Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 28 AS 4243/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 3117/17 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 03.08.2017 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtliche Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten (§ 193 SGG).
Gründe:
I.
Der Kläger begehrt im Wege des einstweiligen Rechtschutzes die Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Streitig ist insbesondere, ob der Kläger wegen eines Aufenthalts in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gemäß § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen ist.
Der Kläger war seit dem 12.12.2013 im Rahmen des Maßregelvollzugs nach § 64 Strafgesetzbuch (StGB) in der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie Z. (zfp Südwürttemberg) untergebracht. Ausweislich der Bescheinigung des zfp Südwürttemberg vom 10.05.2017 befand sich der Kläger seit 22.08.2016 in der extramuralen Erprobung und werde im ambulanten Setting von der Einrichtung begleitet. Der Kläger stehe seither dem Arbeitsmarkt in vollem Umfang zur Verfügung. Ein finanzieller Anspruch gegenüber der Klinik bestehe nicht.
Seit Beginn der extramuralen Erprobung lebte der Kläger zunächst im Landkreis E. und bezog vom dortigen Jobcenter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Arbeitslosengeld [Alg] II).
Ab 15.03.2017 mietete der Kläger ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft in der Str. in S. an. Laut Mietvertrag vom 11.03.2017 hat er für das Zimmer eine Kaltmiete in Höhe von 360,00 EUR monatlich nebst Betriebskostenpauschale in Höhe von 40,00 EUR zu zahlen. Der Umzug erfolgte am 28.03.2017, die Anmeldung beim Einwohnermeldeamt S. am 31.03.2017. Das Jobcenter Landkreis E. hob daraufhin die Bewilligung von Alg II mit Wirkung ab 28.03.2017 auf (Bescheid vom 13.04.2017).
Am 07.04.2017 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 23.05.2017 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung führte sie aus, aufgrund seiner Inhaftierung in der Justizvollzugsanstalt habe der Kläger keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Den seitens des Klägers gegen diesen Bescheid am 06.06.2017 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 06.07.2017 zurück. Auch beim Vollzug von Maßregeln nach § 64 StGB liege eine richterlich angeordnete Freiheitsentziehung vor, die eine Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ausschließe.
Am 11.04.2017 hatte der Kläger ein Arbeitsverhältnis bei der Firma GmbH in S. aufgenommen. Gemäß Arbeitsvertrag vom 04.04.2017 betrug das Gehalt 1.780,00 EUR brutto monatlich. Während der arbeitsvertraglich vereinbarten Probezeit kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis am 31.05.2017 mit Wirkung zum 13.06.2017.
Mit Beschluss vom 19.05.2017 setzte das Landgericht T. die weitere Vollstreckung der Maßregel der Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt aus dem Urteil des Landgerichts S. vom 21.10.2009 nach Maßgabe des Beschlusses des Bundesgerichtshofs vom 14.04.2010 sowie die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafen aus diesem Urteil zur Bewährung aus.
Der Kläger hat am 28.07.2017 beim Sozialgericht S. (SG) Klage erhoben und die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt. Mit Beschluss vom 03.08.2017 hat das SG die Beklagte im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Kläger vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 28.07.2017 bis 31.07.2017 in Höhe von 107,90 EUR und für die Zeit vom 01.08.2017 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis 31.01.2018 in Höhe von 809,00 EUR zu gewähren.
Gegen diesen ihr gemäß Empfangsbekenntnis am 03.08.2017 zugestellten Beschluss hat die Beklagte am 09.08.2017 schriftlich beim Landessozialgericht (LSG) Beschwerde eingelegt und gemäß § 199 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Aussetzung der Vollstreckung beantragt. Zu Unrecht habe das SG einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund bejaht. Der Kläger sei entgegen der Entscheidung des SG gemäß § 7 Abs. 4 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen. Er sei nach wie vor im Maßregelvollzug. Dass die Staatsanwaltschaft der Extramuralen Erprobung zugestimmt habe, bewirke nur eine Vollzugslockerung, nicht aber, dass die richterliche Anordnung der Freiheitsentziehung entfalle.
Die Beklagte beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts S. vom 03.08.2017 aufzuheben und den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abzulehnen.
Der Kläger beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er trägt unter Vorlage des Beschlusses des Landgerichts T. vom 19.05.2017 vor, er befinde sich nicht mehr im Maßregelvollzug. Darüber hinaus habe die Beklagte verkannt, dass ein Patient in der Extramuralen Belastungserprobung, anders als ein Freigänger, keinen Anspruch auf Leistungen mehr habe und auch seinen Krankenversicherungsschutz verliere.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.
