L 9 R 3412/17 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 13 R 2457/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 3412/17 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Mannheim vom 16. August 2017 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Entziehung seiner Erwerbsunfähigkeitsrente.

Der 1966 geborene Antragsteller bezog seit dem 01.09.2000 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Nachdem der Rentenantrag des Antragstellers vom 12.10.1999 zunächst mit Bescheid vom 05.04.2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.12.2000 abgelehnt worden war, erklärte sich die LVA Baden-Württemberg im anschließenden Klageverfahren (S 9 RJ 249/01) vor dem Sozialgericht Mannheim (SG) bereit, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 01.09.2000 an längstens bis zum Beginn der Regelaltersrente nach Vollendung des 65. Lebensjahres zu gewähren. Grundlage des Vergleichs war ein Gutachten der Ärztin für Psychiatrie Dr. H. vom 12.09.2001, die ausgeführt hatte, auf psychiatrischem Fachgebiet leide der Antragsteller an einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, die nicht Folge einer Schädigung oder Krankheit des Gehirns sei, sowie unter einem Ganser-Syndrom in Komorbidität, das jedoch erst seit kürzerer Zeit bestehe. Neurologischerseits leide er unter einer inkompletten hochgradigen Armplexusparese links unter Verschonung von C5 und einer kompletten mittleren Nervus-Radialisparese links sowie einem Zustand nach geschlossenem Schädel-Hirn-Trauma 1. Grades. Durch die psychiatrischen Störungen seien die geistig-seelischen Funktionen beeinträchtigt. Durch die Persönlichkeitsstörung sei es zu einer feindlich-misstrauischen Haltung der Welt gegenüber gekommen, bei sozialem Rückzug, Gefühl der Leere und Hoffnungslosigkeit, Perspektivlosigkeit, einem chronischen Gefühl von Nervosität und Unruhe, Anspannung bei dysphorischer Grundstimmung und Apathie. Hierdurch seien der zielgerichtete Antrieb, das Durchhaltevermögen, die Frustrationstoleranz, die affektive Belastbarkeit und Impulskontrolle, die geistige Beweglichkeit und Flexibilität beeinträchtigt. Durch das Ganser-Syndrom mit dem einhergehenden pseudodementen Bild seien sämtliche geistige Funktionen, wie Orientierung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Merk- und Lernfähigkeit psychogen beeinträchtigt, so dass nur noch einfachste Routinetätigkeiten zur Selbstversorgung aufrecht erhalten seien. Durch die Armplexus-Lähmung sei der linke Arm nicht mehr funktionsfähig, auch wenn eine psychogene konversionsneurotische Überlagerung bestehe, da diese durch die Dauer des Zustandsbildes irreversibel chronifiziert sei. Auch psychiatrischerseits hätten die Gesundheitsstörungen des Ganser-Syndroms dazu geführt, dass der Antragsteller zu keinerlei Tätigkeit in der Lage sei; die Schwere der Pseudodemenz habe dazu geführt, dass er sich durch dementielles Verhalten, z. B. auf Straßen, an Maschinen oder in öffentlichen Räumen gesundheitlich schwer gefährden könnte. Durch die Persönlichkeitsstörung alleine, wenn diese ausschließlich bestünde und das Ganser-Syndrom abgeklungen bzw. therapiert wäre, wären ihm noch leichte körperliche Arbeiten ohne Akkord-, Fließband-, Schicht-, Nachtarbeit, ohne Publikumsverkehr und besondere geistige Beanspruchung oder Verantwortung zumutbar. Durch die partielle Armplexusparese fielen alle leichten körperlichen Tätigkeiten, die mit Heben und Tragen von Lasten, häufigem Bücken und Arbeiten auf Leitern oder Gerüsten verbunden seien, weg. Aufgrund des Zustandes nach Schädel-Hirn-Trauma 1. Grades seien Arbeiten mit besonderer geistiger Beanspruchung, besonders des Gehörs oder des Sehvermögens oder mit Publikumsverkehr nicht mehr zumutbar. Aufgrund des Ganser-Syndroms sei derzeit überhaupt keine Leistungsfähigkeit gegeben, auch nicht unterhalbschichtig bzw. weniger als zwei Stunden täglich. Werte man die auch künftig dauerhaft bestehenden Gesundheitsstörungen, nämlich die Persönlichkeitsveränderung nach Ex-trembelastung und Armplexusparese sowie den Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma insgesamt unter der Voraussetzung, dass die pseudodementielle Entwicklung abgeklungen sei, so wäre eine quantitative Leistungseinschränkung von halb- bis unter vollschichtig gegeben.

Den Vergleich führte die LVA Baden-Württemberg mit Bescheid vom 04.04.2002 aus.

Nachdem der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg durch das Hauptzollamt K. mitgeteilt worden war, dass der Antragsteller über einen Zeitraum von mindestens zwei Monaten (Oktober bis November 2012) als LKW-Fahrer gearbeitet habe, entzog sie ihm nach Einholung des Gutachtens des Nervenarztes Dr. B. vom 19.02.2013 mit Bescheid vom 17.07.2014 die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zum 31.07.2014. Hiergegen legte der Antragsteller Widerspruch ein.

Die Antragsgegnerin veranlasste nach Übergang der Zuständigkeit auf sie eine Begutachtung durch den Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin M., der den Antragsteller am 20.12.2016 untersuchte und in seinem Gutachten vom 02.01.2017 als Diagnosen einen Zustand nach Armplexusparese links mit verbliebener Verschmächtigung der Oberarmmuskulatur links und dort auch ausgeprägten Vernarbungen, kräftige Unterarm- und Handmuskulatur, Prüfung der Hand- und Armkraft nicht möglich, Angabe von chronischen Kopfschmerzen angab. Zum Untersuchungszeitpunkt habe kein sicherer Anhalt für eine psychische Störung bestanden. Auf dem nervenärztlichen Fachgebiet sei anzunehmen, dass Armbeugung und Armstreckung im Ellbogenbereich linksseitig eingeschränkt seien. Es bestehe allerdings weiter eine ungestörte Funktion der linken Hand, soweit dies kooperationsbedingt beurteilbar sei. Tätigkeiten, die hohen Kraftaufwand mit dem linken Arm erforderten, seien dezidiert nicht mehr möglich. Ansonsten bestehe für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ein mindestens sechsstündiges Leistungsvermögen.

Nach Anhörung mit Schreiben vom 26.01.2017 entzog die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 22.02.2017 die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zum 31.03.2017. Nach den getroffenen Feststellungen sei eine wesentliche Besserung des Gesundheitszustands und somit eine Änderung in den Verhältnissen eingetreten. Die Erwerbsfähigkeit sei somit nicht mehr in dem Maße gemindert, dass Erwerbsunfähigkeit vorliege.

Hiergegen legte der Antragsteller am 07.03.2017 Widerspruch ein und trug zur Begründung vor, es sei nicht nachvollziehbar, wie die Antragsgegnerin zu ihrer Einschätzung gelangt sei. Erwerbsunfähigkeit liege auch weiterhin vor.

Aufgrund der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs wies die Antragsgegnerin die Rente für die Zeit ab dem 01.04.2017 zunächst wieder an. Mit Widerspruchsbescheid vom 29.06.2017 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch zurück. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft nach § 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) seien erfüllt. Eine Berufs- und Erwerbsunfähigkeit liege nicht mehr vor. Dies ergebe sich aus dem Gutachten des Nervenarztes M. Der Antragsteller sei wieder in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes leichte bis mittelschwere Tätigkeiten im Wechselrhythmus, die nicht mit Zeitdruck, Akkord und Nachtschicht verbunden seien, vollschichtig zu verrichten. Die Rentenzahlung wurde zum 31.07.2017 eingestellt.

Hiergegen hat der Antragsteller am 05.07.2017 Klage beim SG (S 13 R 2056/17) erhoben und am 09.08.2017 Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Zur Begründung hat er vorgetragen, die Gesundheitsstörungen des Antragstellers seien auf einen schweren Verkehrsunfalls am 19.03.1998 zurückzuführen. Die Berufsgenossenschaft habe mehrere Sachverständigengutachten (augenärztliches Gutachten des Dr. C. vom 05.01.2000, nervenärztliches Zusatzgutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie B. vom 06.10.1999) veranlasst. Eine Nachuntersuchung bei Prof. Dr. K., Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik L., im Dezember 2015 (Bericht vom 22.12.2015) habe ergeben, dass sich an der vorbestehenden Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenberechtigendem Ausmaß keine Änderung ergeben habe. Der Antragsteller leide außerdem unter einem Diabetes mellitus Typ II, insoweit werde auf den Bericht des Internisten und Nephrologen Dr. F. vom 17.02.2016 verwiesen. Das Landratsamt R.-Kreis, Versorgungsamt, nehme im Oktober 2015 einen Grad der Behinderung (GdB) von 90 an. Der Antragsteller hat ferner Berichte des Prof. Dr. K. vom 30.04.2015, des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. D. vom 09.09.2015 und vom 22.02.2017 und ein Gutachten des Facharztes für Chirurgie/Unfallchirurgie Dr. A. vom 24.11.2016 vorgelegt. Unter Zugrundelegung dieser ärztlichen Unterlagen bestünden erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids. Die aufschiebende Wirkung der Klage sei anzuordnen. Das Gutachten des Nervenarztes M. sei nicht nachvollziehbar.

