L 4 R 1531/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 12 R 34/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 1531/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 26. Februar 2015 abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. September 2014 bis zum 31. August 2017.

Der Kläger ist 1965 geboren und bei der Beklagten rentenversichert. Er war als Gartenbauarbeiter versicherungspflichtig beschäftigt. Bei ihm ist ein Grad der Behinderung von 50 anerkannt. Auf Grund eines Wegeunfalles vom 18. Oktober 2003, bei dem er sich zwei offene Frakturen am rechten Bein zuzog, bezieht er eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 (Bescheid der Gartenbau-Berufsgenossenschaft vom 8. Juli 2008). Seit diesem Wegeunfall bezieht der Kläger Sozialleistungen, zuletzt Leistungen wegen Arbeitslosigkeit. Bis 31. Mai 2012 ist eine von der Bundesagentur für Arbeit gemeldete Zeit im Versicherungskonto des Klägers gespeichert. Nach einer im April 2005 abgebrochenen Arbeitsbelastungserprobung war er als geringfügig Beschäftigter bei seinem früheren Arbeitgeber tätig.

Vom 19. August bis 14. Oktober 2010 befand sich der Kläger zur stationären Behandlung in der M.-B.-Klinik (Fachklinik für Psychosomatik und Ganzheitsmedizin) in K. im Schwarzwald. Mit Arztbrief vom 5. November 2010 berichtete Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie Prof. Dr. Dipl.-Psychologe H. über die Diagnosen einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome, einer chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sowie einer Lumboischialgie. Der Kläger habe die Klinik in gebessertem und sehr motiviertem Zustand, sein Leben wieder in die Hand zu nehmen und zu verändern, verlassen.

Am 15. Februar 2011 beantragte der Kläger zuletzt Rente wegen Erwerbsminderung. Er begründete dies mit Belastungsstörung, depressiven Symptomen und Schmerzstörungen.

Die Beklagte zog zahlreiche Arztbriefe bei und beauftragte sodann Orthopäden Dr. R. mit der Erstellung eines Gutachtens. Dr. R. kam auf Grund einer Untersuchung des Klägers vom 19. September 2011 in seinem Gutachten vom 22. September 2011 zu den Diagnosen eines Zustands nach Arbeitswegunfall vom 18. Oktober 2003 mit Ober- und Unterschenkelfrakturen rechts und knöcherner Durchbauung der Frakturen, eines Zustand nach privatem Unfall 1999 mit Sprunggelenksfraktur rechts und verbliebener Bewegungseinschränkung des rechten Sprunggelenkes, eines wiederkehrenden Lendenwirbelsyndroms bei Bandscheibendegeneration sowie anamnestisch einer depressiven Episode 2010. Der Kläger könne noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten überwiegend im Stehen, überwiegend im Gehen, überwiegend im Sitzen sechs Stunden und mehr täglich bei Beachtung qualitativer Einschränkungen verrichten. Im Auftrag der Beklagten erstellte ferner Ärztin für Nervenheilkunde Be. auf Grund einer Untersuchung des Klägers vom 19. September 2011 unter dem 20. September 2011 ein Gutachten. Sie stellte auf nervenärztlichem Fachgebiet aktuell keinen Befund vom Krankheitswert sowie anamnestisch eine depressive Episode 2010 fest. Der Kläger könne noch mittelschwere Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr täglich verrichten.

Die Beklagte lehnte daraufhin den Antrag des Klägers auf Gewährung von Rente wegen Erwerbminderung mit Bescheid vom 26. September 2011 ab. Der Kläger könne noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein.

Hiergegen erhob der Kläger am 14. Oktober 2011 Widerspruch. Das bei ihm vorliegende Schmerzgeschehen sei nicht ausreichend berücksichtigt worden. Er befinde sich seit vielen Jahren in schmerztherapeutischer Behandlung. Er habe chronische Rückenschmerzen, Schmerz bei Einfluss psychosozialer und Verhaltensfaktoren und neuropathische Beinschmerzen bei Zustand nach erstgradig offener Femurfraktur und erstgradig offener Unterschenkelfraktur. Diese Schmerzen seien in den Gutachten der Ärzte Dr. R. und Be. nicht ausreichend berücksichtigt. Durch den Aufenthalt in der M.-B.-Klinik in Königsfeld sei nur kurzfristig eine Besserung eingetreten. Er zeige weiterhin eine depressive Symptomatik.

Ärztin Be. und Dr. R. verblieben bei ihren Beurteilungen des Leistungsvermögens des Klägers (Stellungnahmen vom 16. und 30. November 2011). Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 23. Dezember 2011 zurück.

Hiergegen erhob der Kläger am 2. Januar 2012 Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG). Er sei durch die im Jahr 2003 erlittenen Verletzungen im skelettalen/orthopädischen Bereich in seiner Erwerbstätigkeit erheblich beeinträchtigt. Es bestünde eine erhebliche Bewegungseinschränkung im Bereich des rechten Kniegelenkes sowie mittlerweile auch im Bereich des rechten Hüftgelenkes. Das rechte Kniegelenk schwelle bereits nach kurzer Belastung erheblich an. Zudem träten erhebliche Schmerzzustände auf, die ihn in seiner Erwerbsfähigkeit erheblich beeinträchtigten. Er sei auch in seiner Wegefähigkeit beeinträchtigt. Daneben bestünden noch weitere Erkrankungen auf psychiatrischem Fachgebiet. Er leide unter immer wiederkehrenden Gedanken an den Unfall, Alpträumen und Schlaflosigkeit. Im Rahmen der durchgeführten stationären Rehamaßnahme seien eine posttraumatische Belastungsstörung, eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome oder eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren diagnostiziert worden. Die Symptome hielten bis zum heutigen Tage noch immer an. Insbesondere die bereits angeführte Schmerzstörung sei bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit bislang nicht hinreichend berücksichtigt worden. Allein hierdurch sei er daran gehindert, auch nur leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in einem Umfang von mindestens drei Stunden täglich auszuüben.

