L 8 SB 4412/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 2 SB 355/16
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 4412/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 26.10.2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Feststellung des Merkzeichens "aG".

Der 1947 geborene Kläger beantragte am 20.05.1997 bei dem Versorgungsamt H. die Feststellung von Behinderungen nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG). Mit Bescheid vom 14.08.1997 stellte das Versorgungsamt einen Grad der Behinderung (GdB) von 20 ab dem 20.05.1997 fest. Den hiergegen gerichteten Widerspruch vom 01.09.1997 (Blatt 15 VA) wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21.04.1998 (Blatt 43 VA) zurück. Aufgrund des nachfolgenden Klageverfahrens stellte der Beklagte mit Bescheid vom 13.10.1999 einen GdB von 30 seit dem 01.02.1998 fest.

Auf den Neufeststellungsantrag vom 07.02.2001 (Blatt 51 VA) stellte das Landratsamt (LRA) mit Bescheid vom 08.05.2001 einen GdB von 60 seit dem 07.02.2001 sowie das Merkzeichen "G" fest und lehnte die Feststellung des Merkzeichens "aG" ab. Als Funktionsbeeinträchtigungen wurden berücksichtigt: - Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden, chronisches Schmerzsyndrom - Degenerativ verursachte Funktionsbehinderung der Kniegelenke, Fußdeformität - Polyneuropathie, meralgie paraesthetica und Tarsaltunnelsyndrom beiderseits - Depression - Bluthochdruck

Am 16.06.2011 beantragte der Kläger erneut die Feststellung des Merkzeichens "aG" (Blatt 80 VA). Das LRA holte die versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. B. vom 15.07.2011 ein, der ausführte, dass ein Bluthochdruck und eine Rechtsherzbelastung zusätzlich zu berücksichtigen seien, wobei ein Teil-GdB von 40 anzunehmen sei. Die Gehfähigkeit sei nicht auf das schwerste eingeschränkt. Gestützt hierauf stellte das LRA mit Bescheid vom 20.07.2011 (Blatt 98 VA) einen GdB von 80 seit dem 16.06.2011 fest und lehnte die Feststellung des Merkzeichens "aG" ab.

Am 26.08.2011 (Blatt 102 VA) beantragte der Kläger bei der Stadt M. die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 46 Absatz 2 Satz 1 Straßenverkehrsordnung und am 18.06.2015 die Neufeststellung des GdB.

Das LRA holte die versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. K. vom 09.08.2015 ein (Blatt 135 VA), der einen GdB von 100 ab dem 18.06.2015 empfahl.

Am 31.08.2015 beantragte der Kläger die Feststellung des Merkzeichens "aG" (Blatt 140 VA).

Mit Bescheid vom 13.08.2015 (Blatt 138 VA) stellte das LRA einen GdB von 100 seit dem 18.06.2015 fest.

Mit Bescheid vom 22.09.2015 lehnte das LRA die Feststellung des Merkzeichens "aG" ab und führte zur Begründung aus, die bei dem Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen seien nicht so ausgeprägt, dass sie dem als Vergleichsmaßstab genannten Personenkreis der Querschnittsgelähmten usw. entsprechen würden. Auch Erkrankungen der inneren Organe, die sich auf die Gehfähigkeit in besonders schwerem Maße auswirkten, könnten eine Gleichstellung rechtfertigen. Bei Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz, die einen GdB von mindestens 80 bedingten, seien die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "aG" gegeben. Das Ausmaß der beim Kläger vorliegenden Herzerkrankung rechtfertige eine Gleichstellung ebenfalls nicht.

Gegen den Bescheid erhob der Kläger am 06.10.2015 Widerspruch und machte geltend, dass der Spinalkanal fast komplett zu sei und eine Operationsindikation bestehe.

Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19.01.2016 (Blatt 174 VA) zurück.