Mit Beschluss vom 16.08.2017 hat das SG den Antrag abgelehnt. Die - näher dargelegten - Voraussetzungen für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 22.02.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.06.2017 seien nicht erfüllt. Das SG hat sich im Wesentlichen auf das Gutachten des Nervenarztes M. gestützt. Ferner ergäben sich aus den vom Zoll sichergestellten Unterlagen zahlreiche Fahrten mit dem Lkw für ein Unternehmen in der Zeit von Oktober bis Dezember 2012, die ebenfalls für eine Besserung des psychischen Zustandes des Antragstellers sprechen. Insgesamt lägen so deutliche Anhaltspunkte dafür vor, dass sich der Gesundheitszustand des Antragstellers so wesentlich gebessert habe, dass eine rentenrelevante Leistungsminderung nicht mehr vorliege und die Aufhebungsentscheidung rechtmäßig sei, so dass das Interesse des Antragstellers an der finanziellen Absicherung durch den weiteren Bezug der Rente das dem gesetzlichen Regelfall entsprechende Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin nicht überwiege.

Gegen den ihm am 21.08.2017 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am selben Tag Beschwerde eingelegt. Dr. B. verweise in seinem Gutachten vom 19.02.2013 auf eine Fixierung und Chronifizierung der Pathologie und gehe von einem unter dreistündigen Leistungsvermögen aus. Dr. B. habe auch stark angezweifelt, dass er tatsächlich als Lkw-Fahrer gearbeitet habe. Dies werde auch weiterhin bestritten. Die Annahme des SG, wonach er zahlreiche Fahrten getätigt habe, sei nicht nachvollziehbar. Es sei noch darauf hinzuweisen, dass bei ihm ein GdB von 90 anerkannt sei und er eine Verletztenrente nach einer MdE um 70 v.H. beziehe. Aufgrund seiner schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen könne er weder als Lkw-Fahrer arbeiten noch sonst einer Tätigkeit nachgehen. Vorgelegt wird ein Bericht des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. D. vom 11.09.2017. Dieser gibt an, bei dem Antragsteller bestünde bei Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma mit multiplen Gesichtsfrakturen eine kognitive Beeinträchtigung mit Verhaltensauffälligkeiten sowie chronischem Kopfschmerz.

Der Antragsteller beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Mannheim vom 16. August 2017 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der am 5. Juli 2017 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 22. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Juni 2017 erhobenen Klage anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie trägt vor, Anhaltspunkte dafür, dass die Beurteilung des Leistungsvermögens dem tatsächlichen Gesundheitszustand nicht gerecht werde, bestünden nicht. Sie gehe auch weiterhin nicht davon aus, dass der angefochtene Bescheid offenbar rechtswidrig sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakten der Antragsgegnerin und der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

II.

Die gemäß § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers ist auch im Übrigen zulässig. Sie ist insbesondere nicht nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ausgeschlossen. Denn in der Hauptsache bedürfte die Berufung nicht der Zulassung: Der Beschwerdewert überschreitet den in § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG genannten Betrag von 750,00 EUR und es stehen laufende Leistungen für mehr als ein Jahr im Streit.

Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet; das SG hat die begehrte Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 22.02.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.06.2017 zu Recht abgelehnt.

Die vom Antragsteller erhobene Klage hat nicht bereits kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung. Nach Abs. 1 des mit Wirkung zum 02.01.2002 durch Art. 1 Nr. 35 des 6. Gesetzes zur Änderung des SGG (6. SGG-ÄndG) vom 17.08.2001 (BGBl. I S. 2144) eingefügten § 86a SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage zwar grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Nach § 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG entfällt jedoch die aufschiebende Wirkung für die Anfechtungsklage in Angelegenheiten der Sozialversicherung bei Verwaltungsakten, die eine laufende Leistung herabsetzen oder entziehen. Dies ist vorliegend der Fall, denn durch den Bescheid vom 22.02.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheid vom 29.06.2017 wird die Leistungsbewilligung, die mit Bescheid vom 04.04.2002 in Ausführung eines vor dem SG geschlossenen Vergleichs erfolgt ist, entzogen. Entziehung im Sinne des § 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG meint nicht nur die Entziehung im Sinne des § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I), sondern jede Beseitigung eines früheren Bescheides für die Zukunft (Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg, Beschluss vom 20.10.2003, L 13 AL 3445/03 ER-B, Juris, Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl., § 86a Rdnr. 14).