Die Beklagte tragt der Klage entgegen. Sie legte sozialmedizinische Stellungnahmen der Fachärztin für Chirurgie Z. vom 18. September 2012, vom 25. April 2013, vom 27. August 2013 und vom 22. Januar 2015 vor. Sie wies weiter darauf hin, dass ausgehend von einem Leistungsfall am 15. Februar 2015 die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Bei einem Versicherungsfall am 18. Februar 2014 seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt.

Das SG befragte behandelnde Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen. Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. A. berichtete unter dem 19. April 2012, dass der Kläger bei ihm seit 1993 in hausärztlicher Behandlung sei. Im Vordergrund stünde eine polysymptomatische Beschwerdesituation bei Zustand nach Polytrauma im Jahr 2003. Es habe sich ein neuropathisches Beschwerdebild mit chronischer Depression und erheblichem Leidensdruck entwickelt. Es bestehe ein polysymptomatisches Beschwerdebild, statisch orthopädische Probleme des verletzten Beines mit persistierender Rotationsfehlstellung und dadurch Schonstellung mit muskulären Beschwerden im Bereich des Beines und auf Grund der Schonstellung auch entsprechender lumbaler Schmerzen. Kompliziert werde das ganze Geschehen durch eine neuropathische Schmerzkomponente. Daneben bestehe sicherlich eine Verarbeitungsstörung im Sinne einer depressiven Tinktur. Facharzt für Neurochirurgie/spezielle Schmerztherapie Privatdozent Dr. W. (Interdisziplinäres Schmerzzentrum des U.-klinikums F.) berichtete unter dem 21. Juni 2012 über die Diagnosen chronischer Rückenschmerzen, eines Schmerzes bei Einfluss psychosozialer und Verhaltensfaktoren, eines Zustands nach leichter depressiver Episode, einer Insomnie sowie neuropathischer Beinschmerzen bei Zustand nach erstgradiger offener Femurfraktur und erstgradiger offener Unterschenkelfraktur im Jahr 2003. Auf Grund der erhobenen Befunde könne der Kläger eine leichte Tätigkeit von mindestens sechs Stunden verrichten. Einschränkungen bestünden für Heben von schweren Gegenständen und Gewichten von über zehn bis 15 Kilogramm. Außerdem sollten keine Tätigkeiten in Zwangshaltungen ausgeübt werden. Günstig wäre ein häufiger Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen. Auch seien Arbeiten mit hoher Belastung, zum Beispiel Akkord oder Nachtarbeit, nicht zumutbar. Das SG zog ferner die gutachterliche Stellungnahme des Privatdozent Dr. W. vom 9. November 2011 bei, die dieser im Rechtsstreit des Klägers gegen die Gartenbau-Berufsgenossenschaft (S 7 U 1736/11) abgegeben hatte. Er nannte dieselben Diagnosen.

Das SG bestellte Privatdozent Dr. E. (Kreiskrankenhaus R.) von Amts wegen zum gerichtlichen Sachverständigen. Dieser erstattete auf Grund einer Untersuchung des Klägers vom 13. Dezember 2012 und einer Magnetresonanztomografie der Lendenwirbelsäule vom 4. Januar 2013 unter dem 23. Januar 2013 ein unfallchirurgisches und orthopädisches Gutachten. Es fänden sich Beweglichkeitseinschränkungen im rechten Hüft- und im rechten Kniegelenk, eine Minderung der groben Kraft im Bereich der Oberschenkelmuskulatur rechts, weiterhin ein neuropathisches Schmerzsyndrom mit Lumboischialgien, sensiblen Störungen an Ober- und Unterschenkel und dem Fuß sowie eine muskulär bedingte Außenrotationsfehlstellung. Der Kläger sei nur für kurze Strecken gehfähig, auch längeres Stehen sei ihm nicht möglich. Er könne keine schweren Lasten anheben. Seine geistigen Funktionen erschienen nicht wesentlich beeinträchtigt, wobei allerdings zu berücksichtigen sei, dass durch die ständigen Schmerzen und die notwendige Schmerzmitteleinnahme eine erhebliche psychische Beeinträchtigung bestehe. Der Kläger könne nicht mehr regelmäßig einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Er könne nur noch weniger als drei Stunden ohne Gefährdung der Gesundheit arbeiten. Er leide an schmerzhaften Lumboischialgien, die ihn praktisch zwängen, das Bein in einer Außenrotationsstellung zu halten. Eine aktive Innenrotation sei ihm nicht möglich. Zwar seien keine organischen Defizite im Bereich der knöchernden und nervalen Struktur im Bereich der Wirbelsäule gefunden worden, so dass von einem neuropathischen Schmerzsyndrom auszugehen sei, dessen Ursache letztlich nicht geklärt werden könne. Der Kläger erscheine durch die momentane Symptomatik jedoch so stark behindert, dass auch kurzstreckiges Gehen, Treppauf- und Treppabsteigen, das Besteigen eines Baggers während seiner landwirtschaftlichen Arbeit, das Anheben von schweren Gegenständen oder auch längeres Stehen ihm nicht mehr möglich sei. Die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit des Klägers bestehe seit dem 22. März 2010 (früherer Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung). Die wesentliche Einschränkung des Klägers bestünden nicht in den Folgen der erlittenen Frakturen, sondern in der Entwicklung einer schmerzhaften Lumboischialgie mit einem schmerzhaften neuropathischen Beinsyndrom. In seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 4. Juni 2013 führte Privatdozent Dr. E. aus, eine relevante Hüftgelenksarthrose rechts liege nicht vor.

