Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 15 R 2433/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 R 1029/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 25. Februar 2016 aufgehoben.
Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 20. März 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juli 2014 verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung über den 30. April 2014 hinaus bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze zu gewähren.
Die Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Weitergewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung über den 30. April 2014 hinaus.
Die Klägerin ist 1979 geboren. Sie hat eine Ausbildung zur Briefzustellerin absolviert. Im Jahr 2000 erfolgte eine Umschulung zur IT-Fachkraft. Sie bezog vom 1. Juli 2003 bis zum 30. April 2014 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. So bewilligte ihr die Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden einheitlich: die Beklagte) zunächst mit Bescheid vom 4. Februar 2004 aufgrund eines Leistungsfalles vom 7. Dezember 2002 Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1. Juli 2003 bis zum 31. Dezember 2005. In der Folgezeit wurde die Bewilligung jeweils befristet erneuert (Bescheid vom 21. Dezember 2006: Weiterbewilligung bis zum 31. Januar 2007; Bescheid vom 31. Januar 2007: Weiterbewilligung bis zum 31. März 2007; nach Vergleichsschluss im Verfahren S 13 R 5479/07 beim Sozialgericht Karlsruhe [SG] Bescheid vom 30. November 2009 Weiterbewilligung bis zum 30. September 2010; Bescheid vom 24. August 2010: Weiterbewilligung bis zum 30. September 2012; Bescheid vom 27. Juli 2012: Weiterbewilligung bis zum 31. Juli 2013; Bescheid vom 2. Mai 2013: Weiterbewilligung bis zum 30. April 2014; Bescheid vom 4. Dezember 2014: Neuberechnung für die Zeit vom 1. Februar 2010 bis zum 30. April 2014).
Im Auftrag der Beklagten hatte die Ärztin für Psychiatrie Dr. H. auf Grund einer Untersuchung der Klägerin vom 20. Juli 2010 unter dem 20. August 2010 unter Berücksichtigung eines Zusatzgutachtens der Fachärztin für Innere Medizin W. (vom 21. Juli 2010 auf Grund einer Untersuchung der Klägerin vom 20. Juli 2010) ein ärztliches Gutachten erstellt. Sie diagnostizierte eine autonome somatoforme Störung des unteren Gastrointestinaltraktes (psychogenes Colon irritabile und psychogene Diarrhoe) im Sinne einer chronischen Darmerkrankung bei bekannter Fructose- und Lactoseintoleranz (histologisch bis dato kein beweisender Befund passend zu Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa) auf dem Boden einer frühen, komplexen psychischen Störung mit emotional instabilen, narzisstischen und histrionischen Zügen und dissoziativer Abspaltung, Störungen durch Opioide, schädlichem Gebrauch und/oder Abhängigkeit sowie leichte Adipositas ohne Zeichen der Malabsorption. Die Klägerin sei in der Lage, leichte Tätigkeiten ohne erhöhtes Konfliktpotential und Stressbelastung ohne Zeitdruck und Publikumsverkehr drei bis unter sechs Stunden auszuführen. Dabei müsse ein Zugang zur Toilette jederzeit möglich sein. Bei dem seit Jahren unveränderten psychischen und somatischen Befund und der sicherlich komplexen und schweren Persönlichkeitsstrukturstörung sehe sie auch weiterhin nur ein unter vollschichtiges Leistungsvermögen für leidensgerechte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes.
Die Klägerin beantragte am 11. Dezember 2013 die Weitergewährung der Rente wegen Erwerbsminderung über den 30. April 2014 hinaus.
Im Auftrag der Beklagten erstellte Facharzt für Innere Medizin und Rheumatologie Dr. L. auf Grund einer Untersuchung der Klägerin vom 11. März 2014 unter dem 18. März 2014 ein ärztliches Gutachten. Er diagnostizierte psychogene Durchfälle und Bauchschmerzen (unter gut vertragener Therapie leichtgradig), eine vorbefundlich psychiatrisch komplexe psychische Störung mit emotional instabilen narzisstischen und histrionischen Zügen (aktuell nicht mehr therapiebedürftig) sowie vorbefundlich Störungen durch Opioide, schädlichen Gebrauch und/oder Abhängigkeit ohne aktuell Hinweise auf schädlichen Gebrauch oder Abhängigkeit, eine leichtgradige Speiseröhrenentzündung sowie Adipositas. Der behandelnde Gastroenterologe habe nach den letzten Spiegelungen des Magen-Darm-Traktes 2012 mitgeteilt, dass sich für das Vorliegen einer chronischen entzündlichen Darmerkrankung kein Anhalt mehr ergebe. Ein leistungsmindernder Ausprägungsgrad der Beschwerden sei im Rahmen der Begutachtung nicht mehr zu objektivieren gewesen. Selbst auf einfache Hygieneartikel (Slipeinlagen) könne die Klägerin verzichten. Die Schmerzmittel würden von ihr selbst gut wirksam und gut verträglich gewertet. Es handele sich um leichte Schmerzmittel. Ein zur Darmregulierung verordnetes Opiat sei nur einmalig in minimaler Dosis eingenommen worden. Auch der psychische Zustand habe sich wesentlich gebessert und die Klägerin halte sich auch selbst nicht mehr für behandlungsbedürftig. Die Klägerin könne mittelschwere Tätigkeiten qualitativ uneingeschränkt verrichten. Auf Grund vorbestehender psychischer Erkrankung wären lediglich Tätigkeiten mit Nachtschicht oder mit sonstigen besonderen psychischen Belastungsfaktoren nicht leidensgerecht. Im Übrigen sei die Klägerin psychisch wieder normal belastbar. Aus gutachterlicher Sicht sei eine normale Toilettenverfügbarkeit ausreichend. Spezielle Arbeitsbedingungen seien nicht erforderlich. Das Gehvermögen sei nicht eingeschränkt.
Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 20. März 2014 ab. Die Klägerin könne wieder mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein.
Gegen den Bescheid vom 20. März 2014 erhob die Klägerin am 7. April 2014 Widerspruch. Ihre Ausdauer und ihr Durchhaltevermögen sei beeinträchtigt. Im Hinblick auf die Darmerkrankung seien betriebsunübliche Pausen erforderlich.
Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 20. März 2014 mit Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 2014 zurück. Die Klägerin könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mehr als sechs Stunden täglich arbeiten.
Die Klägerin hat am 22. Juli 2014 beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) Klage erhoben. Sie hat die Auffassung vertreten, dass ihr Gesundheitszustand unverändert sei und ein unter sechsstündiges Leistungsvermögen vorliege.
Das SG hat zunächst die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen befragt. Der Gastroenterologe Dr. K. hat unter dem 1. Oktober 2014 mitgeteilt, die Klägerin zuletzt im April 2013 gesehen zu haben und daher zum aktuellen Gesundheitszustand keine Stellung nehmen zu können. Facharzt für Orthopädie Dr. K. hat unter dem 8. Oktober 2014 über Behandlungen der Klägerin bis zum 18. September 2013 berichtet. Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. G. hat unter dem 23. Oktober 2014 die Auffassung vertreten, die Klägerin könne auf Grund der von ihr geschilderten Beschwerden nicht mehr sechs Stunden täglich tätig sein. Sie könne – wenn überhaupt – einer Tätigkeit von maximal zwei bis drei Stunden nachgehen, jedoch sei selbst diese Stundenanzahl in Exerbationszeiten der Diarrhoe unmöglich. Die Klägerin leide unter täglichen Bauchschmerzen und Durchfällen verbunden mit Übelkeit. Arzt für Allgemeinmedizin Dr. B. hat unter dem 29. Januar 2015 mitgeteilt, dass die Klägerin bei ihm letztmals am 22. Juli 2014 in Behandlung gewesen sei. In der Zeit bis dahin sehe er keine mindestens sechsstündige tägliche Belastbarkeit. Grund hierfür seien die ständig wiederkehrenden Bauchschmerzen und der dranghafte Stuhlgang mit bis zu 20-mal pro Tag. Die Klägerin könne ca. zwei bis drei Stunden unter der Voraussetzung, dass sie mehrmals die Toilette aufsuchen könne, arbeiten.