Nach § 86a Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache aber auf Antrag die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Die Wirkung der gerichtlich angeordneten aufschiebenden Wirkung der Klage tritt rückwirkend ab Erlass des mit der Klage angefochtenen Bescheides ein und endet erst mit Eintritt der Unanfechtbarkeit der Hauptsacheentscheidung (LSG Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 11.05.2011, L 11 R 1075/11 ER-B und L 11 KR 1125/11 ER-B, Juris).

Die Frage, ob die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage aufgrund von § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG anzuordnen ist, ist anhand einer Interessenabwägung zu beurteilen. Das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug des Verwaltungsaktes und die privaten Interessen an der Aussetzung der Vollziehung sind gegeneinander abzuwägen. Da der vorläufige Rechtsschutz den Hauptsacherechtsschutz sichern soll, sind für diese Interessenabwägung die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs grundsätzlich ausschlaggebend. Wird der Hauptsacherechtsbehelf aller Voraussicht nach erfolgreich sein, überwiegt regelmäßig das private Aufschubinteresse des Antragstellers, anderenfalls kommt dem öffentlichen Vollziehungsinteresse regelmäßig der Vorrang zu. Ist keiner dieser Fälle der erkennbaren Aussichtslosigkeit der Klage oder der erkennbaren Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes gegeben, so sind die beteiligten Interessen anhand sonstiger Umstände im Einzelfall zu ermitteln und gegeneinander abzuwägen. Dabei ist zu beachten, dass das Gesetz mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheids den Vorrang vor dem Interesse des Betroffenen an einem Aufschub der Vollziehung einräumt. Diese typisierend zu Lasten des Einzelnen ausgestaltete Interessenabwägung kann aber auch im Einzelfall zugunsten des Betroffenen ausfallen. Die gegeneinander abzuwägenden Interessen ergeben sich in der Regel aus den konkreten Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens, dem Vollziehungsinteresse und der für die Dauer einer möglichen aufschiebenden Wirkung drohenden Rechtsbeeinträchtigung.

In Anlegung dieses Maßstabes überwiegt das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug des Bescheides vom 22.02.2017 das Aufschubinteresse des Antragstellers an der einstweiligen Fortzahlung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Der Bescheid der Antragsgegnerin vom 22.02.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.06.2017 ist nach summarischer Überprüfung rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten. Nach den vorliegenden medizinischen Befunden hat der Antragsteller keinen Anspruch darauf, über den 31.03.2017 hinaus weiterhin eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu erhalten. Gegenüber den Verhältnissen, die bei Erlass des Bescheides vom 04.04.2002 vorgelegen haben ist insofern eine wesentliche Änderung i.S.d. § 48 Abs. 1 SGB X eingetreten, als sich die gesundheitliche Situation des Antragstellers offenbar gebessert hat und eine Erwerbsunfähigkeit nicht mehr anzunehmen ist.

Der Anspruch des Antragstellers auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit richtet sich noch nach § 44 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung (a.F.). Bestand, wie im Falle des Antragstellers, am 31.12.2000 ein Anspruch auf eine Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit, besteht gemäß § 302b Abs. 1 Satz 1 SGB VI in der bis zum 30.06.2017 gültigen Fassung der jeweilige Anspruch bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze weiter, solange die Voraussetzungen vorliegen, die für die Bewilligung der Leistung maßgebend waren.

