L 4 R 210/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 15 R 1531/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 210/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 4. Januar 2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ab dem 1. September 2013.

Der 1972 geborene Kläger ist gelernter Teilezurichter und war zuletzt als Maschinenbediener bzw. -einrichter und Servicetechniker versicherungspflichtig beschäftigt. Seit Mai 2003 ist er arbeitsunfähig erkrankt bzw. arbeitslos. Es wurde ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 festgestellt.

Vom 22. August bis 12. September 2007 absolvierte der Kläger eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme in der R. in Bad R ... Im Entlassungsbericht vom 27. September 2007 nannte Internist/Rheumatologe Dr. J. die Diagnosen agitierte Depression nach Somatisierung, Fibromyalgie, Adipositas und latenter Diabetes mellitus. Der Kläger könne unter Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen sowohl die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Servicetechniker als auch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden und mehr täglich ausüben.

Am 20. August 2013 beantragte der Kläger die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Er halte sich seit Oktober 2006 wegen Fibromyalgie mit Körperschmerzen, Schlafstörungen, Versteifung der Füße und Magen-Darm-Beschwerden nach Darmriss und Notoperation im Jahr 2008 für erwerbsgemindert.

Die Beklagte ließ den Kläger von Internistin und Sozialmedizinerin Dr. H.-Z. und Facharzt für Neurologie und Psychiatrie B. begutachten. Im Gutachten vom 26. September 2013 führte Dr. H.-Z. folgende Gesundheitsstörungen auf: anamnestisch rezidivierende depressive Störung, aktuell ohne depressive Restsymptomatik und in remittiertem Zustand, somatoforme Schmerzangaben ohne eindeutigen Anhalt für eine Somatisierungsstörung sowie anamnestisch einen Cannabiskonsum ohne Anhalt für fortgesetzten leistungsrelevanten Substanzmittelgebrauch, eine Adipositas, ein Schlafapnoesyndrom mit nächtlicher Druckbeatmung, zervikale Bandscheibenschäden ohne Funktionsminderung der Wirbelsäule sowie eine 2008 operativ behandelte Sigmadivertikulitis. Der Kläger sei sowohl für seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit als auch für mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig leistungsfähig. Im neurologisch-psychiatrischen Zusatzgutachten vom 30. September 2013/14. Oktober 2013 bestätigte Arzt B. diese Leistungseinschätzung. Tätigkeiten in Nachtschicht, unter vermehrter Beanspruchung des Konzentrations- und Reaktionsvermögens, Fahrertätigkeiten und gefahrgeneigte Tätigkeiten seien zu vermeiden.

Mit Bescheid vom 12. November 2013 lehnte die Beklagte den Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 28. März 2014 zurück.

Am 28. April 2014 erhob der Kläger beim SG Klage. Er sei aufgrund seiner vielfältigen Erkrankungen nicht mehr in der Lage, Tätigkeiten von wirtschaftlichem Wert auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erbringen. Insbesondere leide er ausweislich des Befundberichts der behandelnden Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. O. vom 7. Juni 2013 mindestens seit 2008 an einer ausgeprägten somatoformen Schmerzstörung, wodurch sein Leistungsvermögen auf maximal drei Stunden täglich herabgesunken sei. Den Sachverständigengutachten von Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. R. und Facharzt für Orthopädie und Rheumatologie Dr. R. vom 18. Mai und 8. Juni 2015 (dazu sogleich) könne nicht gefolgt werden, weil sein Gesundheitszustand am Untersuchungstag überdurchschnittlich gut gewesen sei. Entgegen der Beurteilung durch die Sachverständigen leide er an einer Fibromyalgie, die nach Einschätzung von Arzt für Innere Medizin/Rheumatologie Dr. B. zu einem aufgehobenen Leistungsvermögen führe. Seine berufliche Integration sei aufgrund des Schmerzerlebens nicht mehr möglich. Dies hätten die Sachverständigen nicht berücksichtigt. Gleiches gelte für die Störung der Konzentrationsfähigkeit, die Einschränkungen im Schlafverhalten und den von ihm beschriebenen Energieverlust. Dem von ihm Dr. R. geschilderten Tagesablauf sei keine Strukturierung zu entnehmen. Die Sachverständigengutachten seien zudem nicht objektiv und neutral erstellt worden (Schriftsatz vom 23. Oktober 2015).

