 das erledigende Ereignis. Die Unwirksamkeit beziehe sich vielmehr auf die Klageerweiterung vom 23.08.2015 (Anm: dieses Schreiben hat die Klägerin unter den Az S 2 R 1530/15 ER und L 4 R 2960/15 ER-B eingereicht betreffend Übergangsgeld). Der richterliche Hinweis zu § 51 SGB IX sei falsch gewesen und habe sie in ihrer Willensbildung beeinträchtigt. Ein Widerruf der Klagerücknahme sei daher möglich.

Die Klägerin beantragt (teilweise sinngemäß),

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 24.03.2016 aufzuheben und unter Fortsetzung des Verfahrens S 2 R 1531/15 die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 26.01.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.04.2015 zu verurteilen, ihr Übergangsgeld bis 24.04.2015 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Tatbestände für eine Unwirksamkeit der Klagerücknahme lägen nicht vor.

Mit Schreiben vom 21.07.2016 sind die Beteiligten auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung durch Beschluss und ohne Beteiligung ehrenamtlicher Richter hingewiesen worden.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs 1 SGG) eingelegte Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und damit zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet, denn das SG hat zu Recht die verfahrensbeendigende Wirkung der Klagerücknahme festgestellt.

Der Senat weist die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung und ohne Beteiligung ehrenamtlicher Richter gemäß § 153 Abs 4 SGG zurück, da er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind zu dieser Verfahrensweise gehört worden. Die Zustimmung der Beteiligten zum Verfahren nach § 153 Abs 4 SGG ist nicht erforderlich.

Mit der Erklärung des gesamten Rechtsstreits für erledigt hat die Klägerin deutlich gemacht, dass sie das Verfahren beenden will. Diese Erklärung ist als Klagerücknahme auszulegen. Gemäß § 102 Abs 1 Satz 1 und 2 SGG kann die Klägerin die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Es ist nicht unüblich, dass Rücknahmen verklausuliert werden, um das Abstandnehmen von einem wenig erfolgversprechenden Verfahren in einem "milderen Licht" erscheinen zu lassen. Entscheidend ist ein aus der gewählten Formulierung klar erkennbarer Wille, das Verfahren nicht fortsetzen zu wollen, wie er hier vorlag. Der Sache nach hat die Klägerin damit die Klage insgesamt zurückgenommen.

Diese Prozesserklärung konnte auch nicht wirksam angefochten werden. Die Erledigungserklärung ist eine Prozesshandlung, die das Gericht und die Beteiligten bindet, selbst wenn der Rechtsstreit materiell nicht erledigt wurde. Sie kann grundsätzlich nicht widerrufen oder wegen Irrtums angefochten werden (Bundessozialgericht (BSG) 20.12.1995, 6 RKa 18/95, juris; BSG 04.11.2009, B 14 AS 81/08 B, juris; Bundesverwaltungsgericht 26.01.1981, 6 C 70/80, juris; Bundesfinanzhof (BFH) 19.01.1971, II B 26/69, BFHE 104, 291; Meyer-Ladewig, SGG, 11. Aufl, § 102 RdNr 7c mwN). Die Klägerin irrte sich auch gar nicht über den Inhalt der verfahrensbeendigenden Erklärung, sie wollte vielmehr genau diese Erklärung abgeben. Es könnte allenfalls ein Motivirrtum vorliegen hinsichtlich der rechtlichen Würdigung der Erfolgsaussichten. Ein solcher Motivirrtum ist aber auch im bürgerlichen Recht – abgesehen von dem hier nicht einschlägigen Fall des Eigenschaftsirrtums (§ 119 Abs 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)) - unbeachtlich. Ob hier der Vorsitzende des SG einen – wie die Klägerin geltend macht - unzutreffenden Hinweis gegeben hat, kann offenbleiben. Denn die Bindung an die Prozesserklärung gilt selbst dann, wenn die Rücknahme auf einem durch das Gericht erregten Irrtum beruht (BSG 17.12.2015, B 2 U 150/15 B, juris). Die unwiderruflich verfahrensbeendende Wirkung der Rücknahme einer Klage dient der Rechtssicherheit, weil andernfalls ein die Beendigung des Verfahrens betreffender Schwebezustand bestände (vgl Bundesgerichtshof 26.09.2007, XII ZB 80/07, FamRZ 2008, 43; anders im finanzgerichtlichen Verfahren: BFH 06.07.2005, XI R 15/04, BFHE 210, 4).

Ein Widerruf der Klagerücknahme ist nur in den engen Grenzen des Vorliegens der Voraussetzungen der Wiederaufnahme des Verfahrens denkbar (§§ 179, 180 SGG). Danach kann ein rechtskräftig beendetes Verfahren entsprechend den Vorschriften des Vierten Buches der Zivilprozessordnung wieder aufgenommen werden (§ 179 Abs 1 SGG). Es fehlt hier an den Voraussetzungen der Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß den Vorschriften der Nichtigkeitsklage oder Restitutionsklage (§§ 579, 580 ZPO). Die Anfechtungsgründe sind abschließend aufgeführt. Es handelt sich im Wesentlichen um schwerste Verfahrensmängel bzw um eine Entscheidung, die auf einer unrichtigen, insbesondere einer verfälschten Grundlage beruht, wie zB auf einer Urkundenfälschung oder einer strafbaren Urteilserschleichung. Die Wiederaufnahme ist ferner zulässig, wenn ein Beteiligter strafgerichtlich verurteilt worden ist, weil er Tatsachen, die für die Entscheidung der Streitsache von wesentlicher Bedeutung waren, wissentlich falsch behauptet oder vorsätzlich verschwiegen hat. Derartige Gründe liegen hier ersichtlich nicht vor und werden auch von der Klägerin nicht behauptet.

Auch unter prozessrechtlichen Gesichtspunkten bestehen an der Wirksamkeit der Klagerücknahme keine Zweifel. Dass die Erklärung ggf nicht selbst von der Klägerin wörtlich so formuliert wurde, spielt keine Rolle. Die Erledigungserklärung ist im Erörterungstermin des SG ordnungsgemäß auf Tonträger vorläufig aufgezeichnet, den Beteiligten vorgelesen und von diesen genehmigt worden (§ 122 SGG iVm §§ 160a Abs 1, 160 Abs 3 Nr 1, 162 Abs 1 ZPO), wie in der Sitzungsniederschrift beurkundet. Das ist ausreichend.

Da das Verfahren durch die erstinstanzlich erklärte Klagerücknahme beendet wurde, ist dem Senat eine Entscheidung in der Sache verwehrt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved