L 11 R 2453/17

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 16 R 1422/17 WA
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 2453/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 21.06.2017 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Fortführung des Verfahrens S 16 R 4062/16 vor dem Sozialgericht Freiburg (SG) nach Klagerücknahme und in der Sache die Gewährung von höherer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab einem früheren Zeitpunkt.

Die Beklagte bewilligte der 1976 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 14.06.2013 Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.02.2013 mit einem monatlichen Zahlbetrag von 415,94 EUR. Mit ihrem Widerspruch begehrte die Klägerin ua unter Hinweis auf eine Renteninformation aus dem Jahr 2003 und zusätzliche rentenrechtliche Zeiten eine höhere Rente ab einem früheren Zeitpunkt. Mit Widerspruchsbescheid vom 05.11.2013 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Auf die dagegen eingelegte Klage hob das SG mit Gerichtsbescheid vom 25.02.2014 (S 12 R 5021/13) den Widerspruchsbescheid vom 05.11.2013 auf, da eine weitere Sachaufklärung erforderlich sei, welche die Beklagte unterlassen habe. Die dagegen von der Klägerin eingelegte Berufung wies das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg mit Urteil vom 04.06.2014 (L 13 R 1408/14) zurück. Die Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundessozialgericht (BSG) blieb ohne Erfolg (BSG 04.09.2014, B 13 R 204/14 B), die dagegen eingelegte Anhörungsrüge verwarf das BSG als unzulässig (Beschluss vom 29.09.2014, B 13 R 20/14 C).

Am 24.10.2014 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Neuberechnung ihrer Rente. Nach medizinischen Ermittlungen wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 14.06.2013 mit Widerspruchsbescheid vom 20.04.2016 zurück. Eine Erwerbsminderung sei nicht bereits 2002 eingetreten, es bleibe bei dem angenommenen Leistungsfall der Erwerbsminderung am 19.05.2007. Die Berechnung der Rente wurde erläutert mit Hinweis darauf, dass die Renteninformation aus dem Jahr 2003 lediglich eine nicht verbindliche Hochrechnung über die voraussichtliche Höhe der Altersrente enthalten habe.

Am 25.04.2016 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Widerspruchsbescheids vom 20.04.2016. Mit Bescheid vom 20.06.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.08.2016 lehnte die Beklagte den Überprüfungsantrag ab. Weder sei das Recht unrichtig angewandt, noch von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen worden.

Mit Schreiben vom 01.09.2016 wandte sich die Klägerin deswegen erneut an die Beklagte. Nachdem die Klägerin auf Anfrage der Beklagten mitgeteilt hatte, ihr Schreiben möge als Klageschrift gewertet werden (Schreiben vom 29.09.2016), leitete die Beklagte den Vorgang an das SG weiter. Mit Eingangsbestätigung vom 19.10.2016 teilte das SG der Klägerin das Aktenzeichen des Klageverfahrens mit (S 16 R 4062/16). Mit Schreiben vom 22.10.2016, eingegangen beim SG am 25.10.2016, nahm die Klägerin die Klage zurück.

Mit Schreiben vom 05.04.2017, eingegangen beim SG am 07.04.2017, hat die Klägerin um Wiederaufnahme ihrer Rechtssache wegen Rente wegen voller Erwerbsminderung gebeten. Mit Schreiben vom 15.04.2017 hat sie auf Anfrage des SG klargestellt, dass es ihr um die Fortführung des Verfahrens S 16 R 4062/16 gehe. Sie habe die Sache aus gesundheitlichen Gründen nicht weiter verfolgen können und korrigiere dies nun, indem sie ihr "vollstens begründetes Begehren" einklage.

Mit Gerichtsbescheid vom 21.06.2017 hat das SG festgestellt, dass das Verfahren S 16 R 4062/16 durch Klagerücknahme erledigt ist. Das Verfahren sei weder aufzunehmen noch anderweitig fortzusetzen, weil es durch schriftliche Erklärung der Klagerücknahme erledigt sei. Eine Wiederaufnahme sei ausgeschlossen, weil diese eine (rechtskräftige) Entscheidung des Gerichts voraussetze, an der es wegen der Klagerücknahme fehle. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens S 12 R 5021/13 sei nach der Klarstellung der Klägerin mit Schreiben vom 15.04.2017 nicht beantragt. Ein Fall des § 180 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sei ersichtlich nicht gegeben. Das Verfahren sei auch nicht anderweitig fortzusetzen, da es durch die Klagerücknahme erledigt sei. Die Rücknahme der Klage sei eine Prozesshandlung, die grundsätzlich nicht widerrufen oder wegen Irrtums angefochten werden könne. Sie könne nur ausnahmsweise widerrufen werden, wenn die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens erfüllt seien. Dass die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme nach § 179 Abs 1 SGG iVm §§ 578 bis 591 Zivilprozessordnung (ZPO) oder nach § 179 Abs 2 SGG oder § 180 SGG gegeben wären, sei nicht ersichtlich, die Klägerin habe hierzu auch nichts dargelegt. Dass sie aus gesundheitlichen Gründen gehindert gewesen sei, das Verfahren fortzuführen, könne eine Wiederaufnahme nicht rechtfertigen.