II.
Die unter Beachtung der Vorschrift des § 173 SGG form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Beklagte ist zulässig, insbesondere wäre im Hinblick auf die geltend gemachten Leistungen auch in der Hauptsache die Berufung zulässig, da die Berufungssumme von 750,00 EUR überschritten würde (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG). In der Sache hat die Beschwerde aber keinen Erfolg. Das SG hat die Beklagte zu Recht im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Kläger für die Zeit ab 28.07.2017 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 107,90 EUR (für die Zeit vom 28.07.2017 bis 31.07.2017) bzw. in Höhe von 809,00 EUR monatlich (für die Zeit ab 01.08.2017) zu gewähren.
Prozessuale Grundlage des im vorläufigen Rechtsschutz verfolgten Anspruchs ist § 86b Abs. 2 SGG. Nach Satz 1 der Vorschrift kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Klägers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG).
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der angestrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung [ZPO]); dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 25.07.1996 – 1 BvR 638/96 –, NVwZ 1997, 479; BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02 –, NJW 2003, 1236; BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 –, NVwZ 2005, 927 = Breithaupt 2005, 803, alle auch in Juris). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 42). Die Eilbedürftigkeit der erstrebten Regelung ist regelmäßig zu verneinen, soweit Ansprüche für bereits vor Stellung des einstweiligen Rechtsschutzantrags abgelaufene Zeiträume erhoben werden (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 22.11.2011 - L 12 AS 5199/11 ER-B –; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 01.08.2005 – L 7 AS 2875/05 ER-B –, FEVS 57, 72).
Dabei müssen die Gerichte die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02 –, NJW 2003, 1236; BVerfG, Beschluss vom 29.07.2003 – 2 BvR 311/03 –, NVwZ 2004, 95), wenn das einstweilige Rechtsschutzverfahren – wie vorliegend – vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Kläger eines Eilverfahrens nicht überspannen. Die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel, das der Kläger mit seinem Begehren verfolgt, und dessen Bedeutung insbesondere im Hinblick auf Fragen des Grundrechtsschutzes zu orientieren. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Klägers umfassend die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002, a.a.O.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung in dem sich aus dem Tenor der angegriffenen Entscheidung des SG ergebenden Umfang vor. Insoweit hat der Kläger sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Leistungen nach dem SGB II erhalten gemäß § 7 Abs. 1 SGB II Personen, die (1.) das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, (2.) erwerbsfähig sind, (3.) hilfebedürftig sind und (4.) ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Nach den §§ 19 ff. SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige als Arbeitslosengeld II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Diese Leistungen sind in § 20 (Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts), § 21 (Leistungen für Mehrbedarfe beim Lebensunterhalt) und § 22 SGB II (Leistungen für Unterkunft und Heizung) näher ausgestaltet. Gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden die Leistungen nach diesem Buch (nur) auf Antrag erbracht. Dies gilt nicht für Zeiten vor der Antragstellung; bei Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts wirkt der Antrag allerdings auf den Ersten des Monats zurück (§ 37 Abs. 2 SGB II).
Diese Voraussetzungen sind im Fall des Klägers erfüllt; er war jedenfalls ab 28.07.2017 leistungsberechtigt im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB II. Abgesehen von der Frage, ob der Kläger gemäß § 7 Abs. 4 SGB II von Leistungen ausgeschlossen ist, wird dies von der Beklagten auch nicht in Abrede gestellt.
Entgegen der Auffassung des Beklagten steht aber auch der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II einem Anspruch des Klägers jedenfalls ab 28.07.2017 nicht (mehr) entgegen. Mit Beschluss des Landgerichts T. vom 19.05.2017 ist die weitere Vollstreckung der Maßregel der Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt sowie die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafen aus dem Urteil des Landgerichts S. vom 21.10.2009 nach Maßgabe des Beschlusses des Bundesgerichtshofs vom 14.04.2010 zur Bewährung ausgesetzt worden. Damit liegen jedenfalls ab diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen des § 7 Abs. 4 SGB II nicht vor.
Hinsichtlich der weiteren Anspruchsvoraussetzungen, der Leistungsdauer und der Höhe des Anspruchs nimmt der Senat zur weiteren Begründung gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG auf die zutreffenden Gründe des mit der Beschwerde angegriffenen Beschlusses des SG vom 03.08.2017 Bezug und sieht deshalb von einer weiteren Darstellung eigener Gründe ab.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Diese Entscheidung ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtliche Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten (§ 193 SGG).
Gründe:
I.
Der Kläger begehrt im Wege des einstweiligen Rechtschutzes die Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Streitig ist insbesondere, ob der Kläger wegen eines Aufenthalts in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gemäß § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen ist.
Der Kläger war seit dem 12.12.2013 im Rahmen des Maßregelvollzugs nach § 64 Strafgesetzbuch (StGB) in der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie Z. (zfp Südwürttemberg) untergebracht. Ausweislich der Bescheinigung des zfp Südwürttemberg vom 10.05.2017 befand sich der Kläger seit 22.08.2016 in der extramuralen Erprobung und werde im ambulanten Setting von der Einrichtung begleitet. Der Kläger stehe seither dem Arbeitsmarkt in vollem Umfang zur Verfügung. Ein finanzieller Anspruch gegenüber der Klinik bestehe nicht.
Seit Beginn der extramuralen Erprobung lebte der Kläger zunächst im Landkreis E. und bezog vom dortigen Jobcenter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Arbeitslosengeld [Alg] II).
Ab 15.03.2017 mietete der Kläger ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft in der Str. in S. an. Laut Mietvertrag vom 11.03.2017 hat er für das Zimmer eine Kaltmiete in Höhe von 360,00 EUR monatlich nebst Betriebskostenpauschale in Höhe von 40,00 EUR zu zahlen. Der Umzug erfolgte am 28.03.2017, die Anmeldung beim Einwohnermeldeamt S. am 31.03.2017. Das Jobcenter Landkreis E. hob daraufhin die Bewilligung von Alg II mit Wirkung ab 28.03.2017 auf (Bescheid vom 13.04.2017).
Am 07.04.2017 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 23.05.2017 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung führte sie aus, aufgrund seiner Inhaftierung in der Justizvollzugsanstalt habe der Kläger keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Den seitens des Klägers gegen diesen Bescheid am 06.06.2017 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 06.07.2017 zurück. Auch beim Vollzug von Maßregeln nach § 64 StGB liege eine richterlich angeordnete Freiheitsentziehung vor, die eine Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ausschließe.
Am 11.04.2017 hatte der Kläger ein Arbeitsverhältnis bei der Firma GmbH in S. aufgenommen. Gemäß Arbeitsvertrag vom 04.04.2017 betrug das Gehalt 1.780,00 EUR brutto monatlich. Während der arbeitsvertraglich vereinbarten Probezeit kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis am 31.05.2017 mit Wirkung zum 13.06.2017.
Mit Beschluss vom 19.05.2017 setzte das Landgericht T. die weitere Vollstreckung der Maßregel der Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt aus dem Urteil des Landgerichts S. vom 21.10.2009 nach Maßgabe des Beschlusses des Bundesgerichtshofs vom 14.04.2010 sowie die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafen aus diesem Urteil zur Bewährung aus.
Der Kläger hat am 28.07.2017 beim Sozialgericht S. (SG) Klage erhoben und die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt. Mit Beschluss vom 03.08.2017 hat das SG die Beklagte im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Kläger vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 28.07.2017 bis 31.07.2017 in Höhe von 107,90 EUR und für die Zeit vom 01.08.2017 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis 31.01.2018 in Höhe von 809,00 EUR zu gewähren.
Gegen diesen ihr gemäß Empfangsbekenntnis am 03.08.2017 zugestellten Beschluss hat die Beklagte am 09.08.2017 schriftlich beim Landessozialgericht (LSG) Beschwerde eingelegt und gemäß § 199 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Aussetzung der Vollstreckung beantragt. Zu Unrecht habe das SG einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund bejaht. Der Kläger sei entgegen der Entscheidung des SG gemäß § 7 Abs. 4 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen. Er sei nach wie vor im Maßregelvollzug. Dass die Staatsanwaltschaft der Extramuralen Erprobung zugestimmt habe, bewirke nur eine Vollzugslockerung, nicht aber, dass die richterliche Anordnung der Freiheitsentziehung entfalle.
Die Beklagte beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts S. vom 03.08.2017 aufzuheben und den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abzulehnen.
Der Kläger beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er trägt unter Vorlage des Beschlusses des Landgerichts T. vom 19.05.2017 vor, er befinde sich nicht mehr im Maßregelvollzug. Darüber hinaus habe die Beklagte verkannt, dass ein Patient in der Extramuralen Belastungserprobung, anders als ein Freigänger, keinen Anspruch auf Leistungen mehr habe und auch seinen Krankenversicherungsschutz verliere.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.