Gegen den Ablehnungsbescheid erhob der Kläger am 15.02.2016 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) und machte geltend, dass eine schwere pulmonale arterielle Hypertonie, eine KHK und eine schwere pAVK vorliege. Zudem bestünden beidseits Meniskusschäden und die Wirbelsäule sei bereits mehrfach operiert worden. Das SG holte die sachverständige Zeugenauskunft des Orthopäden/Unfallchirurgen G. (Blatt 28 SG-Akte) und des Dr. S. (Allgemeinmedizin – Blatt 37 SG-Akte) ein. Die Klage wies das SG, nach persönlicher Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung, mit Urteil vom 26.10.2015 ab und führte zur Begründung aus, dass die Regelung über das Merkzeichen "aG" ihrem Zweck entsprechend eng auszulegen sei. Das Merkzeichen solle lediglich eine stark einschränkte Gehfähigkeit durch Verkürzung der Wege mit Hilfe der gewährten Parkerleichterungen ausgleichen. Das Gehvermögen des Klägers sei stark eingeschränkt, weshalb das Merkzeichen "G" festgestellt worden sei, die Einschränkung resultiere jedoch vorwiegend aus der Spinalkanalstenose und nicht auf kardialen Erkrankungen. Aus der geschilderten Alltagsbewältigung ergebe sich, dass das Gehvermögen nicht auf das schwerste eingeschränkt sei. Der Kläger sei in der Lage, seine Wohnung im 2.Obergeschoss zu verlassen und aufzusuchen und könne 20 Meter zu seinem Parkplatz zurücklegen, gehe einkaufen und benutze keine orthopädischen Hilfsmittel. Nach den Angaben des Klägers sei sein Hauptproblem nicht die Gehstrecke, sondern die zu kleinen normalen Parkplätze.

Gegen das am 08.11.2016 zugestellte Urteil hat der Kläger am 28.11.2016 Berufung zum Landessozialgericht Baden- Württemberg (LSG) eingelegt. Er macht geltend, dass sich die relevante Einschränkung der Gehstrecke aus den Berichten der T.-Klinik H. ergebe, die sechsminütige Gehstrecke sei nach den Befundberichten vom 21.04.2016 als auch vom 06.10.2016 nicht mehr möglich. Das Erreichen der Wohnung sei nur mit Hilfe seiner Ehefrau möglich und dies nehme einen außergewöhnlichen Zeitaufwand ein. Sein Auto erreiche er nur, nachdem er sich nach dem Treppenabstieg etliche Minuten ausgeruht habe. Er habe sich das Auto mit der großen Tür und einem Automatikgetriebe anschaffen müssen, um überhaupt Auto fahren zu können.

Der Kläger beantragt, sachdienlich gefasst,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 26.10.2016 sowie den Bescheid des Beklagten vom 22.09.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.01.2016 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, das Merkzeichen "aG" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Erforderlich für die Feststellung des Merkzeichens "aG" sei, dass sich der schwerbehinderte Mensch außerhalb seines Kraftfahrzeuges praktisch vom ersten Schritt an nur mit großer Anstrengung oder nur mit fremder Hilfe bewegen könne. Den medizinischen Unterlagen sei zu entnehmen, dass bei einer pulmonalen Belastbarkeit bis zu 75 Watt eine mögliche Gehstrecke von 423 Metern in sechs Minuten bestanden habe. Eine Einschränkung des Gehvermögens auf das Schwerste und vom ersten Schritt außerhalb eines Kraftfahrzeuges an, sei beim Kläger nicht zu objektivieren.

Der Rechtsstreit ist mit den Beteiligten in nichtöffentlicher Sitzung erörtert worden (Blatt 25/26 der Senatsakte). Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten gemäß §§ 153 Absatz 1, 124 Absatz 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist gemäß §§ 143,144 SGG zulässig, aber unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 22.09.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.01.2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger kann die Feststellung des Merkzeichens "aG" nicht beanspruchen.

Rechtsgrundlage für die Feststellung des Merkzeichens "aG" ist § 152 Absatz 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung des Bundesteilhabegesetzes vom 23.12.2016 (BGBl. I 2016, 3234), die vorliegend anzuwenden ist, da maßgeblicher Zeitpunkt bei Verpflichtungs- und Leistungsklagen der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz ist, wobei es für laufende Leistungen auf die Sach- und Rechtslage in dem jeweiligen Zeitraum ankommt, für den die Leistungen begehrt werden; das anzuwendende Recht richtet sich nach der materiellen Rechtslage (Keller in: Meyer- Ladewig, SGG, 12. Auflage, § 54 RdNr. 34). Nachdem § 241 Absatz 2 SGB IX lediglich eine (Übergangs-) Vorschrift im Hinblick auf Feststellungen nach dem Schwerbehindertengesetz enthält, ist materiell-rechtlich das SGB IX in seiner derzeitigen Fassung anzuwenden.

§ 152 Absatz 4 SGB IX bestimmt, dass wenn neben dem Vorliegen einer Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind, die zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach Absatz 1 treffen. Zu diesen Merkmalen gehört das im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften in den Schwerbehindertenausweis einzutragende Merkzeichen "aG" (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung).

§ 229 Absatz 3 SGB IX enthält nunmehr die Legaldefinition des Nachteilsausgleichs "außergewöhnlich gehbehindert", die zuvor aufgrund Artikel 3 Nr. 13 des Gesetzes zur Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz vom 23.12.2016) seit 30.12.2016 in § 146 Absatz 3 SGB IX enthalten war. Nach § 229 Absatz 3 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht (Satz 1). Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können (Satz 2). Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung - dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen - aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind (Satz 3). Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen (Satz 4). Diese sind als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter Satz 1 genannten Beeinträchtigung gleichkommt (Satz 5).

Nach der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 18/9522 zu Nr. 13 (§146) Seite 318) kann beispielsweise bei folgenden Beeinträchtigungen eine solche Schwere erreicht werden, dass eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vorliegt: - zentralnervösen, peripher-neurologischen oder neuromuskulär bedingten Gangstörungen mit der Unfähigkeit, ohne Unterstützung zu gehen oder wenn eine dauerhafte Rollstuhlbenutzung erforderlich ist (insbesondere bei Querschnittlähmung, Multipler Sklerose, Amyotropher Lateralsklerose (ALS), Parkinsonerkrankung, Para- oder Tetraspastik in schwerer Ausprägung), - einem Funktionsverlust beider Beine ab Oberschenkelhöhe oder einem Funktionsverlust eines Beines ab Oberschenkelhöhe ohne Möglichkeit der prothetischen oder orthetischen Versorgung (insbesondere bei Doppeloberschenkelamputierten und Hüftexartikulierten), - schwerster Einschränkung der Herzleistungsfähigkeit (insbesondere bei Linksherzschwäche Stadium NYHA IV), - schwersten Gefäßerkrankungen (insbesondere bei arterieller Verschlusskrankheit Stadium IV), - Krankheiten der Atmungsorgane mit nicht ausgleichbarer Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades, - einer schwersten Beeinträchtigung bei metastasierendem Tumorleiden (mit starker Auszehrung und fortschreitendem Kräfteverfall).

§ 229 Absatz 3 SGB IX normiert mehrere (kumulative) Voraussetzungen: Zunächst muss bei dem Betroffenen eine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung bestehen, diese muss einem GdB von mindestens 80 entsprechen. Darüber hinaus muss die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung auch erheblich sein. Mit der Bezugnahme auf mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigungen wollte sich der Gesetzgeber von der Einengung auf orthopädische Gesundheitsstörungen lösen, so dass "keine Fallgestaltung von vornherein bevorzugt oder ausgeschlossen wird, auch nicht dem Anschein nach" (BT-Drs. 18/9522, S. 318). Trotz dieser Ausweitung übernimmt die Neuregelung den bewährten Grundsatz, dass das Recht, Behindertenparkplätze zu benutzen, nur unter engen Voraussetzungen eingeräumt werden darf und verlangt daher auf der zweiten Prüfungsstufe einen - relativ hohen - GdB von wenigstens 80 für die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung. Dabei ist an den tatsächlich zuerkannten GdB anzuknüpfen (Senatsurteil vom 27.01.2017 - L 8 SB 943/16, juris; sich dem anschließend LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 03.08.2017 - L 6 SB 3654/16 -, sozialgerichtsbarkeit.de).