Die Beklagte ist der Klage unter Vorlage sozialmedizinischer Stellungnahmen des Dr. L. vom 16. März 2015 sowie des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. N. vom 23. Dezember 2015 entgegengetreten.
Das SG hat Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. L. (Chefarzt der Neurologischen Klinik des M. Reha-Zentrum G.) von Amts wegen zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt. Dieser erstattete auf Grund einer Untersuchung der Klägerin vom 6. August 2015 unter dem 7. August 2015 ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten. Er diagnostizierte auf seinem Fachgebiet eine Persönlichkeitsstörung im Sinne einer histrionischen Primärpersönlichkeit, eine somatoforme Funktionsstörung des unteren Verdauungstraktes sowie eine spezifische Angststörung bezogen auf die rechtzeitige Erreichbarkeit einer Toilette. Bezogen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt sei eine vollschichtige Arbeitstätigkeit unter Beachtung qualitativer Einschränkungen zumutbar. Auf Grund der genannten Diagnosen seien Tätigkeiten, die mit stärkerer psychischer und seelischer Belastbarkeit verknüpft seien, nicht zumutbar. Dazu gehörten auch Tätigkeiten mit direktem Kundenkontakt. Im Rahmen der psychosomatischen Besonderheiten müsse jederzeit die Erreichbarkeit einer Toilette gewährleistet sein. Unter diesen Voraussetzungen sei eine leichte überwiegend sitzende Tätigkeiten ohne zeitliche Einschränkungen zumutbar. Bei ungestörten motorischen Funktionen könne eine Wegstrecke von 500 Metern in adäquater Weise zurückgelegt werden. Wegen der panikartigen Attacken bei fehlender Erreichbarkeit einer Toilette seien öffentliche Verkehrsmittel weiterhin nicht zu empfehlen. Die Benutzung eines privaten Personenkraftwagens sei nicht relevant eingeschränkt. Die Klägerin habe diesbezüglich bereits Strategien entwickelt, wie die Ausarbeitung einer Route mit öffentlichen Toiletten, wie sie beispielsweise in Tankstellen zur Verfügung stünden.
Sodann hat das SG auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. D. zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt. Dieser erstattete am 14. Dezember 2015 ein nervenärztliches Gutachten. Er diagnostizierte eine anhaltende autonome somatoforme Störung schweren Grades. Die Klägerin sei krankheitsbedingt weniger als drei Stunden täglich beruflich leistungsfähig. Die bei ihr vorliegende psychische Erkrankung sei mittlerweile chronifiziert. Mit den heute zur Verfügung stehenden therapeutischen Möglichkeiten sei sie deshalb voraussichtlich nicht mehr durchgreifend zu bessern, so dass die daraus resultierende Einschränkung ihres beruflichen Leistungsvermögens ebenfalls Dauercharakter habe. Trotz ihrer Erkrankung sei die Klägerin in der Lage, viermal am Tag 500 Meter zu Fuß in weniger als 20 Minuten zurückzulegen. Danach sollte eine Toilette erreichbar sein. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei ihr auf Grund ihrer Beschwerden nicht zuzumuten. Aus dem gleichen Grunde seien ihr längere Autofahrten über eine halbe Stunde nicht zumutbar. Die Feststellung, dass sich bei der Klägerin keine entzündliche Darmerkrankung im eigentlichen Sinne habe nachweisen lassen, spreche nicht gegen diese Feststellung. Sie bestätige lediglich, dass das Beschwerdebild psychogen bedingt und damit Ausdruck einer somatoformen Störung sei. Er gehe davon aus, dass das bei der Klägerin vorliegende Krankheitsbild derart schwergradig sei, dass es sich erheblich auf ihre Lebensführung und -gestaltung auswirke. Wie sich der Anamnese entnehmen lasse, seien alle mit ihrer gutachtlichen Beurteilung befassten Kollegen bis vor zwei Jahren der gleichen Ansicht gewesen. Seiner Ansicht nach habe sich ihr Gesundheitszustand seitdem nicht nennenswert gebessert.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 25. Februar 2016 abgewiesen. Die Klägerin sei weder voll noch teilweise erwerbsgemindert. Sie könne die zuletzt ausgeübte Bürotätigkeit als IT-Kraft noch mindestens sechs Stunden arbeitstäglich ausüben. Dies ergebe sich aus dem Sachverständigengutachten des Prof. Dr. L. sowie dem im Verwaltungsverfahren bei Dr. L. eingeholten Gutachten. Auf Grund der psychogenen Durchfälle sowie der Angststörung bezogen auf die rechtzeitige Erreichbarkeit einer Toilette müsse die jederzeitige Erreichbarkeit einer Toilette gewährleistet sein. Eine Bürotätigkeit wie die zuletzt von der Klägerin ausgeübte Tätigkeit als IT-Fachkraft entspreche diesen Anforderungen. Die Klägerin habe auf Grund der Diarrhoen auch keinen ungewöhnlichen Pausenbedarf. Nach § 4 Arbeitszeitgesetz stehe vollschichtig tätigen Arbeitnehmern eine Ruhepause von 30 Minuten zu. Die Ruhepausen könne in Zeitabschnitte von jeweils mindestens 15 Minuten aufgeteilt werden. Diese Pausen könne die Klägerin für Toilettengänge nutzen. Über die nach dem Arbeitszeitgesetz vorgeschriebenen Pausen hinaus würden Arbeitnehmer in gewissem Umfang auch sogenannte Verteilzeiten zugestanden, welche ebenfalls für Toilettengänge genutzt werden könnten, weshalb ein unüblicher Pausenbedarf nicht vorliege.