Die Beklagte trat der Klage unter Verweis auf die vorgelegten sozialmedizinischen Stellungnahmen des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. Sch. vom 15. August 2014 und 12. Januar 2015 entgegen.

Das SG befragte die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen. Dr. B. teilte am 3. November 2014 mit, der Kläger leide an Fibromyalgie, Hypermobilitätssyndrom und depressiver Episode. Leichte Arbeiten könne der Kläger nur noch qualitativ eingeschränkt und "möglicherweise auch nur noch zeitlich begrenzt" verrichten. Fachärztin für Chirurgie Dr. R. teilte im Dezember 2014 mit, der Kläger sei von Seiten der orthopädischen Erkrankungen vollschichtig leistungsfähig.

Das SG beauftragte sodann Prof. Dr. R. mit der Erstattung eines Hauptgutachtens und Dr. R. mit der Erstattung eines Zusatzgutachtens. Im orthopädischen Zusatzgutachten des Dr. R. vom 18. Mai 2015 sind folgende Diagnosen aufgeführt: Zervikozephalobrachialgien mit pseudoradikulärer Ausstrahlung bei leichten bis mäßigen Verschleißerscheinungen der Bandscheibenfächer der Halswirbelsäule, leichte Arthrosen der Wirbelzwischengelenke, ohne Hinweise auf Instabilität oder ältere knöcherne Verletzungen, Bandscheibenvorfall bei HWK 4/5, hochgradige Spinalkanalstenose ohne nachgewiesene Neurokompression, schmerzhafte Muskelverspannungen, geringe nachweisbare Funktionseinschränkungen, Dorsolumbalgien mit pseudoradikulärer Ausstrahlung bei leichten Verschleißerscheinungen der Bandscheibenfächer der Brustwirbelsäule und leichtem Rundrücken, geringe degenerative Veränderungen mit Spondylosen und Arthrosen der Zwischengelenke der unteren Lendenwirbelsäule und möglicher Enge der Nervenaustrittslöcher im Spinalkanal LWK4 bis SWK1, leichte Fehlhaltung und Steilstellung, schmerzhafte Muskelverspannungen, geringe nachweisbare Funktionseinschränkungen, mäßige Arthrosen beider Hüftgelenke mit geringen nachweisbaren Funktionseinschränkungen, geringe Arthrosen der Kreuzbein-Darmbein-Gelenke, der Kniegelenke und Sprunggelenke ohne nachweisbare Funktionseinschränkungen, Fußfehlform beidseits mit mäßigem Senk-Spreizfuß, mäßigem Sichelfuß ohne wesentliche nachweisbare Funktionseinschränkungen und ohne wesentliche Einschränkungen des Gehvermögens, myofasziales Schmerzsyndrom, Differenzialdiagnose anamnestisch Fibromyalgie mit geringen nachweisbaren Funktionseinschränkungen sowie Verdacht auf erhebliche psychische Gesundheitsstörungen. Der Kläger könne sowohl seinen zuletzt ausgeübten Beruf als auch leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch mindestens sechs Stunden täglich verrichten. Zu vermeiden seien Tätigkeiten mit Heben und Tragen von Lasten von mehr als 10 kg, Arbeiten in Zwangshaltungen der Wirbelsäule, häufiges Bücken und Knien, Arbeiten mit beiden Händen anhaltend über Schulterniveau, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten und mit Absturzgefahr, Arbeiten in Nässe und Kälte ohne Schutzkleidung. Die Wegefähigkeit sei nicht sozialmedizinisch relevant eingeschränkt. Im neurologisch-psychiatrischen Hauptgutachten des Prof. Dr. R. vom 8. Juni 2015 werden als Diagnosen eine leichtgradige anhaltende somatoforme Schmerzstörung sowie eine Dysthymia genannt. Leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne der Kläger noch mindestens sechs Stunden pro Tag verrichten. Zu vermeiden seien Akkord- oder Fließbandtätigkeiten, das Tragen von Lasten mit Gewicht über 10 kg, überwiegende bzw. ständige Zwangshaltungen der Wirbelsäule, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, eine Exposition von Kälte, Wärme, Staub, Gasen, Dämpfen oder Nässe sowie Nachtschicht. Die Wegefähigkeit sei gegeben.