Die bisherige Rechtslage zum Merkzeichen "aG" ergab sich im Wesentlichen aus Abschnitt 2 Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) vom 26. Januar 2001 (BAnz S. 1419, berichtigt S. 5206). Ergänzende Vorschriften enthielt bzw. enthält weiterhin Teil D Nr. 3 c Satz 1 der Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV).

Nach Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung insbesondere solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können, oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem zuvor genannten Personenkreis gleichzustellen sind.

Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der bis dahin heranzuziehen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin Verordnung; VersMedV) getreten.

Zunächst konnte sich der Beklagte hinsichtlich der Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "aG" nach ständiger Rechtsprechung des Senats nicht auf die VG (Teil D Ziff. 3) berufen. Eine gesetzliche Ermächtigung für den Verordnungsgeber, die Grundsätze für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleiche durch Verordnung regeln zu können, enthielten nach Auffassung des Senats weder § 30 Abs. 17 BVG in der Fassung bis 30.06.2011 bzw. § 30 Abs. 16 BVG in der ab 01.07.2011 gültigen Fassung, der nicht auf die im Schwerbehindertenrecht im SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche verweist (vgl. Dau, jurisPR SozR 4/2009), noch andere Regelungen des BVG. Eine Rechtsgrundlage zum Erlass einer Verordnung über Nachteilsausgleiche war bislang auch nicht in den einschlägigen Vorschriften des SGB IX vorhanden. Die Regelungen der VG zum Nachteilsausgleich aG (und G) waren damit nach ständiger Rechtsprechung des Senats mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig (vgl. Urteile des Senats vom 23.07.2010 - L 8 SB 3119/08 - und vom 14.08.2009 - L 8 SB 1691/08 -, beide veröff. in juris und sozialgerichtsbarkeit.de; so auch der ebenfalls für Schwerbehindertenrecht zuständige 6. Senat des LSG Baden Württemberg, vgl. stellvertretend Urteil vom 04.11.2010 L 6 SB 2556/09, unveröffentlicht; offen lassend der 3. Senat, vgl. Urteil vom 17.07.2012 L 3 SB 523/12, unveröffentlicht). Rechtsgrundlage waren daher allein die genannten gesetzlichen Bestimmungen und die hierzu nach ständiger Rechtsprechung zulässig anzuwendenden Verwaltungsvorschriften.

Ein Betroffener war danach gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 1. Halbsatz VwV-StVO aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 23). Hierbei ist zu beachten, dass die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften nicht darauf abstellen, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an und selbst unter Einsatz orthopädischer Hilfsmittel - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (vgl. BSG SozR 3-3250 § 69 Nr. 1 und Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R -, juris).

Mit Wirkung zum 15.01.2015 hat der Gesetzgeber in § 70 Abs. 2 SGB IX (aF) eine Verordnungsermächtigung eingeführt und in § 159 Abs. 7 SGB IX eine Übergangsregelung getroffen (eingefügt durch Art. 1a des am 15.01.2015 in Kraft getretenen Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates über einen Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung und zur Aufhebung des Beschlusses 2003/174/EG vom 07.01.2015; BGBl. II S. 15).

§ 70 Abs. 2 SGB IX (aF) in der Fassung vom 07.01.2015 lautete: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Von der Verordnungsermächtigung ist bislang kein Gebrauch gemacht worden.