Gegen das ihr am 29. Februar 2016 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 16. März 2016 Berufung eingelegt. Sie leide weiterhin an ausgeprägten abdominellen Beschwerden, die kolikartig aufträten und mit einer chronischen Diarrhoe verbunden seien. Sie müssen 10 bis 15mal täglich die Toilette aufsuchen. Um die Stuhlfrequenz zu reduzieren und die abdominellen Schmerzen zu lindern, sei sie auf die tägliche Einnahme von Medikamenten (Imodium, Novalgin Tropfen) angewiesen. In zeitlich größeren Abständen sei sogar die Einnahme von Opiaten (Opiumtinktur) notwendig. Sie befinde sich zeitweise auch in psychiatrischer Behandlung. Der Hausarzt verordne ein Antidepressivum (Amitriptylin), insbesondere auch um die langjährig bestehenden Schlafstörungen zu bessern. Während der Voruntersuchung und der Untersuchung bei Dr. L. habe sie mehrfach auf Toilette gehen müssen. Das Tragen von Einlagen habe sie probiert. Diese ermögliche ihr nicht den beschwerdefreien Weg. Sie müsse trotz allem halten usw. Es sei ein wässriger Durchfall. Dies schaffe selbst die Einlage nicht. Sie könne nicht mal problemlos zum Bäcker in ihrem Wohnort. Dies könne sich keiner vorstellen, der das nicht selbst erlebt habe. Natürlich gebe es Medikamente, die sie auch im Laufe der Zeit auch schon alle "durchhabe". Sie habe Spritzen bekommen, zum Beispiel Humira; das wirke leider nicht wie erhofft. Eine der Nebenwirkungen sei Schuppenflechte. Danach sei ihr Methotrexat gespritzt worden. Dies habe eine positive Wirkung, habe jedoch nach kurzer Zeit abgesetzt werden müssen, da die Leberwerte enorm angestiegen seien. Die Darmproblematik habe sie jeden Tag, jede Nacht. Dies beeinflusse alles. Danach richte sich jedes Tun und Handeln. Sie könne das Haus schon nicht einmal für zehn Minuten verlassen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 25. Februar 2016 aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 20. März 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juli 2014 zu verurteilen, ihr über den 30. April 2014 hinaus Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält an ihrer Auffassung fest. Sie hat sozialmedizinische Stellungnahmen des Dr. N. vom 6. September 2016 sowie des Dr. L. vom 12. September 2016 und vom 18. Dezember 2017 vorgelegt. Im Hinblick auf häufige Toilettengänge könne allenfalls die Frage von eventuell hierfür erforderlichen betriebsunüblichen Pause aufgeworfen werden. Hierzu verweise sie auf die Ausführungen im Urteil des SG, denen sie sich anschließe. Sie gehe nicht davon aus, dass auf Grund häufiger Toilettengänge eine Wegeunfähigkeit im rentenrechtlichen Sinne bestehe. Bisher habe weder die genaue Ursache der Durchfälle objektiviert werden können noch habe sich die Stuhlganghäufigkeit ausreichend quantifizieren lassen, um eine gesicherte Aussage hierzu treffen zu können. Die nicht aufgeklärte tatsächlich notwendige Anzahl der Toilettengänge gehe zu Lasten der Klägerin. Sie – die Beklagte – verweise auf das erstinstanzliche Gutachten von Dr. L., in dem angegeben werde, dass die zweistündige Untersuchung nicht durch einen Toilettengang habe unterbrochen werden müssen. Mehr als die tatsächliche Notwendigkeit von plötzlichen Toilettenpausen während der Fahrt mit dem eigenen PKW stehe die Angst der Klägerin, nicht rechtzeitig eine Toilette erreichen zu können, im Vordergrund. Bezüglich der Angstproblematik werde jedoch bereits seit Jahren von der Klägerin keine entsprechende ambulante Therapie durchgeführt. Diese wäre ihr ebenso zuzumuten wie das Tragen von entsprechenden Einlagen/Vorlagen für die Dauer der Fahrt zu und von einer als geeignet angesehenen Büroarbeitsstelle. Die Klägerin habe gegenüber Dr. L. auch angegeben, sie habe bei der Benutzung des privaten Personenkraftwagens Strategien entwickelt, wie die Ausarbeitung einer Route mit öffentlichen Toiletten. Darüber hinaus ließen sich die hauptsächlich morgens auftretenden Durchfälle nach Angaben der Klägerin durch Medikamenteneinnahme bessern und soweit steuern, dass sie ihren Alltag bewältigen könne. Sie – die Beklagte – gehe davon aus, dass es auch noch weitere medikamentöse Behandlungsoptionen geben dürfte.
Der Senat hat Dr. K. schriftlich als sachverständigen Zeugen befragt, der unter dem 27. Juli 2016 mitgeteilt hat, die Klägerin zuletzt im April 2013 gesehen zu haben.
Der Senat hat sodann auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 SGG Facharzt für Innere Medizin Dr. A. (Chefarzt der P.-Klinik K.) zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt. Dr. A. hat unter dem 17. September 2017 auf Grund einer Untersuchung der Klägerin während eines stationären Aufenthaltes vom 21. bis 23. August 2017 ein ärztliches Gutachten erstellt. Endoskopisch hätte sich weder makroskopisch noch mikroskopisch ein Hinweis auf einen akuten Schub bzw. eine floride Phase einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung, insbesondere eines Morbus Crohn, feststellen lassen. In der Dünndarmdiagnostik mittels MRT habe sich kein Hinweis auf einen akuten Befall ergeben, ebenso kein Hinweis auf eine infektiöse Genese der Diarrhoen. Die Klägerin leide seit Jahren unter chronischen Durchfällen unterschiedlicher Intensität und unter immer wiederkehrenden Bauchschmerzen. Sie behandle die Beschwerden symptomatisch, da eine definitive ursächliche Klärung und Behandlung der Beschwerden bislang nicht erfolgt sei. Für die Beschwerden der Klägerin lasse sich auch aktuell auf Grund der erfolgten Untersuchung keine sichere somatische Ursache finden. Insbesondere sei eine aktive chronisch entzündliche Darmerkrankung (CED) derzeit mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Der makroskopische Befund zeige in der Koloskopie postentzündliche Veränderungen wie bei einer CED in Remission. Andere somatische Ursachen seien durch die vorgenommenen Untersuchungen nicht gefunden worden. Auch die in der Vergangenheit zahlreich unternommenen medikamentösen Therapieversuche seien ohne durchgreifende oder zumindest spürbare und anhaltende Besserung der Beschwerden gewesen; sie machten eine bislang unerkannte somatische Ursache unwahrscheinlich. Ob es sich um ein ausgeprägtes Reizdarmsyndrom vom Schmerz- und Diarrhoetyp oder um eine autonome somatoforme Funktionsstörung des Intestinaltraktes handele, müsse offenbleiben, da es für keine der beiden Entitäten beweisende Befunde gebe, es sich hierbei vielmehr um Ausschlussdiagnosen handele. Um definitiv einen bislang unerkannten isolierten Dünndarmbefall durch ein Morbus Chron oder eine andere Dünndarmerkrankung auszuschließen oder nachzuweisen, empfehle er, auch im Hinblick auf den diagnostizierten Eisenmangel, die ambulante Durchführung einer Kapselendoskopie. Die Klägerin habe durch ihre gehäuft auftretenden Diarrhoen – unabhängig von ihrer Ursache – eine subjektive und objektive Beeinträchtigung ihrer Leistungsfähigkeit. Sie sei nach ihren Angaben nur eingeschränkt in der Lage, längere Zeit ihr häusliches Umfeld zu verlassen, da sie Angstgefühle habe, nicht rechtzeitig eine Toilette zu erreichen. Gleichwohl bedeuteten diese Einschränkungen nicht, dass die Klägerin, wenn bestimmte Bedingungen berücksichtigt und erfüllt werden könnten – dauerhaft arbeits- oder erwerbsunfähig sei. Als Umfeldbedingung sei ein wohnortnaher Arbeitsplatz erforderlich. Eine überwiegend sitzende Tätigkeit, wie es mit ihrer Qualifikation als Bürokraft im IT-Bereich möglich wäre, sei sinnvoll. Eine dauerhaft stehende, körperlich anstrengende Tätigkeit sei für die Klägerin nicht möglich. Ebenso sollte Nachtarbeit, Akkordarbeit, Zeitdruck und gehäufter Publikumsverkehr bzw. ständiger persönlicher Kundenkontakt vermieden werden. Die Arbeitsbedingungen müssten es der Klägerin ermöglichen, jederzeit schnell eine Toilette zu erreichen. Pausen müsse sie sich, je nach Stärke der klinischen Beschwerdesymptomatik, selbst einteilen können. Eine Arbeitszeit von täglich mindestens sechs Stunden sei möglich, wenn die genannten Bedingungen sicher und verlässlich erfüllt würden. Er empfehle eine schrittweise Eingliederung mit zunächst geringer Arbeitszeit zur Reduktion von Ängsten und um nach und nach Vertrauen in den eigenen Körper und die eigene Leistungsfähigkeit zu gewinnen. Auf Grund der Angstsymptomatik der Klägerin, nicht rechtzeitig eine Toilette erreichen zu können und damit verbundener möglicher Inkontinenz, sei das Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel zu Hauptverkehrszeiten problematisch. Ein zu Fuß oder mit dem PKW leicht erreichbarer Arbeitsplatz in der Nähe ihres Wohnortes sei wichtig. Das Zurücklegen einer Wegstrecke von viermal täglich mehr als 500 Metern sei möglich. Die Dauer der Beschwerden sowie das Fehlen einer relevanten ansprechenden etablierten Therapie ließen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit annehmen, dass es sich um gesundheitliche Beeinträchtigungen von Dauer handle, die lediglich durch symptomatische Behandlung so beeinflusst werden könnten, dass die Klägerin im Alltag mit diesen Einschränkungen zurechtkomme. Bislang hätten alle durchgeführten alternativen Behandlungsansätze (auch psychiatrische, psychotherapeutische und psychosomatische) nicht zu einer anhaltenden und durchgreifenden Besserung geführt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge, die Akte des SG im Verfahren S 13 R 5479/07 sowie die beigezogenen Akten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
1. Die gemäß § 143 SGG statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§ 124 Abs. 2 SGG), ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedarf insbesondere nicht der Zulassung, da die Klägerin die Gewährung von Leistungen für mehr als ein Jahr begehrt (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).