Mit Gerichtsbescheid vom 4. Januar 2016 wies das SG die Klage ab und führte zur Begründung aus, der Kläger sei nicht erwerbsgemindert. Denn er sei zur Überzeugung des Gerichts in der Lage, leichte Tätigkeiten im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Diese Feststellung entnehme das Gericht dem Gesamtergebnis der Ermittlungen und der medizinischen Beweisaufnahme, insbesondere den Sachverständigengutachten von Prof. Dr. R. und Dr. R. und den im Verwaltungsverfahren erstellten Gutachten von Dr. H.-Z. und Arzt B ... Das Gericht habe keine Bedenken hinsichtlich der Verwertbarkeit der Gutachten. Der Kläger habe weder einen Befangenheitsantrag gegen die Sachverständigen gestellt noch hinreichend konkrete Gründe vorgetragen, welche die Annahme einer Besorgnis der Befangenheit begründen könnten. Der Kläger leide an den in den Sachverständigengutachten von Prof. Dr. R. und Dr. R. genannten Erkrankungen. Ob darüber hinaus wie vom neurologisch-psychiatrischen Gutachter im Verwaltungsverfahren angenommen noch eine rezidivierende depressive Störung oder wie vom behandelnden Rheumatologen Dr. B. diagnostiziert eine Fibromyalgie vorliege, könne dahinstehen. Denn für die Beurteilung des Leistungsvermögens sei nicht die einzelne Diagnose, sondern die aus der jeweiligen Erkrankung resultierenden Einschränkungen des Leistungsvermögens maßgeblich. Danach resultierten aus den Erkrankungen die von den Sachverständigen festgestellten qualitativen Einschränkungen, nicht aber quantitative Einschränkungen. Die Einschätzung der Sachverständigen werde bestätigt durch die Einschätzung der beiden im Verwaltungsverfahren gehörten Gutachter und die Einschätzung im Reha-Entlassungsbericht des Dr. J. vom 27. September 2007 sowie der Aussage der sachverständigen Zeugin Dr. R ... Die Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. R. und Dr. R. sowie der Dr. H.-Z. und des Arztes B. seien in sich schlüssig, widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Die abweichende Leistungseinschätzung des Dr. B. überzeuge das Gericht nicht.

Am 18. Januar 2016 hat der Kläger gegen den ihm am 7. Januar 2016 zugestellten Gerichtsbescheid Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt und zur Begründung auf das Vorbringen in erster Instanz Bezug genommen sowie ergänzend vorgetragen, sowohl im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren als auch im Klageverfahren seien seine Beschwerden nicht ausreichend erfasst und gewürdigt worden. Demgegenüber stützten die im Klageverfahren vorgelegten Befundberichte von Dr. O. vom 7. Juni 2013 und die sachverständige Zeugenaussage des Dr. B. die Annahme eines aufgehobenen Leistungsvermögens. Dr. B. sei ergänzend zur Quantifizierung des zeitlichen Leistungsvermögens zu befragen. Den von Dr. R. im Sachverständigengutachten festgestellten Diagnosen widerspreche er nicht, wohl aber hinsichtlich der Feststellungen, dass diese keine nennenswerten Funktionseinschränkungen zur Folge hätten. Gerade die vielfältigen Gesundheitsbeeinträchtigungen auf orthopädischem Fachgebiet überlagerten sich in erheblichem Umfang mit der Fibromyalgie. Die Sachverständigen hätten auch nicht berücksichtigt, dass er seit Jahren keine Arbeitsleistung mehr verrichtet habe. Da Prof. Dr. R. auf den von Dr. R. erhobenen Befunden aufbaue, komme auch er zu einem fehlerhaften Ergebnis. Zudem stelle Prof. Dr. R. zwar die Erkrankungen zutreffend fest, bewerte diese aber fehlerhaft als leichtgradig. Die Sachverständigengutachten seien nicht in sich schlüssig und damit nicht geeignet, die gerichtliche Entscheidung zu stützen. Weitere Gutachten seien von Amts wegen einzuholen. Dem (im weiteren Verlauf auf Antrag des Klägers eingeholten) Gutachten von Facharzt für Innere Medizin, psychosomatische Medizin und Psychotherapie Prof. Dr. H., Ärztlicher Leiter des Zentrums für Schmerztherapie am Klinikum S., (dazu sogleich) könne ebenfalls nicht gefolgt werden. Die Leistungseinschätzung von Dr. B. sei dagegen schlüssig und nachvollziehbar. Der Kläger hat die "medizinischen Stellungnahme" des Arztes für Anästhesie/spezielle Schmerztherapie Dott. P., vom 11. August 2016 vorgelegt, wonach in der ambulanten schmerztherapeutischen Betreuung seit Januar 2014 etliche Medikamente ausprobiert worden seien, die wohl keine wesentliche Verbesserung der Schmerzsymptomatik herbeigeführt hätten. Der (genehmigte) Konsum von Cannabis aus medizinischen und therapeutischen Gründen in kleinen begrenzten Mengen und vor allem abends stelle keine wesentliche Beeinträchtigung der Wahrnehmung und somit auch der Fahrtüchtigkeit des Klägers dar. Zuletzt hat der Kläger einen Arztbrief von Dr. B. vom 11. August 2017 und ein Attest der Ärzte für Allgemeinmedizin R. und N. vom 2. August 2017 vorgelegt und angeregt ein neurologisches Gutachten von Amts wegen einzuholen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 4. Januar 2016 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12. November 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. März 2014 zu verurteilen, ihm eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab dem 1. September 2013 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den Gerichtsbescheid des SG für zutreffend. Es seien keine neuen Gesichtspunkte vorgetragen worden.