Das SG bestellte sodann Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse Dr. W.-B. von Amts wegen zur gerichtlichen Sachverständigen. Diese erstattete auf Grund einer Untersuchung des Klägers vom 18. Februar 2014 unter dem 14. August 2014 ein psychosomatisch-psychiatrisches Fachgutachten. Sie diagnostizierte eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung sowie eine depressive Episode. Der Kläger könne auf Grund seines Gesundheitszustandes einer regelmäßigen, regulären Erwerbstätigkeit nicht nachgehen, sondern nur einer unregelmäßigen Tätigkeit, wie er sie momentan bei seinem früheren Arbeitgeber innehabe. Die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit bestehe spätestens seit dem letzten gescheiterten Wiedereingliederungsversuch im Jahr 2010. Zum psychischen Befund führte sie aus, der altersentsprechend freundlich und zugewandt wirkende Kläger sei wach, bewusstseinsklar und allseits gut orientiert. Der Gedankengang sei flüssig und einfach strukturiert. Für inhaltliche Denkstörungen oder Ich-Störungen ergebe sich kein Anhalt. Die Stimmung sei subdepressiv und nur mäßig modulierbar. Es fielen Selbstbezichtigung, Schuld- und Schamgefühle sowie gebrochenes, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen bis hin zu Gefühlen von Wertlosigkeit auf. Trotz Medikation bestünden Durchschlafstörungen, Schlaflosigkeit, Antriebsminderung und innere Unruhe. Der Kläger gebe Existenzängste an. Inhaltlich liege der Fokus auf den Beinschmerzen. Der Kläger räume Schmerzen an anderen Gelenken sowie psychosoziale Belastungsfaktoren (finanzielle Schwierigkeiten, Pflege eines behinderten Sohnes) ein.

Vom 6. Februar bis 5. März 2014 befand sich der Kläger erneut zur stationären Behandlung in der M.-B.-Klinik (Fachklinik für Psychosomatik und Ganzheitsmedizin). Im vorläufigen Entlassungsbericht vom 5. März 2014, der dem SG nicht vorlag, diagnostizierte Dipl.-Psychologe Wi. neben orthopädischen Diagnosen eine mittelgradige depressive Episode. Der Kläger sei in einem gebesserten psychischen Zustand entlassen worden. Er sei weiterhin behandlungsbedürftig. Der Kläger sei arbeitsfähig entlassen. Er empfehle dringend die Weiterführung der medikamentösen Behandlung und eine ambulante Psychotherapie.

Das SG verurteilte die Beklagte mit Urteil vom 26. Februar 2015 unter Aufhebung des Bescheides vom 26. September 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Dezember 2011, dem Kläger ausgehend von einem Leistungsfall am 18. Februar 2014 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1. September 2014 bis zum 31. August 2017 zu gewähren und wies die Klage im Übrigen ab. Der Kläger sei nur noch in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes leichte Tätigkeiten unter drei Stunden täglich auszuüben. Bei ihm stünden Einschränkungen auf psychiatrischem Fachgebiet im Vordergrund. Es schließe sich für dieses medizinische Fachgebiet dem Gutachten von Dr. W.-B. an. Nachgewiesen sei ein psychosomatischer Leistungsfall allerdings erst zum Untersuchungszeitpunkt durch Dr. W.-B. am 18. Februar 2014. Im Hinblick auf eine in Kürze bevorstehende ambulante Psychotherapie sei nicht von einem unveränderlichen Dauerzustand auszugehen und die Rente daher zu befristen. Dagegen könne es sich nicht dem orthopädischen Gutachten von Privatdozent Dr. E. anschließen. Es enthalte zu viele Widersprüche und Lücken, als dass die darin enthaltene Leistungsbeurteilung überzeugen könne.