Nach der ebenfalls am 15.01.2015 in Kraft getretenen Übergangsregelung des § 159 Abs. 7 SGB IX in der Fassung vom 07.01.2015 haben, soweit noch keine Verordnung nach § 70 Abs. 2 erlassen war, die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes und der aufgrund des § 30 Abs. 16 des Bundesversorgungsgesetzes erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gegolten. Entsprechendes folgt aus der Übergangsvorschrift des § 241 Absatz 5 SGB IX für die Verordnungsermächtigung nach § 153 Absatz 2 SGB IX, worauf es im Hinblick auf die gesetzliche Normierung in § 229 Absatz 3 SGB IX nicht entscheidungserheblich ankommt.

Nach Auffassung des Senats hat der Gesetzgeber mit der Übergangsregelung des § 159 Abs. 7 SGB IX ab dem 15.01.2015 wirksam und mit hinreichend bestimmtem Gesetzeswortlaut eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Feststellung des Merkzeichens "aG" geschaffen. Die so geschaffene Rechtsgrundlage für die Feststellung des Merkzeichens "aG" entfaltet jedoch keine Rückwirkung, sondern ist erst ab dem Datum des Inkrafttretens am 15.01.2015 wirksam (Urteil des Senats vom 22.05.2015, - L 8 SB 70/13 -, juris, sozialgerichtsbarkeit.de). Folglich stellt der Senat für die Zeit bis zum 31.12.2008 auf die AHP, bis 14.01.2015 auf die von der Rechtsprechung für die Feststellung des Merkzeichens "aG" entwickelten Kriterien und für die Zeit ab dem 15.01.2015 auf die in den VG geregelten Kriterien ab. Ab 30.12.2016 gilt die Neuregelung des § 146 Abs. 3 SGB IX und ab 01.01.2018 § 229 Absatz 3 SGB IX, der mangels Übergangsregelung auf alle Ansprüche anzuwenden ist, über die am Tag des Inkrafttretens noch nicht bestandskräftig entschieden wurde.

Der Kläger kann weder auf Basis der bis zum 30.12.2016 geltenden Regelungen noch aufgrund der Neuregelungen in § 229 Absatz 3 SGB IX (bzw. § 146 SGB IX aF) die Feststellung des Merkzeichens "aG" beanspruchen. Auf die Rechtslage vor dem 15.01.2015 kommt es vorliegend nicht an, nachdem die Feststellung des Merkzeichens erst am 31.08.2015 beantragt worden ist.

Nach VG D3.b. sind als schwer behinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauern nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend aufgeführten Personenkreis gleichzustellen sind. Nach Buchstabe d.) darf die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Gehbehinderte einen Rollstuhl benutzen: Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet wurde, die Betroffenen müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades anzusehen.

Funktionseinschränkungen, die einem Schweregrad entsprechen, wie er bei einen Querschnittsgelähmten oder einem Doppelbeinamputierten gegeben ist, konnte der Senat nicht feststellen. Bei dem Kläger bestehen im Bereich der Lendenwirbelsäule im Segment L4/L5 ausgeprägte hypertrophe Spondylarthrosen mit hochgradiger Einengung des Spinalkanals (radiologischer Bericht vom 23.09.2015, Blatt 33 SG-Akte). Darüber hinaus besteht an der Brustwirbelsäule eine ausgeprägte Spondylose, wobei hinsichtlich der Lendenwirbelsäule eine Operationsindikation gesehen wird (Bericht des Orthopäden G. vom 30.03.2016). Eine mittel- bis schwergradige Einschränkung im Bereich der LWS ist daher gegeben, die mit einem Teil-GdB von 30 einzuschätzen ist. Darüber hinaus besteht eine Polyneuropathie, deren belastungsabhängige Schmerzen durch die Lumbalkanalstenosen bedingt ist und eine beidseitige Fußheberschwäche (Bericht des Neurologen R. vom 10.05.2016, Blatt 149 SG-Akte). Weiter eine Senk-Spreizfuß-Deformität beidseits (Orthopäde G. , Bericht vom 30.03.2016, Blatt 28 SG-Akte) und eine arterielle Verschlusskrankheit im rechten Unterschenkel (Bericht des D. Krankenhauses M. vom 19.02.2015, Blatt 119 VA). Die Hüftgelenke werden als schmerzfrei frei beweglich beschrieben (Bericht des T. Krankenhauses vom 28.10.2015, Blatt 31 SG-Akte). Auch wenn die Funktionseinschränkungen die Gehfähigkeit beeinträchtigen, weshalb das Merkzeichen "G" festgestellt worden ist (Bescheid vom 13.08.2015, Blatt 138 VA), resultiert hieraus weder eine Rollstuhlpflicht, noch eine Unmöglichkeit, sich außerhalb des PKW selbstständig zu bewegen. Vielmehr hat der Kläger gegenüber dem SG angegeben, die Treppe bis in den zweiten Stock gehen zu können und das 20 Meter entfernt parkende Auto erreichen zu können.