Im weiteren Verlauf des Berufungsverfahrens hat der Senat auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Prof. Dr. H. mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Im Gutachten vom 1. September 2016 werden die folgenden Diagnosen genannt: anhaltende somatoforme Schmerzstörung vom Typ des Fibromyalgiesyndroms, Agoraphobie mit Panikstörung, chronische leichtgradige Depression (Dysthymie), Verdacht auf Darm-Harnblasen-Fistel, arterieller Bluthochdruck, medikamentös ausreichend eingestellt, und Schlafapnoesyndrom bei Adipositas Grad III, mit nächtlicher Maskenatmung ausreichend behandelt. Schwere und mittelschwere körperliche Arbeiten sowie Tätigkeiten mit häufigem Bücken, Akkord- und Fließbandarbeiten, in Wechsel- und Nachtschicht mit Kälte, Zugluft, Nässeexposition, Einwirkung von Staub, Gasen und Dämpfen seien aufgrund des chronischen Schmerzsyndroms sowie Tätigkeiten mit besonderer Verantwortung und geistiger Beanspruchung seien aufgrund der seelischen Störung nicht möglich. Bei Beachtung dieser qualitativen Leistungseinschränkungen sei der Kläger in der Lage mindestens sechs Stunden täglich Erwerbstätigkeiten auszuüben. Im körperlichen Befund seien minimale und im psychischen Befund geringe bis mäßige Auffälligkeiten feststellbar, die qualitativ, jedoch keine quantitativen Leistungseinschränkungen begründen könnten. Die vom Kläger angegebenen Alltagsaktivitäten wiesen auf ein ausreichendes und im Prinzip "bei freier Willensanspannung" ausbaubares Leistungsvermögen hin.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die gemäß § 143 SGG statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, die nicht der Zulassung bedarf, weil er Leistungen für mehr als ein Jahr begehrt (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG), ist auch im Übrigen zulässig.

2. Die Berufung des Klägers ist aber nicht begründet. Das SG hat die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung zumindest ab dem 1. September 2013.

a) Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze (insoweit mit Wirkung zum 1. Januar 2008 geändert durch Artikel 1 Nr. 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20. April 2007, BGBl. I, S. 554), wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

b) Nach diesen Maßstäben steht für den Senat aufgrund der im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren durchgeführten Beweisaufnahme fest, dass der Kläger in der Lage ist, zumindest leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes wenigstens sechs Stunden täglich zu verrichten. Zwar liegen bei ihm gesundheitliche und daraus resultierende funktionelle Einschränkungen vor. Diese mindern seine berufliche Leistungsfähigkeit jedoch nur in qualitativer, nicht aber in quantitativer Hinsicht.