Gegen das ihr am 26. März 2015 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 17. April 2015 Berufung eingelegt. Die ärztlichen Sachverständigengutachten seien nicht schlüssig und nicht nachvollziehbar. Beim Gutachten des Privatdozent Dr. E. würden qualitative Leistungseinschränkungen belegt. Es sei allerdings nicht nachvollziehbar, warum sich auf Grund eines festgestellten neuropathischen Schmerzsyndroms, das sich inhaltlich nicht im Sinne rein subjektiver Beschwerdeangaben vom Ergebnis des psychosomatisch-psychiatrischen Gutachtens von Dr. W.-B. unterscheide, eine quantitative Leistungsminderung eingestellt haben solle. Das Gutachten von Dr. W.-B. enthalte ebenfalls keine Befunde oder Abbildungen sozialmedizinisch weitreichender Leistungseinschränkungen etwa als Folgen ganz konkreter sich aus psychischen Störungen ergebender Funktionsstörungen. Die Sachverständige folge nur dem Vortrag des Klägers. Es werde nicht deutlich, wie sich das Krankheitsbild des Klägers auf die Erlebnisse und Gestaltungsfähigkeit auswirke. Bezüglich der genannten anhaltenden somatoformen Schmerzstörung erfolge keinerlei adäquate leitliniengerechte multimodale Therapie. Es werde allenfalls eine Schmerztherapie in WHO-Stufe 1 mitgeteilt. Es entspreche somit auch nicht den Tatsachen, dass keine sinnvollen medikamentösen oder therapeutischen Behandlungsoptionen offen stünden, wenn diese erforderlich wären. Auch Privatdozent Dr. W. und Dr. A. gingen in ihren sachverständigen Zeugenaussagen von einem Zustand nach leichter depressiver Episode und einem Schmerz bei Einfluss psychosozialer und Verhaltensfaktoren aus. Ein schwerwiegendes chronifiziertes psychotisches Krankheitsbild, das zu einer konkreten persönlichen Leistungseinschränkung führe, die sich im Tagesablauf und der Lebensgestaltung auswirke, sei nicht festgestellt. Die Sachverständige Dr. W.-B. beurteile zudem, dass ein Arbeitsverhältnis auf dem freien Arbeitsmarkt nicht realistisch erscheine. Es bestünden daher Zweifel, ob sie die Fragestellung des SG richtig verstanden und die medizinische Leistungsfähigkeit beurteilt habe oder die Chancen auf dem Arbeitsmarkt eingeschätzt habe. Beim Kläger lägen weder orthopädische noch psychosomatische/psychiatrische Gesundheitsstörungen in dem Ausmaße vor, dass sie sein Leistungsvermögen für angepasste Tätigkeiten in zeitlicher Hinsicht einschränkten. Die Wegefähigkeit sei erhalten, ein Personenkraftwagen werde genutzt. Die Beklagte hat sozialmedizinische Stellungnahmen des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. N. vom 8. und 17. April 2015 sowie vom 9. März 2016 und vom 14. Oktober 2016 sowie eine Wartezeitaufstellung und einen Versicherungsverlauf vom 18. Juli 2016 vorgelegt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 26. Februar 2015 abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger ist der Ansicht, das angegriffene Urteil sei zutreffend. Wie von der Sachverständigen Dr. W.-B. zutreffend festgestellt und schlüssig dargelegt, bestünden bei ihm erhebliche Schmerzen, die eine tägliche mehr als dreistündige Tätigkeit derzeit und auf absehbare Zeit ausschlössen. Das SG habe sich in der mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von dem Kläger gemacht, welcher sich mit der Einschätzung der Sachverständigen decke. Die Stellungnahme des Privatdozent Dr. W. sei mittlerweile drei Jahre alt und habe insoweit ihre Aussagekraft verloren. Der Kläger ist dem Sachverständigengutachten des Neurologen und Psychiater Dr. B. (dazu unten) entgegengetreten. Dr. B. verkenne die tatsächlich bei ihm bestehenden psychiatrischen Erkrankungen. Der Sachverständige habe den Schwerpunkt hauptsächlich auf eine neurologische Untersuchung und Begutachtung gelegt. Für dieses Fachgebiet seien umfangreiche Testungen und Untersuchungen durchgeführt worden. Für eine vollständige und fachgerechte psychiatrische Begutachtung ließen sich dem Gutachten allerdings kein Anhaltspunkt entnehmen. Der Sachverständige unterlasse die Durchführung testpsychologische Untersuchungen, welche zu einem standardmäßigen Begutachtungsverfahren gehörten. Dem Hinweis des Sachverständigen, dass dies bei Anwesenheit eines Dolmetschers nicht sinnvoll erscheine, könne nicht gefolgt werden. Die Vorgutachter hätten entsprechende Testungen durchgeführt und seien hierdurch zu einer vollständigen und umfassenden Beurteilung der bei ihm vorhandenen Einschränkungen gelangt. Die Behauptung des Dr. B., dass in der Vorbegutachtung durch Dr. W.-B. die dem Kläger überlassenen testpsychologische Untersuchung von der Dolmetscherin ausgefüllt seien, sei falsch. Die Dolmetscherin habe die entsprechenden Fragebögen für ihn übersetzt und dann seine Antworten eingetragen. Die Testbögen seien ausschließlich nach seinen Angaben ausgefüllt worden und gäben allein seine Antworten wieder. Die sachverständigen Zeugenauskünfte (dazu unten) belegten, dass bei ihm weiterhin gesundheitliche Einschränkungen und die von Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie Prof. Dr. Bi. in seinem Gutachten (dazu unten) festgestellten Gesundheitsstörungen fort bestünden.