Funktionseinschränkungen auf internistischem Fachgebiet, die sich besonders auf das Gehvermögen auswirken, konnte der Senat ebenfalls nicht feststellen, da weder eine schwerste Einschränkung der Herzleistungsfähigkeit noch eine schwere Erkrankung der Atmungsorgane mit nicht ausgleichbarer Einschränkung der Lungenfunktion vorliegt. Dem Bericht des Zentrums für pulmonale Hypertonie vom 25.08.2015 entnimmt der Senat, dass bei dem Kläger eine pulmonale Hypertonie und eine koronare Herzerkrankung besteht, jedoch ergaben die seit 2014 durchgeführten 6-Minuten-Gehtests eine mögliche Gehstrecke zwischen 300 und 400 Metern, wobei die Herzfrequenz auf zwischen 80 und 94 angestiegen ist und der Ruhepuls auf maximal 130/85. Die Sauerstoffsättigung ist nicht auf unter 97% abgesunken (Bericht des Zentrums für pulmonale Hypertonie vom 01.02.2017, Blatt 28 Senatsakte) und lag damit im Normbereich (so auch der Befundbericht des Facharztes für Innere Medizin Dr. S. , Blatt 137 SG-Akte). Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass sich aus dem Bericht des Zentrums für pulmonale Hypertonie vom 12.08.2015 (Blatt 151 SG-Akte) ergibt, dass zwar von einer Befundverschlechterung ausgegangen wurde, der Kläger aber trotzdem eine Belastungsdyspnoe erst nach zwei bis drei Etagen Treppensteigen angegeben hat, entsprechendes ergibt sich aus dem Bericht vom 03.12.2015. Dem Bericht des Dr. S. vom 16.02.2016 (Blatt 137 SG-Akte) lässt sich sodann eine Befundbesserung im Verlauf seit 2013 entnehmen. Dies korrespondiert mit dem Bericht der kardiologischen Schwerpunktpraxis vom 02.03.2016 (Blatt 138 SG-Akte), wonach im Rahmen der Ergometrie bis 75 Watt klinisch eine Beschwerdefreiheit bestand. Letztlich hat das SG zutreffend darauf hingewiesen, dass der Umstand, dass der Kläger einen breiteren Parkplatz benötigt, um die Pkw-Tür vollständig zu öffnen, die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" nicht zu rechtfertigen vermag, da Zielrichtung des Merkzeichens nur die Verkürzung der Wege ist. Die Notwendigkeit einer weit geöffneten Pkw-Tür beim Ein- bzw. Aussteigen erfüllt nicht die Voraussetzungen für die Annahme einer Einschränkung der Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße (vgl. BSG 03.02.1988 – 9/9a RVs 19/88-, SozR 3870 § 3 Nr. 28 st. Rechtsprechung des Senats vgl. zuletzt Senatsurteile vom 22.04.2016 - L 8 SB 1902/14 und vom 26.03.2015 – L 8 SB 1086/14 -, nicht veröffentlicht).

Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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