(1) Der Kläger leidet unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen, insbesondere degenerativen Veränderungen an der Wirbelsäule, der Hüft-, Knie- und Sprunggelenke, Fußfehlformen und einer somatoformen Schmerzstörung und Dysthymia. Ob darüber hinaus die Kriterien einer Fibromyalgie erfüllt sind (so Dr. B.) oder eine somatoforme Schmerzstörung "vom Typ Fibromyalgie" vorliegt (so Prof. Dr. H.), kann dahin stehen. Das SG geht zu Recht davon aus, dass es nicht auf die jeweilige Bezeichnung der Erkrankung, sondern auf die daraus resultierenden Leistungseinschränkungen ankommt (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 28. Februar 2017 – B 13 R 37/16 BH – juris, Rn. 15). Danach ergeben sich aus den Gesundheitsstörungen vorliegend zwar qualitative, nicht aber quantitative Leistungseinschränkungen. Dies entnimmt der Senat den Sachverständigengutachten von Prof. Dr. R. und Dr. R ... Die Leistungsbeurteilungen dieser Sachverständigen sind auf der Grundlage der von ihnen erhobenen Befunde schlüssig und nachvollziehbar begründet. Bestätigt werden sie außerdem von allen anderen im Verwaltungs-, Gerichts- und Berufungsverfahren eingeholten Gutachten.

Es liegen keine Gründe vor, die eine Verwertbarkeit der Sachverständigengutachten von Prof. Dr. R. und Dr. R. ausschließen. Der – anwaltlich vertretene – Kläger trug zwar beim SG mit Schriftsatz vom 23. Oktober 2015 die Gründe vor, die seiner Auffassung nach eine Besorgnis der Befangenheit dieser beiden Sachverständigen begründeten, stellte aber – was von einem anwaltlich vertretenen Kläger zu erwarten ist – kein ausdrückliches Ablehnungsgesuch. Es ist deshalb nicht zu beanstanden, dass das SG vor der Endentscheidung keinen besonderen Beschluss hierzu fasste. Selbst wenn man unterstellt, das SG hätte das Vorbringen im Schriftsatz vom 23. Oktober 2015 als sinngemäßes Ablehnungsgesuch auslegen und vor der Endentscheidung über dieses Ablehnungsgesuch entscheiden müssen, muss nun nicht der Senat im Berufungsverfahren über das (sinngemäße) Ablehnungsgesuch des Klägers entscheiden. Denn gegen eine Entscheidung eines Sozialgerichts über ein Ablehnungsgesuch gegen einen Sachverständigen ist eine Beschwerde nicht statthaft (§ 172 Abs. 2 SGG), so dass eine solche Entscheidung eines Sozialgerichts nicht der Beurteilung durch das Berufungsgericht unterliegt (vgl. zum Revisionsverfahren: BSG, Urteil vom 28. September 1999 – B 2 U 32/98 R – juris, Rn. 24). Abgesehen davon wäre der vom Kläger im Schriftsatz vom 23. Oktober 2015 (sinngemäß) gestellte Ablehnungsantrag gegen die Gerichtssachverständigen unzulässig. Ein Ablehnungsantrag gegen einen Sachverständigen ist gemäß § 118 Abs. 1 SGG i.V.m. § 406 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) nur unverzüglich nach Kenntnis der Befangenheitsgründe möglich. Da die Sachverständigengutachten schon im Mai bzw. Juni 2015 auf Grundlage von Untersuchungen des Klägers im März 2015 erstellt wurden, waren die Einwände hinsichtlich der Neutralität und Objektivität der Sachverständigen mit Schriftsatz vom 23. Oktober 2015 jedenfalls verfristet. Ferner ergeben sich aus dem Vortrag des Klägers keine Anhaltspunkte für eine Besorgnis der Befangenheit der Sachverständigen Prof. Dr. R. und Dr. R ...

Die abweichende Leistungsbeurteilung von Dr. B. bietet demgegenüber keine hinreichende Grundlage für die Annahme einer Erwerbsminderung des Klägers. Dr. B. äußert in seiner sachverständigen Zeugenaussage lediglich die Vermutung, dass leichte Tätigkeiten "möglicherweise" nur noch zeitlich begrenzt ausgeführt werden können. Damit ist eine rentenrelevante Leistungseinschränkung nicht nachgewiesen. Auch die angeführte Begründung für die Vermutung, dass durch leichte Arbeiten die Schmerzen verstärkt und Arbeitsunfähigkeit ausgelöst werden würde, überzeugt nicht. Vorübergehende Arbeitsunfähigkeit begründet keinen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente. Schließlich wird die geäußerte Vermutung in den Sachverständigengutachten nicht bestätigt.