2. Die Berufung der Klägerin ist auch begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 20. März 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juli 2014 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung über den 30. April 2014 bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze hinaus.
a) Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze (insoweit mit Wirkung zum 1. Januar 2008 geändert durch Artikel 1 Nr. 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20. April 2007, BGBl. I, S. 554), wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).
Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit eines Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle in zumutbarer Zeit aufsuchen zu können. Hat – wie hier – der Versicherte keinen Arbeitsplatz und wird ihm ein solcher auch nicht angeboten, bemessen sich die Wegstrecken, deren Zurücklegung ihm möglich sein müssen, – auch in Anbetracht der Zumutbarkeit eines Umzugs – nach einem generalisierenden Maßstab, der zugleich den Bedürfnissen einer Massenverwaltung Rechnung trägt. Dabei wird angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel sowie vom Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle und zurück Fußwege absolvieren muss. Eine (volle) Erwerbsminderung setzt danach grundsätzlich voraus, dass der Versicherte nicht vier Mal am Tag Wegstrecken von über 500 Metern mit zumutbarem Zeitaufwand (also jeweils innerhalb von 20 Minuten) zu Fuß bewältigen und ferner zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann (so – auch zum Folgenden – BSG, Urteil vom 12. Dezember 2011 – B 13 R 79/11 R – juris Rdnr. 20 m.w.N.). Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Dazu gehört z.B. auch die zumutbare Benutzung eines eigenen Kraftfahrzeuges.
b) Nach diesen Maßstäben steht zur Überzeugung des Senats fest, dass bei der Klägerin volle Erwerbsminderung über den 30. April 2014 hinaus aufgrund fehlender Wegefähigkeit vorliegt. Ob die Klägerin auch hinsichtlich der beruflichen Leistungsfähigkeit in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt ist, kann daher dahinstehen.
Die Klägerin leidet unter anderem unter einer Funktionsstörung des unteren Verdauungstraktes in Form von Durchfällen mit bis zu 20 Stuhlgängen pro Tag (vgl. schriftliche sachverständige Zeugenaussage des Dr. B. vom 29. Januar 2015) und in diesem Zusammenhang unter einer spezifischen Angststörung bezogen auf die rechtzeitige Erreichbarkeit einer Toilette. Dies entnimmt der Senat insbesondere dem Gutachten des erstinstanzlich tätig gewordenen Sachverständigen Prof. Dr. L ... Dies entspricht im Wesentlichen auch dem Gutachten der Dr. H. vom 20. August 2010 unter Berücksichtigung des Zusatzgutachtens der Ärztin W.s vom 21. Juli 2010, die von einer autonomen somatoformen Störung des unteren Gastrointestinaltraktes ausgegangen sind; diese Gutachten kann der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwerten (etwa BSG, Beschluss vom 14. November 2013 – B 9 SB 10/13 B – juris Rdnr. 6; BSG, Urteil vom 5. Februar 2008 – B 2 U 8/07 R – juris Rdnr. 51). Auch Dr. L. hat in seinem Gutachten vom 18. März 2014 psychogene Durchfälle diagnostiziert. Bestätigt wird diese Diagnose durch das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. A. vom 17. September 2017, der lediglich offengelassen hat, ob ein Reizdarmsyndrom vom Schmerz- und Diarrhoetyp oder eine autonome Funktionsstörung des Intestinaltraktes vorliegt. Mit Ausnahme von Dr. L. sind auch alle genannten Ärzte davon ausgegangen, dass diese Funktionsstörung dazu führt, dass der Klägerin jederzeit ein Zugang zu einer Toilette möglich sein muss; hiervon ist im Übrigen auch das SG im angegriffenen Urteil ausdrücklich ausgegangen.
Soweit Dr. L. in seinem Gutachten vom 18. März 2014 demgegenüber ausgeführt hat, eine "normale Toilettenverfügbarkeit" sei ausreichend, ist dies eine Einzelmeinung geblieben. Es lässt sich auch nicht mit den von ihm dokumentierten Äußerungen der Klägerin in Einklang bringen, nach denen ein permanenter wässriger Durchfall bestehe. Die Nichtverwendung von Slipeinlagen wird von Dr. L. zwar kritisch bemerkt; offenbar hat er im Gespräch mit der Klägerin aber nicht weiter geklärt, ob diese Nichtverwendung auf mangelnder Notwendigkeit oder mangelnder Eignung beruht.
Ob die Funktionsstörung des unteren Verdauungstraktes (inzwischen) ausschließlich somatoformer Genese ist oder auch eine körperliche Ursache hat, kann dabei dahinstehen, da es aus rentenversicherungsrechtlicher Hinsicht auf die Funktionsstörung ankommt, grundsätzlich aber nicht auf deren ätiologischen Befund. Insbesondere kann der Klägerin nicht gleichsam entgegengehalten werden, dass sich eine Darmerkrankung, etwa Morbus Crohn oder eine Colitis ulcerosa, zumindest zuletzt histologisch nicht nachweisen ließ. Dr. A. hat zwar zum Zeitpunkt seiner Untersuchung (21. bis 23. August 2017) keine sichere somatische Ursache finden können; der makroskopische Befund zeigte in der Koloskopie allerdings postentzündliche Veränderungen wie bei einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung in Remission.
Der Senat ist daher überzeugt, dass es der Klägerin nicht in zumutbarer Weise möglich ist, eine Arbeitsstätte aufzusuchen. Angesichts der Notwendigkeit, jederzeit eine Toilette aufsuchen zu müssen, kann sie nicht auf die Verwendung öffentliche Verkehrsmittel verwiesen werden, da diese entweder (etwa Busse oder Straßenbahnen) gar keine Toiletten oder (etwa Regionalverkehrszüge) Toiletten nicht in quantitativ ausreichender und funktionell zuverlässiger Weise haben. Auch die gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. L., Dr. D. und Dr. A. sind davon ausgegangen, dass die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel "nicht zu empfehlen", "nicht zuzumuten" bzw. "problematisch" sei. Die Möglichkeit der Klägerin, eine Wegstrecke von 500 Metern zu Fuß zurückzulegen, reicht für die Wegefähigkeit nicht aus, da das Zurücklegen einer solchen Wegstrecke gerade nur dem Aufsuchen der nächsten Haltestelle öffentlicher Verkehrsmittel dient.