Der Senat hat Dr. B. von Amts wegen zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt. Dr. B. hat auf Grund einer Untersuchung des Klägers vom 28. Juli 2015 am selben Tag ein neurologisches und psychiatrisches Gutachten erstattet. Der Kläger sei pünktlich zum vereinbarten Untersuchungstermin in Begleitung seiner Ehefrau erschienen. Er sei selbst modisch, sehr gepflegt gekleidet. Im Erscheinungsbild wirke er frisch und erholt. Die Exploration finde mit Dolmetscher statt, dabei seien ausreichend gute Deutschkenntnisse des Klägers vorhanden, der auch während der körperlichen Untersuchung alle Aufforderungen verstehe und auch ausführe. Die Kommunikation zwischen Dolmetscher und ihm werde entsprechend aufmerksam verfolgt. Die Auffassung sei nicht beeinträchtigt. Wiederholungen oder Erläuterungen durch den Dolmetscher seien nicht erforderlich. Die Antworten erfolgten unverzüglich. Es bestehe kein Hinweis auf eine Einschränkung der Aufmerksamkeit oder Konzentration. Der formale Gedankengang sei bis auf einen brüchigen grammatikalischen Stil ungestört. Konstantes Vorbringens der Beschwerden erfolge ohne Verknüpfung mit einer Krankheitsüberzeugung. Es bestünde kein Hinweis auf ein Beeinträchtigungserleben. In der Ausgangsstimmung sei der Kläger allenfalls leicht bedrückt, eher aber gekränkt über die erneut für erforderlich erachtete Untersuchung. Der Antrieb und die Psychomotorik sei ohne depressive Einbindung. Es bestehe ein sehr positives Selbstbild. Der Kläger sei erkennbar schwingungsfähig. Auf neurologischem Fachgebiet sei keine Gesundheitsstörung zu diagnostizieren. Auf psychiatrischem Fachgebiet liege keine schwergradige depressive Störung vor. Es seien lediglich Besonderheiten der Persönlichkeit festzustellen, die ohne Krankheitswert seien. Gegen eine wesentliche depressive Symptomatik spreche die Nichteinnahme der angegebenen Antidepressiva-Medikation, die die laborärztliche Untersuchung ergeben habe. Eine Diagnose nach ICD-10 sei daher nicht zu stellen. Der Kläger sei noch in der Lage, mindestens sechs Stunden täglich fünfmal pro Woche erwerbstätig zu sein. Aus neurologischer und psychiatrischer Sicht ergäben sich keine qualitativen Einschränkungen bezüglich einer Belastbarkeit für Tätigkeiten mit Gehen, Stehen, Sitzen und gleichförmiger Körperhaltung. Eine Gehstrecke von viermal 500 Metern könne arbeitstäglich mit zumutbarem Zeitaufwand überwunden werden. Die Bewertung der testpsychologischen bzw. standardisierten Befunderhebungen, die durch den bei der Untersuchung von Dr. W.-B. mithilfe des Dolmetschers ausgefüllt worden seien, seien nicht sinnvoll. Sie interpretiere die Beschwerden als somatoform ohne Beachtung der doch sehr bewusstseinsnahen Ausgestaltung.

Der Senat hat sodann auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Prof. Dr. Bi. zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt. Prof. Dr. Bi. hat auf Grund einer Untersuchung des Klägers vom 4. Februar 2016 unter dem 17. Februar 2016 ein psychiatrisch-schmerzpsychologisches Sachverständigengutachten erstellte. Er hat auf psychiatrischem Fachgebiet die Diagnosen einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung in Verbindung mit einer leichten depressiven Verstimmung, keineswegs tiefergehende Depression von klinischer Relevanz, jedoch parallel vorliegend mit einem neuropathischen Schmerzsyndrom bei Zustand nach Femur- und Unterschenkelfraktur rechts im Jahr 2003 auf "schmerzpsychologischem Fachgebiet" die Diagnose eines chronischen Kopfschmerzsyndroms sowie außerhalb seines Fachgebietes, die Diagnosen einer bimalleolären Sprunggelenksfraktur rechts 1999, einer Chondropathia patellae, rezidivierender lumbalgieformer Beschwerden bei Fehlstatik, einer Polyarthrose großer und kleiner Gelenke, eines Verdachts auf ein mittelschweres Restless-Legs-Syndroms sowie eines leichten Tinnitus mitgeteilt. Es handele sich um psychische Störungen mit Krankheitswert, wenn man zu Grunde lege, dass die Schmerzerkrankung, bestehend primär auf dem seit Jahren dokumentierten, von nachfolgenden Gutachtern jedoch übersehenen – neuropathischen Schmerzsyndrom in Verbindung mit der somatoformen Schmerzkomponente in das Gebiet der psychischen Erkrankung eingeordnet werden sollte. Der Krankheitswert sei bedeutend, chronifiziert und therapieresistent. Keinesfalls simuliere oder aggraviere der Kläger. Im Gegenteil, er dissimuliere. Der Rey-Memory-Test sei zwar verdächtig für Simulation, hier sei jedoch die spezifische Untersuchungsbedingung im Gutachtenkontext noch dazu mit Dolmetscher erklärend, jedenfalls kontrastiere dieser Befund erheblich zu Klinik und den Untersuchungsbefunden. Man habe auch kein Hinweis dafür, dass etwa nur bei ärztlichen Untersuchungen die Gesundheitsstörung zu beobachten seien. Aus eigener Willensanstrengung bzw. mit Hilfe zumutbarer ärztlicher Behandlung könne der Betroffene die Leiden nicht überwinden, er sei bereits langjährig therapiert worden, stationär, rehabilitativ und ambulant. Auf Grund der Chronifizierung und der Therapieresistenz des neuropathischen Schmerzsyndroms werde die Rente die Beschwerden keineswegs abklingen oder gar verschwinden lassen. Es werde sich an dem Befinden des Klägers nichts verändern. Allenfalls würde der psychische Druck reduziert, was womöglich eine leichte Stimmungsaufhellung zur Folge haben könnte. Die Leistungsfähigkeit des Klägers für mittelschwere und schwere körperliche Arbeiten sei aufgehoben. Nicht toleriert würden unabhängig von Heben und Tragen oder Bewegen von Lasten oder Hilfsmitteln über fünf Kilogramm langes Stehen oder Gehen, häufiges Bücken, Akkord- und Fließbandarbeiten, sofern diese im Stehen mit stattfinden müssten. Nacht- und Wechselschicht sollte toleriert werden. Nicht toleriert werde hingegen Zugluft sowie Nässe, weil diese das Schmerzsyndrom rasch ungünstig beeinflussten. Somit schieden Arbeiten im Freien aus. Einwirkung von Staub, Gasen und Dämpfen sollten toleriert werden, besondere Verantwortung wegen der Belastung durch das Schmerzsyndrom und Publikumsverkehr sowie geistige Beanspruchung schieden aus. Der Betroffene könne viermal 500 Meter arbeitstäglich in zumutbarem Zeitaufwand zu Fuß zurücklegen. Er könne auch öffentliche Verkehrsmittel benutzen und nach seinen eigenen Angaben einen PKW kurzstreckig fahren. Der Kläger könne eine Erwerbsfähigkeit von mindestens drei bis vier Stunden täglich an fünf Tagen in der Woche nachgehen, wenn die qualitative Leistungseinschränkungen berücksichtigt würden. Der Grund für die zeitliche Einschränkung liege schlichtweg darin, dass Kläger mit chronifiziertem Schmerzsyndrom erfahrungsgemäß deutlich minderbelastbarer seien und bei adäquater Arbeitsbelastung pro Tag einen Aufbrauch der Restgesundheit respektive wiederholte Krankschreibungen riskierte. Die Leistungseinschränkung bestehe seines Erachtens seit dem Unfallereignis.