Weitere Ermittlungen von Amts wegen waren nicht erforderlich. Aus den zuletzt vorgelegten medizinischen Unterlagen vom 2. und 11. August 2017 ergibt sich keine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustands des Klägers. Dr. B. gibt an, dass sich die körperliche Situation aus rheumatologischer Sicht nicht verändert habe. Auch die Ärzte R. und N. bescheinigen, dass keine Veränderung des Krankheitsbildes gesehen werde. Insbesondere fehlen neue Befunde auf neurologischem Fachgebiet, weshalb der Senat keine Veranlassung hatte, noch ein neurologisches Gutachten von Amts wegen einzuholen.

(2) Ob dem Kläger ein Arbeitsplatz vermittelt werden kann oder nicht, ist für den geltend gemachten Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nicht erheblich. Die jeweilige Arbeitsmarktlage ist nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Maßgebend ist, ob der Kläger mit dem ihm verbliebenen Restleistungsvermögen – wenn auch mit qualitativen Einschränkungen – in der Lage ist, zumindest körperlich leichte Tätigkeiten arbeitstäglich für mindestens sechs Stunden zu verrichten, sie also in diesem zeitlichen Umfang unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts erwerbstätig sein kann, wovon im Regelfall ausgegangen werden kann (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 – B 13 R 78/09 R – juris, Rn. 31). Dies bejaht der Senat wie zuvor dargelegt.

(3) An der Wegefähigkeit des Klägers bestehen ebenfalls keine ernsthaften Zweifel. Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit eines Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle in zumutbarer Zeit aufsuchen zu können. Das BSG hat dieses Vermögen nur dann für gegeben erachtet, wenn es dem Versicherten möglich ist, Entfernungen von über 500 Metern zu Fuß zurückzulegen, weil davon auszugehen ist, dass derartige Wegstrecken üblicherweise erforderlich sind, um Arbeitsstellen oder Haltestellen eines öffentlichen Verkehrsmittels zu erreichen (zum Ganzen z.B. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 73/90 – juris, Rn. 16 ff.; Urteil vom 12. Dezember 2011 – B 13 R 21/10 R – juris, Rn. 21 f.; Urteil vom 12. Dezember 2011 – B 13 R 79/11 R – juris, Rn. 19 f.). Auf dieser rechtlichen Grundlage ist davon auszugehen, dass der Kläger auch noch wegefähig ist. Alle Gutachter und Sachverständigen bestätigen, dass der Kläger in der Lage ist, vier Mal täglich eine Entfernung von 500 m in zumutbarem Zeitaufwand zu Fuß zurückzulegen.

(4) Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liegen nicht vor. In einem solchen Fall kann der Arbeitsmarkt selbst bei einem noch vorhandenen sechsstündigen Leistungsvermögen ausnahmsweise als verschlossen gelten (siehe – auch zum Folgenden – etwa Urteil des Senats vom 21. November 2014 – L 4 R 4797/13 – nicht veröffentlicht). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass eine Verweisung auf noch vorhandenes Restleistungsvermögen nur dann möglich ist, wenn nicht nur die theoretische Möglichkeit besteht, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erhalten.

Dies ist hier nicht der Fall. Die qualitativen Leistungseinschränkungen des Klägers sind nicht als ungewöhnlich zu bezeichnen. Darin ist weder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen zu sehen. Eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liegt nur vor, wenn bereits eine erhebliche (krankheitsbedingte) Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt. Hierzu können – unter besonderer Berücksichtigung der jeweiligen Einzelfallumstände – beispielsweise Einäugigkeit, Einarmigkeit und Einschränkungen der Arm- und Handbeweglichkeit sowie besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz zählen (vgl. BSG, Urteil vom 9. Mai 2012 – B 5 R 68/11 R – juris, Rn. 28 m.w.N.). Keine dieser Fallkonstellationen ist bei dem Kläger vorhanden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

4. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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