Die Klägerin kann auch nicht zumutbar auf die Nutzung eines Personenkraftwagens verwiesen werden. Die Notwendigkeit, dass die Klägerin jederzeit kurzfristig eine Toilette aufsuchen können muss, ist bei realistischer Betrachtung auch dann nicht gegeben, selbst wenn man etwa Toiletten bei Tankstellen mitberücksichtigt. Weder ist es gewährleistet, dass auf jedem Arbeitsweg in entsprechend notwendigen kurzen Abständen eine Tankstelle mit für die Öffentlichkeit zugänglicher Toilette verfügbar ist, noch dass diese von der Klägerin – auch unter Berücksichtigung der gerade in den Hauptberufsverkehrszeiten regelmäßigen Verkehrsstörungen – mit der notwendigen Zuverlässigkeit kurzfristig erreicht werden können.
Entsprechend ist auch die entwickelte spezifische Angststörung bezogen auf die rechtzeitige Erreichbarkeit einer Toilette, die Prof. Dr. L. diagnostiziert hat, durchaus plausibel. Der Einwand der Beklagten, die psychische Störung der Klägerin sei bislang nicht hinreichend behandelt worden, greift daher zu kurz. Die Beklagte berücksichtigt nicht, dass die psychische Störung mit einem objektiven körperlichen Symptom korrespondiert, das durch eine entsprechende psychiatrische Behandlung nicht beseitigt werden kann. Mit anderen Worten: Die Angst, eine Toilette nicht rechtzeitig aufsuchen zu können, kann nicht mit Mitteln der Psychotherapie oder durch medikamentöse Behandlung beseitigt werden, soweit die reale Notwendigkeit, eine Toilette ggf. sehr kurzfristig aufsuchen zu müssen, fortbesteht.
Die Möglichkeit, die Notwendigkeit, kurzfristig eine Toilette aufsuchen zu müssen, durch symptombezogene Medikamente zu reduzieren, besteht zur Überzeugung des Senats in dem für die Bejahung der Wegefähigkeit notwendigen Umfang nicht. Zwar mag in Einzelfällen die Einnahme entsprechender Medikamente erfolgreich und zumutbar sein, nicht aber in dem für die Wegefähigkeit notwendigen Ausmaß von fünf Tagen pro Woche jeweils für den Hin- und Rückweg von und zur Arbeitsstelle. Die Klägerin hat insofern auch plausibel vorgetragen, dass die bisherigen Versuche im Ergebnis gescheitert sind. Sowohl die Verwendung von Hamira als auch von Methotrexat führten zu Nebenwirkungen (Schuppenflechte bzw. Verschlechterung der Leberwerte). Die Einnahme von Opioden, die ebenfalls zeitweise erfolgt ist, dürfte im Übrigen wegen der Suchtgefahr nicht zumutbar sein.
Die Einschränkung der Wegefähigkeit kann schließlich nicht durch den Verweis auf die Nutzung von Einlagen/Vorlagen beseitigt werden. Insofern ist für den Senat ohne Weiteres plausibel, dass die Nutzung von Einlagen/Vorlagen bei Stuhlinkontinenz – anders als unter Umständen etwa bei Harninkontinenz – einem Versicherten nicht zumutbar ist, zumal wenn er sich nicht etwa auf dem Weg nach Hause mit der Möglichkeit anschließender Hygienemaßnahmen, sondern auf dem Weg zur Arbeitsstätte befindet.
Die Annahme, dass die Klägerin aus den dargestellten Gründen nicht wegefähig ist, ist auch mit Blick auf ihre Angaben zur Gestaltung des alltäglichen Lebens plausibel. So hat sie gegenüber dem Sachverständigen Prof. Dr. L. angegeben, dass zwar Freunde zu Besuch kämen, ihr dies aber lieber sei, als diese zu besuchen, da sie dann jederzeit auf verfügbare Toiletten zurückgreifen könne. Auch hat die Klägerin bei diesem Sachverständigen angegeben, nicht in Urlaub zu fahren; einmal sei ein bereits gebuchter Urlaub noch während der Anfahrt abgebrochen worden wegen ihrer Ängste, nicht rechtzeitig Toiletten erreichen zu können. Gegenüber dem Sachverständigen Dr. D. hat die Klägerin angegeben, dass es ihr immer häufiger nicht gelinge, ihren Sohn in den in der Nähe gelegenen Kindergarten zu bringen und von dort abzuholen; dann erfolge dies durch eine Nachbarin, deren Kind ebenfalls diesen Kindergarten besuche. Sofern ihr Sohn eigene Freunde besuche, würde er in aller Regeln von deren Eltern abgeholt, weil sie ihn beschwerdebedingt kaum zu seinen Freunden bringen könne. Die Einkäufe werden nach ihren Angaben allein von ihrem Mann erledigt. Auch Freizeitaktivitäten außerhalb der eigenen Wohnung werden nicht berichtet. Dr. D. hat schließlich auch mitgeteilt, dass die Klägerin vor und während der Exploration insgesamt fünf Mal die Toilette aufgesucht habe.
c) Dass die Klägerin die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 43 Abs. 2 Satz1 Nr. 2 und Nr. 3, Abs. 4 SGB VI erfüllt, ist zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig. Im Zeitraum vom 7. Dezember 1997 bis zum 6. Dezember 2002 (vgl. zur Berechnung des Fünf-Jahres-Zeitraumes Freudenberg in jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 Rdnr. 264 ff.) weist das Versicherungskonto der Klägerin 56 Monate mit Pflichtbeitragszeiten auf. Dies ergibt sich im Übrigen bereits daraus, dass die Beklagte der Klägerin Rente wegen Erwerbsminderung bereits seit dem 1. Juli 2003 bis zum Beginn des hier streitigen Zeitraums gewährt hat. Die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen müssen nicht bei Beginn des jeweiligen Bewilligungszeitraums vorliegen, sondern bei Beginn der Erwerbsminderung, die hier bereits nach dem bestandskräftigen und die Beteiligten bindenden (§ 77 SGG) Bescheid vom 4. Februar 2004 am 7. Dezember 2002 vorgelegen hat.
d) Die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist unbefristet zu leisten.
aa) Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGB VI auf Zeit geleistet. Die Befristung erfolgt für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn (§ 102 Abs. 2 Satz 2 SGB V). Sie kann verlängert werden; dabei verbleibt es bei dem ursprünglichen Rentenbeginn (§ 102 Abs. 2 Satz 3 SGB VI). Verlängerungen erfolgen für längstens drei Jahre nach dem Ablauf der vorherigen Frist (§ 102 Abs. 2 Satz 4 SGB VI). Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann; hiervon ist nach einer Gesamtdauer der Befristung von neun Jahren auszugehen (§ 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI).
bb) Nach diesen Maßstäben kommt eine Befristung nicht in Betracht. Die der Klägerin zustehende Rente ist unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage. Es ist zudem davon auszugehen, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht behoben werden kann, nachdem ihr bislang über mehr als neun Jahre (vom 1. Juli 2003 bis 30. April 2014) befristete Rente wegen Erwerbsminderung gewährt worden war.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
4. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 20. März 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juli 2014 verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung über den 30. April 2014 hinaus bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze zu gewähren.
Die Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Weitergewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung über den 30. April 2014 hinaus.
Die Klägerin ist 1979 geboren. Sie hat eine Ausbildung zur Briefzustellerin absolviert. Im Jahr 2000 erfolgte eine Umschulung zur IT-Fachkraft. Sie bezog vom 1. Juli 2003 bis zum 30. April 2014 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. So bewilligte ihr die Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden einheitlich: die Beklagte) zunächst mit Bescheid vom 4. Februar 2004 aufgrund eines Leistungsfalles vom 7. Dezember 2002 Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1. Juli 2003 bis zum 31. Dezember 2005. In der Folgezeit wurde die Bewilligung jeweils befristet erneuert (Bescheid vom 21. Dezember 2006: Weiterbewilligung bis zum 31. Januar 2007; Bescheid vom 31. Januar 2007: Weiterbewilligung bis zum 31. März 2007; nach Vergleichsschluss im Verfahren S 13 R 5479/07 beim Sozialgericht Karlsruhe [SG] Bescheid vom 30. November 2009 Weiterbewilligung bis zum 30. September 2010; Bescheid vom 24. August 2010: Weiterbewilligung bis zum 30. September 2012; Bescheid vom 27. Juli 2012: Weiterbewilligung bis zum 31. Juli 2013; Bescheid vom 2. Mai 2013: Weiterbewilligung bis zum 30. April 2014; Bescheid vom 4. Dezember 2014: Neuberechnung für die Zeit vom 1. Februar 2010 bis zum 30. April 2014).