Der Senat hat sodann behandelnde Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeuge befragt. Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. Sc. hat unter dem 5. Juli 2016 über sehr unregelmäßige Vorstellungen des Klägers berichtet. Therapeutisch sei der Kläger im Wesentlichen in Fortsetzung der fachärztlich begonnenen Behandlung der Depression bzw. des Schmerzsyndroms nach Unter- und Oberschenkelfraktur behandelt worden. Privatdozent Dr. W. hat unter dem 21. Juli 2016 über Vorstellungen des Klägers am 19. Juli und 22. November 2013, am 2. Februar und 5. November 2014 sowie am 16. April 2015 berichtet. Er hat als Diagnosen chronische Rückenschmerzen, einen Schmerz bei Einfluss psychosozialer und Verhaltensfaktoren, einen Zustand nach leichter depressiver Episode, eine Insomnie, neuropathische Beinschmerzen bei Zustand nach erstgradiger offener Femurfraktur und erstgradig offener Unterschenkelfraktur (am 18. Oktober 2003) mitgeteilt. Bei den Untersuchungen seit 1. September 2014 seien keine wesentlichen neuen Befunde erhoben worden. Die medikamentöse Therapie sei modifiziert bzw. weitergeführt worden. Facharzt für Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. K. hat unter dem 27. September 2016 über Behandlungen des Klägers zwischen dem 19. März 2012 und dem 6. September 2016 sowie die Diagnosen eines Zustandes nach Unterschenkelfraktur rechts, eines Zustandes nach Sprunggelenksfraktur rechts, eines Hallux valgus et rigidus rechts und einer Halswirbelsäulenblockierung berichtet. Erfolgt sei eine Infiltrationstherapie des Großzehengrundgelenks, eine Einlagenversorgung und Girotherapie.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Akte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die gemäß § 143 SGG statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedarf insbesondere nicht der Zulassung, da sich die Beklagte gegen die Verurteilung zur Erbringungen von Leistungen für mehr als ein Jahr wendet (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Der Senat konnte gemäß § 124 Abs. 2 SGG mit dem Einverständnis der Beteiligten über die Berufung der Beklagten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

2. Die Berufung der Beklagten ist auch begründet. Das SG hat die Beklagte zu Unrecht verurteilt, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1. September 2014 bis zum 31. August 2017 zu gewähren. Der Bescheid der Beklagten vom 26. September 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Dezember 2011 ist vielmehr rechtmäßig. Der Kläger hat jedenfalls für den hier noch allein streitigen Zeitraum vom 1. September 2014 bis zum 31. August 2017 keinen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung.

a) Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze (insoweit mit Wirkung zum 1. Januar 2008 geändert durch Artikel 1 Nr. 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20. April 2007, BGBl. I, S. 554), wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

b) Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger jedenfalls seit Februar 2014 – dem vom SG angenommenen Zeitpunkt des Leistungsfalls mit dem daraus folgenden Rentenbeginn am 1. September 2014 (§ 101 Abs. 1 SGB VI) – leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden pro Tag verrichten kann. Ob der Kläger vor diesem Datum erwerbsgemindert war, kann angesichts des auf die Zeit vom 1. September 2014 bis 31. August 2017 beschränkten Streitgegenstandes dahinstehen. Ein Eintritt des Leistungsfalles, also des Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung, nach dem 30. Juni 2014 wäre überdies unbeachtlich, da die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die für die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung nur bis zum 30. Juni 2014 vorlagen.

(1) Der Kläger leidet unter verschiedenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Auf orthopädischem und neurologischem Gebiet bestehen bei ihm – insbesondere in Folge zwei offener Frakturen am rechten Bein im Jahr 2003 – Beweglichkeitseinschränkungen im rechten Hüft- und im rechten Kniegelenk, eine Minderung der groben Kraft im Bereich der Oberschenkelmuskulatur rechts, ein neuropathisches Schmerzsyndrom mit Lumboischialgien, sensible Störungen an Ober- und Unterschenkel und dem Fuß sowie eine muskulär bedingte Außenrotationsfehlstellung. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Sachverständigen Privatdozent Dr. E ...