Gegen den ihr am 23.06.2017 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 26.06.2017 eingelegte Berufung der Klägerin. Die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme seien erfüllt (unter Hinweis auf BSG SozR 1500 § 102 Nr 2). Ihr Anrecht auf Rente in rückwirkender Gestalt sei vollstens begründet.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 21.06.2017 aufzuheben und unter Fortsetzung des Verfahrens S 16 R 4062/16 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 20.06.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.08.2016 zu verurteilen, den Bescheid vom 14.06.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.04.2016 zurückzunehmen und ihr vor dem 01.02.2013 eine höhere Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Den von der Klägerin gestellten Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren hat der Senat mit Beschluss vom 27.07.2017 abgelehnt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz und die Verwaltungsakten der Beklagte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs 1 SGG) eingelegte Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und damit zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet, denn das SG hat zu Recht die verfahrensbeendigende Wirkung der Klagerücknahme festgestellt.

Die Klägerin hat mit Schreiben vom 22.10.2016 ausdrücklich die Klage unter Nennung des Aktenzeichens S 16 R 4062/16 zurückgenommen. Der Wortlaut des Schreibens ist eindeutig und lässt keinerlei andere Auslegung zu. Gemäß § 102 Abs 1 Satz 1 und 2 SGG kann die Klägerin die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Entscheidend ist ein aus der gewählten Formulierung – wie hier - klar erkennbarer Wille, das Verfahren nicht fortsetzen zu wollen (vgl dazu Senatsbeschluss 12.09.2016, L 11 R 2363/16).

Diese Prozesserklärung konnte auch nicht wirksam angefochten werden. Die Erklärung der Klagerücknahme ist eine Prozesshandlung, die das Gericht und die Beteiligten bindet, selbst wenn der Rechtsstreit materiell nicht erledigt wurde. Sie kann grundsätzlich nicht widerrufen oder wegen Irrtums angefochten werden (BSG 20.12.1995, 6 RKa 18/95, juris; BSG 04.11.2009, B 14 AS 81/08 B, juris; Bundesverwaltungsgericht 26.01.1981, 6 C 70/80, juris; BFH 19.01.1971, II B 26/69, BFHE 104, 291; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl, § 102 RdNr 7c mwN). Die Klägerin irrte sich auch gar nicht über den Inhalt der verfahrensbeendigenden Erklärung. Sie wollte damals vielmehr genau diese Erklärung abgeben und das Verfahren nicht weiter fortführen, wie sich auch aus ihren eigenen schriftlichen Äußerungen gegenüber dem SG im Mai 2017 ergibt. Die unwiderruflich verfahrensbeendende Wirkung der Rücknahme einer Klage dient der Rechtssicherheit, weil andernfalls ein die Beendigung des Verfahrens betreffender Schwebezustand bestünde (vgl Bundesgerichtshof 26.09.2007, XII ZB 80/07, FamRZ 2008, 43; anders im finanzgerichtlichen Verfahren: BFH 06.07.2005, XI R 15/04, BFHE 210, 4).

Ein Widerruf der Klagerücknahme ist nur in den engen Grenzen des Vorliegens der Voraussetzungen der Wiederaufnahme des Verfahrens denkbar (§§ 179, 180 SGG). Danach kann ein rechtskräftig beendetes Verfahren entsprechend den Vorschriften des Vierten Buches der Zivilprozessordnung wieder aufgenommen werden (§ 179 Abs 1 SGG). Es fehlt hier an den Voraussetzungen der Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß den Vorschriften der Nichtigkeitsklage oder Restitutionsklage (§§ 579, 580 ZPO). Die Anfechtungsgründe sind abschließend aufgeführt. Es handelt sich im Wesentlichen um schwerste Verfahrensmängel bzw um eine Entscheidung, die auf einer unrichtigen, insbesondere einer verfälschten Grundlage beruht, wie zB auf einer Urkundenfälschung oder einer strafbaren Urteilserschleichung. Die Wiederaufnahme ist ferner zulässig, wenn ein Beteiligter strafgerichtlich verurteilt worden ist, weil er Tatsachen, die für die Entscheidung der Streitsache von wesentlicher Bedeutung waren, wissentlich falsch behauptet oder vorsätzlich verschwiegen hat.

Soweit die Klägerin sich ohne weitere konkrete Ausführungen auf das Urteil des BSG vom 14.08.1978 (9/10 RV 31/77, SozR 1500 § 102 Nr 2) bezieht, macht sie damit in der Sache wohl den Nichtigkeitsgrund nach § 579 Abs 1 Nr 4 ZPO geltend. Der Tatbestand dieser Norm ist erfüllt, wenn der Beteiligte zur Zeit seiner Prozesshandlung prozessunfähig war, keinen gesetzlichen Vertreter hatte und im Prozess für prozessfähig gehalten wurde. Für das Vorliegen von Prozessunfähigkeit, dh Geschäftsunfähigkeit der Klägerin (§ 71 Abs 1 SGG iVm § 104 Nr 2 BGB), bestehen nach Lage der Akten jedoch überhaupt keine Anhaltspunkte, hierzu hat die Klägerin auch nichts vorgetragen. Die Klägerin betreibt ihre Verfahren seit Jahren durchaus engagiert selbst bis hin zum BSG. Auch ist nicht ersichtlich, dass eine Betreuung mit einem entsprechenden Einwilligungsvorbehalt, den Gegenstand dieses Rechtsstreits betreffend, bestünde (§ 1903 BGB). Für das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 179, 180 SGG ist nach alledem nichts ersichtlich, so dass es bei der Wirksamkeit der Klagerücknahme bleiben muss.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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