Im Auftrag der Beklagten hatte die Ärztin für Psychiatrie Dr. H. auf Grund einer Untersuchung der Klägerin vom 20. Juli 2010 unter dem 20. August 2010 unter Berücksichtigung eines Zusatzgutachtens der Fachärztin für Innere Medizin W. (vom 21. Juli 2010 auf Grund einer Untersuchung der Klägerin vom 20. Juli 2010) ein ärztliches Gutachten erstellt. Sie diagnostizierte eine autonome somatoforme Störung des unteren Gastrointestinaltraktes (psychogenes Colon irritabile und psychogene Diarrhoe) im Sinne einer chronischen Darmerkrankung bei bekannter Fructose- und Lactoseintoleranz (histologisch bis dato kein beweisender Befund passend zu Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa) auf dem Boden einer frühen, komplexen psychischen Störung mit emotional instabilen, narzisstischen und histrionischen Zügen und dissoziativer Abspaltung, Störungen durch Opioide, schädlichem Gebrauch und/oder Abhängigkeit sowie leichte Adipositas ohne Zeichen der Malabsorption. Die Klägerin sei in der Lage, leichte Tätigkeiten ohne erhöhtes Konfliktpotential und Stressbelastung ohne Zeitdruck und Publikumsverkehr drei bis unter sechs Stunden auszuführen. Dabei müsse ein Zugang zur Toilette jederzeit möglich sein. Bei dem seit Jahren unveränderten psychischen und somatischen Befund und der sicherlich komplexen und schweren Persönlichkeitsstrukturstörung sehe sie auch weiterhin nur ein unter vollschichtiges Leistungsvermögen für leidensgerechte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes.
Die Klägerin beantragte am 11. Dezember 2013 die Weitergewährung der Rente wegen Erwerbsminderung über den 30. April 2014 hinaus.
Im Auftrag der Beklagten erstellte Facharzt für Innere Medizin und Rheumatologie Dr. L. auf Grund einer Untersuchung der Klägerin vom 11. März 2014 unter dem 18. März 2014 ein ärztliches Gutachten. Er diagnostizierte psychogene Durchfälle und Bauchschmerzen (unter gut vertragener Therapie leichtgradig), eine vorbefundlich psychiatrisch komplexe psychische Störung mit emotional instabilen narzisstischen und histrionischen Zügen (aktuell nicht mehr therapiebedürftig) sowie vorbefundlich Störungen durch Opioide, schädlichen Gebrauch und/oder Abhängigkeit ohne aktuell Hinweise auf schädlichen Gebrauch oder Abhängigkeit, eine leichtgradige Speiseröhrenentzündung sowie Adipositas. Der behandelnde Gastroenterologe habe nach den letzten Spiegelungen des Magen-Darm-Traktes 2012 mitgeteilt, dass sich für das Vorliegen einer chronischen entzündlichen Darmerkrankung kein Anhalt mehr ergebe. Ein leistungsmindernder Ausprägungsgrad der Beschwerden sei im Rahmen der Begutachtung nicht mehr zu objektivieren gewesen. Selbst auf einfache Hygieneartikel (Slipeinlagen) könne die Klägerin verzichten. Die Schmerzmittel würden von ihr selbst gut wirksam und gut verträglich gewertet. Es handele sich um leichte Schmerzmittel. Ein zur Darmregulierung verordnetes Opiat sei nur einmalig in minimaler Dosis eingenommen worden. Auch der psychische Zustand habe sich wesentlich gebessert und die Klägerin halte sich auch selbst nicht mehr für behandlungsbedürftig. Die Klägerin könne mittelschwere Tätigkeiten qualitativ uneingeschränkt verrichten. Auf Grund vorbestehender psychischer Erkrankung wären lediglich Tätigkeiten mit Nachtschicht oder mit sonstigen besonderen psychischen Belastungsfaktoren nicht leidensgerecht. Im Übrigen sei die Klägerin psychisch wieder normal belastbar. Aus gutachterlicher Sicht sei eine normale Toilettenverfügbarkeit ausreichend. Spezielle Arbeitsbedingungen seien nicht erforderlich. Das Gehvermögen sei nicht eingeschränkt.
Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 20. März 2014 ab. Die Klägerin könne wieder mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein.
Gegen den Bescheid vom 20. März 2014 erhob die Klägerin am 7. April 2014 Widerspruch. Ihre Ausdauer und ihr Durchhaltevermögen sei beeinträchtigt. Im Hinblick auf die Darmerkrankung seien betriebsunübliche Pausen erforderlich.
Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 20. März 2014 mit Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 2014 zurück. Die Klägerin könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mehr als sechs Stunden täglich arbeiten.
Die Klägerin hat am 22. Juli 2014 beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) Klage erhoben. Sie hat die Auffassung vertreten, dass ihr Gesundheitszustand unverändert sei und ein unter sechsstündiges Leistungsvermögen vorliege.
Das SG hat zunächst die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen befragt. Der Gastroenterologe Dr. K. hat unter dem 1. Oktober 2014 mitgeteilt, die Klägerin zuletzt im April 2013 gesehen zu haben und daher zum aktuellen Gesundheitszustand keine Stellung nehmen zu können. Facharzt für Orthopädie Dr. K. hat unter dem 8. Oktober 2014 über Behandlungen der Klägerin bis zum 18. September 2013 berichtet. Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. G. hat unter dem 23. Oktober 2014 die Auffassung vertreten, die Klägerin könne auf Grund der von ihr geschilderten Beschwerden nicht mehr sechs Stunden täglich tätig sein. Sie könne – wenn überhaupt – einer Tätigkeit von maximal zwei bis drei Stunden nachgehen, jedoch sei selbst diese Stundenanzahl in Exerbationszeiten der Diarrhoe unmöglich. Die Klägerin leide unter täglichen Bauchschmerzen und Durchfällen verbunden mit Übelkeit. Arzt für Allgemeinmedizin Dr. B. hat unter dem 29. Januar 2015 mitgeteilt, dass die Klägerin bei ihm letztmals am 22. Juli 2014 in Behandlung gewesen sei. In der Zeit bis dahin sehe er keine mindestens sechsstündige tägliche Belastbarkeit. Grund hierfür seien die ständig wiederkehrenden Bauchschmerzen und der dranghafte Stuhlgang mit bis zu 20-mal pro Tag. Die Klägerin könne ca. zwei bis drei Stunden unter der Voraussetzung, dass sie mehrmals die Toilette aufsuchen könne, arbeiten.
Die Beklagte ist der Klage unter Vorlage sozialmedizinischer Stellungnahmen des Dr. L. vom 16. März 2015 sowie des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. N. vom 23. Dezember 2015 entgegengetreten.