Der Senat konnte sich indes nicht die notwendige Überzeugung davon verschaffen, dass auf psychiatrischem Fachgebiet – jenseits des Schmerzsyndroms – dauerhaft mehr als nur leichte Depressivität vorlag und vorliegt. Zwar ging Prof. Dr. Dipl.-Psychologe H. in seinem Arztbrief vom 5. November 2010 über die stationäre Behandlung des Klägers vom 19. August bis 14. Oktober 2010 von einer schweren depressiven Episode aus, er berichtete allerdings auch von einem gebesserten Zustand bei Entlassung. Ärztin für Nervenheilkunde Be. konnte aufgrund ihrer Untersuchung des Klägers vom 19. September 2011 in ihrem im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten vom 21. September 2011, das der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwerten kann (vgl. etwa Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 14. November 2013 – B 9 SB 10/13 B – juris, Rn. 6; BSG, Urteil vom 5. Februar 2008 – B 2 U 8/07 R – juris, Rn. 51), auf ihrem Fachgebiet keinen Befund von Krankheitswert feststellen. Die Sachverständige Dr. W.-B. hat in ihrem Gutachten aufgrund der Untersuchung des Klägers vom 18. Februar 2014 zwar eine depressive Episode diagnostiziert und diese nach ICD-10 mit F 32.1 codiert, was einer mittelgradigen Episode entspricht. Der Sachverständige Dr. B. wiederum hat aufgrund seiner Untersuchung des Klägers vom 28. Juli 2015 auf psychiatrischen Gebiet eine Erkrankung ausdrücklich nicht feststellen können. Diplom-Psychologe Wi. hat im Entlassungsbericht vom 5. März 2014 über den erneuten stationären Aufenthalt des Klägers in der M.-B.-Klinik vom 6. Februar bis 4. März 2014 von einer Entlassung des Klägers in einem gebesserten psychischen Zustand und als arbeitsfähig berichtet. Auch der Sachverständigen Prof. Dr. Bi. nahm nur eine leichte depressive Verstimmung an und schloss eine tiefergehende Depression von klinischer Relevanz ausdrücklich aus. Insofern ist weder die Äußerung des Klägers gegenüber Prof. Dr. Bi., die Behandlungen in der M.-B.-Klinik seien jeweils ohne durchgreifende Besserung erfolgt, noch die Einschätzung Prof. Dr. Bi., es liege Therapieresistenz vor, nachvollziehbar. Gegen eine depressive Erkrankung in mehr als leichtem Ausmaß spricht auch die antidepressive Medikation in geringem Umfang, wobei nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. B. Zweifel bestehen, ob der Kläger die entsprechenden Arzneimittel überhaupt in größerem Umfang einnimmt. Denn die von ihm veranlasste laborärztliche Untersuchung ergab deutlich unter dem Normalwert der jeweilige Wirkstoffe der vom Kläger eingenommenen entsprechenden Arzneimittel liegende Werte im Blut. In der Gesamtschaut der ärztlichen Äußerungen kann sich der Senat damit jedenfalls nicht die Überzeugung verschaffen, dass die depressiven Episoden von rentenrechtlich relevanter Dauer (mindestens sechs Monate) und Erheblichkeit sind und waren.

(2) Die festgestellten Gesundheitsstörungen schränken das berufliche Leistungsvermögen des Klägers in qualitativer Hinsicht ein. Insbesondere ist ihm längeres Stehen sowie das Heben und Tragen schwerer Lasten nicht zumutbar. Insoweit folgt der Senat der Einschätzung des Sachverständigen Privatdozent Dr. E ...

Zur Überzeugung des Senats steht aber fest, dass der Kläger trotz der festgestellten Gesundheitsstörungen zumindest leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens sechs Stunden pro Tag an fünf Tagen pro Woche verrichten kann. Der Senat kann sich insbesondere nicht die notwendige Überzeugung davon verschaffen, dass das Schmerzgeschehen beim Kläger, auf das die Sachverständigen Privatdozent Dr. E. und Prof. Dr. Bi. ihre Einschätzung einer auch zeitlich relevanten Minderung der Leistungsfähigkeit stützen, so ausgeprägt ist, dass tatsächlich die berufliche Leistungsfähigkeit auf unter sechs Stunden gesunken wäre. Einer anderen Überzeugungsbildung stehen die Einschätzungen des Sachverständigen Dr. B. und des sachverständigen Zeugen Privatdozent Dr. W. vom 21. Juni 2012, die von einer mindestens sechsstündigen Leistungsfähigkeit des Kläger ausgehen, entgegen. Privatdozent Dr. W. bestätigte in seiner sachverständigen Zeugenauskunft vom 21. Juli 2016, dass er bei seinen Untersuchungen seit dem 1. September 2014 keine wesentlichen neuen Befunde erhoben und eine wesentliche Änderung im Gesundheitszustand des Klägers nicht festgestellt habe. Eine konsequente Schmerztherapie des Klägers ist zudem jedenfalls im streitgegenständlichen Zeitraum nicht erfolgt, was gegen einen erheblichen Leidensdruck spricht; Privatdozent Dr. W. hat in seiner schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage vom 21. Juli 2016 insofern lediglich über Vorstellungen des Klägers am 5. November 2014 und am 16. April 2015 berichtet. Bekräftigt wird dies durch den von Dr. Sc. mit seiner sachverständigen Zeugenauskunft vom 5. Juli 2016 vorgelegten Plan über die Einnahme der Dauermedikamente für die Zeit ab 1. Juli 2016, in welchem vermerkt ist, Schmerzmittel seien nur bei Bedarf einzunehmen.

Soweit Prof. Dr. Bi. die von ihm angenommene Leistungseinschränkung als seit dem Unfallereignis (im Jahr 2003) bestehend annimmt, überzeugt dies im Übrigen auch deswegen nicht, weil der Kläger auch nach dem Jahr 2003 noch weiterhin berufstätig war und dabei nicht nur leichte Tätigkeiten verrichtet hat; so lässt sich dem Arbeitszeugnis des Arbeitgebers des Klägers vom 30. Oktober 2009 entnehmen, dass der Kläger ab dem Jahr 2007 als Aushilfe stundenweise auf dem Betriebshof und als Unterstützung auf diversen Baustellen tätig gewesen ist.