Nach § 44 Abs. 1 SGB VI a.F. haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, wenn sie erwerbsunfähig sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Nach Abs. 2 der Vorschrift sind erwerbsunfähig Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in einer gewissen Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das 630 DM übersteigt (Satz 1 1. Halbsatz). Erwerbsunfähig ist gemäß § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB VI a.F. nicht, wer eine selbständige Tätigkeit ausübt oder eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Nach dem vorliegenden Gutachten des Nervenarztes M. bestehen auch für den Senat bei summarischer Prüfung keine durchgreifenden Bedenken an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides. Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente nach § 44 SGB VI liegen nach dem aktuellen Gutachten nicht mehr vor. Der Antragsteller ist nach der Einschätzung des Nervenarztes M. wieder in der Lage, zumindest leichten Tätigkeiten vollschichtig nachzugehen. Der Gutachter hat ausführliche Befunde erhoben und sich mit der Beschwerdeschilderung des Antragstellers und den Vorbefunden gründlich auseinandergesetzt. Die von ihm angenommenen Diagnosen werden schlüssig aus den erhobenen Befunden abgeleitet. Der Antragsteller leidet unter dem Zustand nach Armplexusparese links mit verbliebener Verschmächtigung der Oberarmmuskulatur links und ausgeprägten Vernarbungen. Zugleich konnte der Gutachter aber eine kräftige Unterarm- und Handmuskulatur feststellen, auch wenn die Prüfung der Hand- und Armkraft kooperationsbedingt nicht möglich war. Darüber hinaus teilt der Gutachter mit, der Antragsteller habe über chronische Kopfschmerzen geklagt. Einen sicheren Anhalt für eine psychische Störung konnte der Gutachter bei ausführlicher Testung und Untersuchung des Antragstellers nicht feststellen. Bei den durchgeführten Beschwerdevalidierungstests zeigte sich ein eindeutiges Ergebnis dahingehend, dass eine Simulation kognitiver Defizite anzunehmen ist. Die Einschätzung des Gutachters, wonach ein zumindest sechsstündiges Leistungsvermögen anzunehmen ist, ist nach den von ihm erhobenen Befunden nicht offensichtlich unzutreffend. Auch die durch den Antragsteller vorgelegten medizinischen Unterlagen vermögen den Senat nicht davon zu überzeugen, dass die Einschätzung des Gutachters nicht zutreffend wäre. Die Gutachten von Dr. C. und dem Neurologen und Psychiater B. datieren aus den Jahren 1999 und 2000 und lassen daher keinerlei Rückschlüsse auf das gegenwärtige Leistungsvermögen des Antragstellers zu. Weder der bei dem Antragsteller festgestellte GdB (von 90) noch die durch die Berufsgenossenschaft angenommene MdE (um 70 v.H.) vermögen aufgrund ihres anderen Beurteilungsmaßstabs eine Einschränkung des Leistungsvermögens auch für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu begründen. Soweit der behandelnde Neurologe und Psychiater Dr. D. in seiner Bescheinigung vom 22.02.2017 ausführt, nach Kenntnis des Gesundheitszustands des Antragstellers weiterhin davon auszugehen, dass dieser weiterhin nicht in der Lage sei, Arbeiten von wirtschaftlichem Wert zu verrichten, teilt er keinerlei Befunde mit, die die angenommene Leistungseinschätzung begründen könnten. Die in seiner Stellungnahme vom 11.09.2017 mitgeteilten kognitiven Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten sowie chronischer Kopfschmerz wurden durch den Gutachter M. nicht bestätigt. Hier wird das SG ggf. durch Einholung eines weiteren Gutachtens oder durch Befragung der behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen weiter aufzuklären haben, inwieweit kognitive Einschränkungen zu verifizieren sind und inwieweit diese auch Auswirkungen auf leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben. Darüber hinaus wird auch zu klären sein, wie sich die Gebrauchseinschränkung des linken Armes auswirkt. Nachdem der Gutachter M. angegeben hat, an den Fingern der linken Hand finde sich eine Beschwielung, und eine ungestörte Funktion der linken Hand feststellen konnte, dürfte diese jedenfalls als Beihand einzusetzen sein, so dass auch das Vorliegen einer schweren spezifischen Leistungseinschränkung oder einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkung nicht anzunehmen sein dürfte.

Die Entscheidung der Antragsgegnerin ist daher nicht offensichtlich rechtswidrig. Das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug des Bescheides überwiegt das Aufschubinteresse des Antragstellers, weswegen die aufschiebende Wirkung der Klage vor dem SG nicht anzuordnen ist. Bei der derzeitigen Sachlage erscheint ein Obsiegen des Antragstellers zwar nicht unmöglich, es spricht aber mehr dafür, dass seine Anfechtungsklage unbegründet ist. Selbst wenn der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen zu bezeichnen wäre, müsste bei der dann gebotenen Interessenabwägung berücksichtigt werden, dass durch die sofortige Vollziehung keine unabänderlichen Tatsachen geschaffen werden und dem infolge des gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung generell bestehenden Sofortvollzugsinteresse auch sonst kein höherrangiges Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegenüber steht. Der Umstand, dass der Antragsteller nach Wegfall der Erwerbsunfähigkeitsrente ggf. anderweitige Sozialleistungen in Anspruch nehmen muss, begründet keine unbillige Härte; er wird durch den Gesetzgeber in Kauf genommen. In diesem Zusammenhang ist aber in die Abwägung auch einzustellen, dass der Antragsteller eine Verletztenrente nach einer MdE um 70 v.H. bezieht.

Die Beschwerde war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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