Das SG hat Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. L. (Chefarzt der Neurologischen Klinik des M. Reha-Zentrum G.) von Amts wegen zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt. Dieser erstattete auf Grund einer Untersuchung der Klägerin vom 6. August 2015 unter dem 7. August 2015 ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten. Er diagnostizierte auf seinem Fachgebiet eine Persönlichkeitsstörung im Sinne einer histrionischen Primärpersönlichkeit, eine somatoforme Funktionsstörung des unteren Verdauungstraktes sowie eine spezifische Angststörung bezogen auf die rechtzeitige Erreichbarkeit einer Toilette. Bezogen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt sei eine vollschichtige Arbeitstätigkeit unter Beachtung qualitativer Einschränkungen zumutbar. Auf Grund der genannten Diagnosen seien Tätigkeiten, die mit stärkerer psychischer und seelischer Belastbarkeit verknüpft seien, nicht zumutbar. Dazu gehörten auch Tätigkeiten mit direktem Kundenkontakt. Im Rahmen der psychosomatischen Besonderheiten müsse jederzeit die Erreichbarkeit einer Toilette gewährleistet sein. Unter diesen Voraussetzungen sei eine leichte überwiegend sitzende Tätigkeiten ohne zeitliche Einschränkungen zumutbar. Bei ungestörten motorischen Funktionen könne eine Wegstrecke von 500 Metern in adäquater Weise zurückgelegt werden. Wegen der panikartigen Attacken bei fehlender Erreichbarkeit einer Toilette seien öffentliche Verkehrsmittel weiterhin nicht zu empfehlen. Die Benutzung eines privaten Personenkraftwagens sei nicht relevant eingeschränkt. Die Klägerin habe diesbezüglich bereits Strategien entwickelt, wie die Ausarbeitung einer Route mit öffentlichen Toiletten, wie sie beispielsweise in Tankstellen zur Verfügung stünden.
Sodann hat das SG auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. D. zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt. Dieser erstattete am 14. Dezember 2015 ein nervenärztliches Gutachten. Er diagnostizierte eine anhaltende autonome somatoforme Störung schweren Grades. Die Klägerin sei krankheitsbedingt weniger als drei Stunden täglich beruflich leistungsfähig. Die bei ihr vorliegende psychische Erkrankung sei mittlerweile chronifiziert. Mit den heute zur Verfügung stehenden therapeutischen Möglichkeiten sei sie deshalb voraussichtlich nicht mehr durchgreifend zu bessern, so dass die daraus resultierende Einschränkung ihres beruflichen Leistungsvermögens ebenfalls Dauercharakter habe. Trotz ihrer Erkrankung sei die Klägerin in der Lage, viermal am Tag 500 Meter zu Fuß in weniger als 20 Minuten zurückzulegen. Danach sollte eine Toilette erreichbar sein. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei ihr auf Grund ihrer Beschwerden nicht zuzumuten. Aus dem gleichen Grunde seien ihr längere Autofahrten über eine halbe Stunde nicht zumutbar. Die Feststellung, dass sich bei der Klägerin keine entzündliche Darmerkrankung im eigentlichen Sinne habe nachweisen lassen, spreche nicht gegen diese Feststellung. Sie bestätige lediglich, dass das Beschwerdebild psychogen bedingt und damit Ausdruck einer somatoformen Störung sei. Er gehe davon aus, dass das bei der Klägerin vorliegende Krankheitsbild derart schwergradig sei, dass es sich erheblich auf ihre Lebensführung und -gestaltung auswirke. Wie sich der Anamnese entnehmen lasse, seien alle mit ihrer gutachtlichen Beurteilung befassten Kollegen bis vor zwei Jahren der gleichen Ansicht gewesen. Seiner Ansicht nach habe sich ihr Gesundheitszustand seitdem nicht nennenswert gebessert.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 25. Februar 2016 abgewiesen. Die Klägerin sei weder voll noch teilweise erwerbsgemindert. Sie könne die zuletzt ausgeübte Bürotätigkeit als IT-Kraft noch mindestens sechs Stunden arbeitstäglich ausüben. Dies ergebe sich aus dem Sachverständigengutachten des Prof. Dr. L. sowie dem im Verwaltungsverfahren bei Dr. L. eingeholten Gutachten. Auf Grund der psychogenen Durchfälle sowie der Angststörung bezogen auf die rechtzeitige Erreichbarkeit einer Toilette müsse die jederzeitige Erreichbarkeit einer Toilette gewährleistet sein. Eine Bürotätigkeit wie die zuletzt von der Klägerin ausgeübte Tätigkeit als IT-Fachkraft entspreche diesen Anforderungen. Die Klägerin habe auf Grund der Diarrhoen auch keinen ungewöhnlichen Pausenbedarf. Nach § 4 Arbeitszeitgesetz stehe vollschichtig tätigen Arbeitnehmern eine Ruhepause von 30 Minuten zu. Die Ruhepausen könne in Zeitabschnitte von jeweils mindestens 15 Minuten aufgeteilt werden. Diese Pausen könne die Klägerin für Toilettengänge nutzen. Über die nach dem Arbeitszeitgesetz vorgeschriebenen Pausen hinaus würden Arbeitnehmer in gewissem Umfang auch sogenannte Verteilzeiten zugestanden, welche ebenfalls für Toilettengänge genutzt werden könnten, weshalb ein unüblicher Pausenbedarf nicht vorliege.
Gegen das ihr am 29. Februar 2016 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 16. März 2016 Berufung eingelegt. Sie leide weiterhin an ausgeprägten abdominellen Beschwerden, die kolikartig aufträten und mit einer chronischen Diarrhoe verbunden seien. Sie müssen 10 bis 15mal täglich die Toilette aufsuchen. Um die Stuhlfrequenz zu reduzieren und die abdominellen Schmerzen zu lindern, sei sie auf die tägliche Einnahme von Medikamenten (Imodium, Novalgin Tropfen) angewiesen. In zeitlich größeren Abständen sei sogar die Einnahme von Opiaten (Opiumtinktur) notwendig. Sie befinde sich zeitweise auch in psychiatrischer Behandlung. Der Hausarzt verordne ein Antidepressivum (Amitriptylin), insbesondere auch um die langjährig bestehenden Schlafstörungen zu bessern. Während der Voruntersuchung und der Untersuchung bei Dr. L. habe sie mehrfach auf Toilette gehen müssen. Das Tragen von Einlagen habe sie probiert. Diese ermögliche ihr nicht den beschwerdefreien Weg. Sie müsse trotz allem halten usw. Es sei ein wässriger Durchfall. Dies schaffe selbst die Einlage nicht. Sie könne nicht mal problemlos zum Bäcker in ihrem Wohnort. Dies könne sich keiner vorstellen, der das nicht selbst erlebt habe. Natürlich gebe es Medikamente, die sie auch im Laufe der Zeit auch schon alle "durchhabe". Sie habe Spritzen bekommen, zum Beispiel Humira; das wirke leider nicht wie erhofft. Eine der Nebenwirkungen sei Schuppenflechte. Danach sei ihr Methotrexat gespritzt worden. Dies habe eine positive Wirkung, habe jedoch nach kurzer Zeit abgesetzt werden müssen, da die Leberwerte enorm angestiegen seien. Die Darmproblematik habe sie jeden Tag, jede Nacht. Dies beeinflusse alles. Danach richte sich jedes Tun und Handeln. Sie könne das Haus schon nicht einmal für zehn Minuten verlassen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 25. Februar 2016 aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 20. März 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juli 2014 zu verurteilen, ihr über den 30. April 2014 hinaus Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält an ihrer Auffassung fest. Sie hat sozialmedizinische Stellungnahmen des Dr. N. vom 6. September 2016 sowie des Dr. L. vom 12. September 2016 und vom 18. Dezember 2017 vorgelegt. Im Hinblick auf häufige Toilettengänge könne allenfalls die Frage von eventuell hierfür erforderlichen betriebsunüblichen Pause aufgeworfen werden. Hierzu verweise sie auf die Ausführungen im Urteil des SG, denen sie sich anschließe. Sie gehe nicht davon aus, dass auf Grund häufiger Toilettengänge eine Wegeunfähigkeit im rentenrechtlichen Sinne bestehe. Bisher habe weder die genaue Ursache der Durchfälle objektiviert werden können noch habe sich die Stuhlganghäufigkeit ausreichend quantifizieren lassen, um eine gesicherte Aussage hierzu treffen zu können. Die nicht aufgeklärte tatsächlich notwendige Anzahl der Toilettengänge gehe zu Lasten der Klägerin. Sie – die Beklagte – verweise auf das erstinstanzliche Gutachten von Dr. L., in dem angegeben werde, dass die zweistündige Untersuchung nicht durch einen Toilettengang habe unterbrochen werden müssen. Mehr als die tatsächliche Notwendigkeit von plötzlichen Toilettenpausen während der Fahrt mit dem eigenen PKW stehe die Angst der Klägerin, nicht rechtzeitig eine Toilette erreichen zu können, im Vordergrund. Bezüglich der Angstproblematik werde jedoch bereits seit Jahren von der Klägerin keine entsprechende ambulante Therapie durchgeführt. Diese wäre ihr ebenso zuzumuten wie das Tragen von entsprechenden Einlagen/Vorlagen für die Dauer der Fahrt zu und von einer als geeignet angesehenen Büroarbeitsstelle. Die Klägerin habe gegenüber Dr. L. auch angegeben, sie habe bei der Benutzung des privaten Personenkraftwagens Strategien entwickelt, wie die Ausarbeitung einer Route mit öffentlichen Toiletten. Darüber hinaus ließen sich die hauptsächlich morgens auftretenden Durchfälle nach Angaben der Klägerin durch Medikamenteneinnahme bessern und soweit steuern, dass sie ihren Alltag bewältigen könne. Sie – die Beklagte – gehe davon aus, dass es auch noch weitere medikamentöse Behandlungsoptionen geben dürfte.