Aus den zuvor genannten Gründen vermag ebenso die Leistungseinschätzung der Sachverständigen Dr. W.-B. nicht zu überzeugen. Es kann deshalb offenbleiben, ob das Gutachten im Hinblick auf den Zeitablauf zwischen der Untersuchung (18. Februar 2014) und der Vorlage des schriftlichen Gutachtens im August 2014 überhaupt verwertbar wäre.

Hinsichtlich der Dauer und der Intensität rentenrechtlich relevante Erkrankungen und Funktionseinschränkungen auf psychiatrischem Fachgebiet hat der Senat – siehe oben – nicht feststellen können, so dass insoweit auch keine Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit in zeitlicher Hinsicht angenommen werden können.

(3) Ob dem Kläger ein Arbeitsplatz vermittelt werden kann oder nicht, ist für den geltend gemachten Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nicht erheblich. Die jeweilige Arbeitsmarktlage ist nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Maßgebend ist, ob der Kläger mit dem ihm verbliebenen Restleistungsvermögen – wenn auch mit qualitativen Einschränkungen – in der Lage ist, zumindest körperlich leichte Tätigkeiten arbeitstäglich für mindestens sechs Stunden zu verrichten, er also in diesem zeitlichen Umfang unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts erwerbstätig sein kann, wovon im Regelfall ausgegangen werden kann (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 – B 13 R 78/09 R – juris, Rn. 31). Dies bejaht der Senat wie zuvor dargelegt.

(4) Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liegen nicht vor. In einem solchen Fall kann der Arbeitsmarkt selbst bei einem noch vorhandenen sechsstündigen Leistungsvermögen ausnahmsweise als verschlossen gelten (siehe – auch zum Folgenden – etwa Urteil des Senats vom 21. November 2014 – L 4 R 4797/13 – nicht veröffentlicht). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass eine Verweisung auf noch vorhandenes Restleistungsvermögen nur dann möglich ist, wenn nicht nur die theoretische Möglichkeit besteht, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erhalten.

Eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liegt nur vor, wenn bereits eine erhebliche (krankheitsbedingte) Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt. Hierzu können – unter besonderer Berücksichtigung der jeweiligen Einzelfallumstände – beispielsweise Einäugigkeit, Einarmigkeit und Einschränkungen der Arm- und Handbeweglichkeit sowie besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz zählen (vgl. BSG, Urteil vom 9. Mai 2012 – B 5 R 68/11 R – juris, Rn. 28 m.w.N.). Keine dieser Fallkonstellationen ist hier gegeben.

(5) Auch die Wegefähigkeit des Klägers war und ist gegeben. Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit eines Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle in zumutbarer Zeit aufsuchen zu können. Das BSG hat dieses Vermögen nur dann für gegeben erachtet, wenn es dem Versicherten möglich ist, Entfernungen von über 500 Metern zu Fuß zurückzulegen, weil davon auszugehen ist, dass derartige Wegstrecken üblicherweise erforderlich sind, um Arbeitsstellen oder Haltestellen eines öffentlichen Verkehrsmittels zu erreichen (zum Ganzen z.B. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 73/90 – juris, Rn. 16 ff.; Urteil vom 12. Dezember 2011 – B 13 R 21/10 R – juris, Rn. 21 f.; Urteil vom 12. Dezember 2011 – B 13 R 79/11 R – juris, Rn. 19 f.). Der Kläger ist in der Lage, eine Gehstrecke von 500 Metern viermal in weniger als 20 Minuten täglich zurückzulegen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Aus den ärztlichen Äußerungen ergeben sich keine Befunde, die für eine unter den genannten Maßstäben eingeschränkte Gehfähigkeit des Klägers sprechen. Der Sachverständige Dr. B. hat den Erhalt der Wegefähigkeit des Klägers ausdrücklich bestätigt. Zwar hat der Sachverständige Privatdozent Dr. E. seine Auffassung mitgeteilt, dass der Kläger nur noch für kurze Strecken gehfähig ist – ohne dies zu konkretisieren –, er hat aber die Frage nach der Möglichkeit des Klägers, viermal täglich eine Gehstrecke von 500 Metern zurückzulegen, explizit nicht beantwortet. Im Übrigen hat der Kläger gegenüber Privatdozent Dr. E. selbst angegeben, noch etwa einen Kilometer "mit Mühe" laufen zu können. Ferner gab der Kläger gegenüber den Sachverständigen Dr. B. und Prof. Dr. Bi. an, in der Lage zu sein, ein Kraftfahrzeug zu führen.

(6) Aus der Anerkennung eines Grades der Behinderung von 50 folgt ebenfalls nicht, dass der Kläger erwerbsgemindert wäre. Zwischen der Schwerbehinderung nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) und der Erwerbsminderung nach dem SGB VI besteht keine Wechselwirkung, da die gesetzlichen Voraussetzungen unterschiedlich sind (BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 SB 5/01 B – juris, Rn. 5; BSG, Beschluss vom 9. Dezember 1987 – 5b BJ 156/87 – juris, Rn. 3). Für die Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI sind die Erwerbsmöglichkeiten des Betroffenen maßgeblich, während § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX in der bis zum 14. Januar 2015 geltenden Fassung und § 159 Abs. 7 SGB IX in der seit dem 15. Januar 2015 geltenden Fassung (geändert durch Art. 1a des Gesetzes vom 7. Januar 2015, BGBl. II, S. 15) auf die abstrakten Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) verweist (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 SB 5/01 B – juris, Rn. 5; BSG, Beschluss vom 9. Dezember 1987 – 5b BJ 156/87 – juris, Rn. 3)

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

4. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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