II.
Die unter Beachtung der Vorschrift des § 173 SGG form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Beklagte ist zulässig, insbesondere wäre im Hinblick auf die geltend gemachten Leistungen auch in der Hauptsache die Berufung zulässig, da die Berufungssumme von 750,00 EUR überschritten würde (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG). In der Sache hat die Beschwerde aber keinen Erfolg. Das SG hat die Beklagte zu Recht im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Kläger für die Zeit ab 28.07.2017 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 107,90 EUR (für die Zeit vom 28.07.2017 bis 31.07.2017) bzw. in Höhe von 809,00 EUR monatlich (für die Zeit ab 01.08.2017) zu gewähren.
Prozessuale Grundlage des im vorläufigen Rechtsschutz verfolgten Anspruchs ist § 86b Abs. 2 SGG. Nach Satz 1 der Vorschrift kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Klägers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG).
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der angestrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung [ZPO]); dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 25.07.1996 – 1 BvR 638/96 –, NVwZ 1997, 479; BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02 –, NJW 2003, 1236; BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 –, NVwZ 2005, 927 = Breithaupt 2005, 803, alle auch in Juris). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 42). Die Eilbedürftigkeit der erstrebten Regelung ist regelmäßig zu verneinen, soweit Ansprüche für bereits vor Stellung des einstweiligen Rechtsschutzantrags abgelaufene Zeiträume erhoben werden (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 22.11.2011 - L 12 AS 5199/11 ER-B –; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 01.08.2005 – L 7 AS 2875/05 ER-B –, FEVS 57, 72).
Dabei müssen die Gerichte die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02 –, NJW 2003, 1236; BVerfG, Beschluss vom 29.07.2003 – 2 BvR 311/03 –, NVwZ 2004, 95), wenn das einstweilige Rechtsschutzverfahren – wie vorliegend – vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Kläger eines Eilverfahrens nicht überspannen. Die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel, das der Kläger mit seinem Begehren verfolgt, und dessen Bedeutung insbesondere im Hinblick auf Fragen des Grundrechtsschutzes zu orientieren. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Klägers umfassend die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002, a.a.O.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung in dem sich aus dem Tenor der angegriffenen Entscheidung des SG ergebenden Umfang vor. Insoweit hat der Kläger sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Leistungen nach dem SGB II erhalten gemäß § 7 Abs. 1 SGB II Personen, die (1.) das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, (2.) erwerbsfähig sind, (3.) hilfebedürftig sind und (4.) ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Nach den §§ 19 ff. SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige als Arbeitslosengeld II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Diese Leistungen sind in § 20 (Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts), § 21 (Leistungen für Mehrbedarfe beim Lebensunterhalt) und § 22 SGB II (Leistungen für Unterkunft und Heizung) näher ausgestaltet. Gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden die Leistungen nach diesem Buch (nur) auf Antrag erbracht. Dies gilt nicht für Zeiten vor der Antragstellung; bei Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts wirkt der Antrag allerdings auf den Ersten des Monats zurück (§ 37 Abs. 2 SGB II).
Diese Voraussetzungen sind im Fall des Klägers erfüllt; er war jedenfalls ab 28.07.2017 leistungsberechtigt im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB II. Abgesehen von der Frage, ob der Kläger gemäß § 7 Abs. 4 SGB II von Leistungen ausgeschlossen ist, wird dies von der Beklagten auch nicht in Abrede gestellt.
Entgegen der Auffassung des Beklagten steht aber auch der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II einem Anspruch des Klägers jedenfalls ab 28.07.2017 nicht (mehr) entgegen. Mit Beschluss des Landgerichts T. vom 19.05.2017 ist die weitere Vollstreckung der Maßregel der Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt sowie die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafen aus dem Urteil des Landgerichts S. vom 21.10.2009 nach Maßgabe des Beschlusses des Bundesgerichtshofs vom 14.04.2010 zur Bewährung ausgesetzt worden. Damit liegen jedenfalls ab diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen des § 7 Abs. 4 SGB II nicht vor.
Hinsichtlich der weiteren Anspruchsvoraussetzungen, der Leistungsdauer und der Höhe des Anspruchs nimmt der Senat zur weiteren Begründung gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG auf die zutreffenden Gründe des mit der Beschwerde angegriffenen Beschlusses des SG vom 03.08.2017 Bezug und sieht deshalb von einer weiteren Darstellung eigener Gründe ab.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Diese Entscheidung ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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