Der Senat hat Dr. K. schriftlich als sachverständigen Zeugen befragt, der unter dem 27. Juli 2016 mitgeteilt hat, die Klägerin zuletzt im April 2013 gesehen zu haben.
Der Senat hat sodann auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 SGG Facharzt für Innere Medizin Dr. A. (Chefarzt der P.-Klinik K.) zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt. Dr. A. hat unter dem 17. September 2017 auf Grund einer Untersuchung der Klägerin während eines stationären Aufenthaltes vom 21. bis 23. August 2017 ein ärztliches Gutachten erstellt. Endoskopisch hätte sich weder makroskopisch noch mikroskopisch ein Hinweis auf einen akuten Schub bzw. eine floride Phase einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung, insbesondere eines Morbus Crohn, feststellen lassen. In der Dünndarmdiagnostik mittels MRT habe sich kein Hinweis auf einen akuten Befall ergeben, ebenso kein Hinweis auf eine infektiöse Genese der Diarrhoen. Die Klägerin leide seit Jahren unter chronischen Durchfällen unterschiedlicher Intensität und unter immer wiederkehrenden Bauchschmerzen. Sie behandle die Beschwerden symptomatisch, da eine definitive ursächliche Klärung und Behandlung der Beschwerden bislang nicht erfolgt sei. Für die Beschwerden der Klägerin lasse sich auch aktuell auf Grund der erfolgten Untersuchung keine sichere somatische Ursache finden. Insbesondere sei eine aktive chronisch entzündliche Darmerkrankung (CED) derzeit mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Der makroskopische Befund zeige in der Koloskopie postentzündliche Veränderungen wie bei einer CED in Remission. Andere somatische Ursachen seien durch die vorgenommenen Untersuchungen nicht gefunden worden. Auch die in der Vergangenheit zahlreich unternommenen medikamentösen Therapieversuche seien ohne durchgreifende oder zumindest spürbare und anhaltende Besserung der Beschwerden gewesen; sie machten eine bislang unerkannte somatische Ursache unwahrscheinlich. Ob es sich um ein ausgeprägtes Reizdarmsyndrom vom Schmerz- und Diarrhoetyp oder um eine autonome somatoforme Funktionsstörung des Intestinaltraktes handele, müsse offenbleiben, da es für keine der beiden Entitäten beweisende Befunde gebe, es sich hierbei vielmehr um Ausschlussdiagnosen handele. Um definitiv einen bislang unerkannten isolierten Dünndarmbefall durch ein Morbus Chron oder eine andere Dünndarmerkrankung auszuschließen oder nachzuweisen, empfehle er, auch im Hinblick auf den diagnostizierten Eisenmangel, die ambulante Durchführung einer Kapselendoskopie. Die Klägerin habe durch ihre gehäuft auftretenden Diarrhoen – unabhängig von ihrer Ursache – eine subjektive und objektive Beeinträchtigung ihrer Leistungsfähigkeit. Sie sei nach ihren Angaben nur eingeschränkt in der Lage, längere Zeit ihr häusliches Umfeld zu verlassen, da sie Angstgefühle habe, nicht rechtzeitig eine Toilette zu erreichen. Gleichwohl bedeuteten diese Einschränkungen nicht, dass die Klägerin, wenn bestimmte Bedingungen berücksichtigt und erfüllt werden könnten – dauerhaft arbeits- oder erwerbsunfähig sei. Als Umfeldbedingung sei ein wohnortnaher Arbeitsplatz erforderlich. Eine überwiegend sitzende Tätigkeit, wie es mit ihrer Qualifikation als Bürokraft im IT-Bereich möglich wäre, sei sinnvoll. Eine dauerhaft stehende, körperlich anstrengende Tätigkeit sei für die Klägerin nicht möglich. Ebenso sollte Nachtarbeit, Akkordarbeit, Zeitdruck und gehäufter Publikumsverkehr bzw. ständiger persönlicher Kundenkontakt vermieden werden. Die Arbeitsbedingungen müssten es der Klägerin ermöglichen, jederzeit schnell eine Toilette zu erreichen. Pausen müsse sie sich, je nach Stärke der klinischen Beschwerdesymptomatik, selbst einteilen können. Eine Arbeitszeit von täglich mindestens sechs Stunden sei möglich, wenn die genannten Bedingungen sicher und verlässlich erfüllt würden. Er empfehle eine schrittweise Eingliederung mit zunächst geringer Arbeitszeit zur Reduktion von Ängsten und um nach und nach Vertrauen in den eigenen Körper und die eigene Leistungsfähigkeit zu gewinnen. Auf Grund der Angstsymptomatik der Klägerin, nicht rechtzeitig eine Toilette erreichen zu können und damit verbundener möglicher Inkontinenz, sei das Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel zu Hauptverkehrszeiten problematisch. Ein zu Fuß oder mit dem PKW leicht erreichbarer Arbeitsplatz in der Nähe ihres Wohnortes sei wichtig. Das Zurücklegen einer Wegstrecke von viermal täglich mehr als 500 Metern sei möglich. Die Dauer der Beschwerden sowie das Fehlen einer relevanten ansprechenden etablierten Therapie ließen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit annehmen, dass es sich um gesundheitliche Beeinträchtigungen von Dauer handle, die lediglich durch symptomatische Behandlung so beeinflusst werden könnten, dass die Klägerin im Alltag mit diesen Einschränkungen zurechtkomme. Bislang hätten alle durchgeführten alternativen Behandlungsansätze (auch psychiatrische, psychotherapeutische und psychosomatische) nicht zu einer anhaltenden und durchgreifenden Besserung geführt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge, die Akte des SG im Verfahren S 13 R 5479/07 sowie die beigezogenen Akten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
1. Die gemäß § 143 SGG statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§ 124 Abs. 2 SGG), ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedarf insbesondere nicht der Zulassung, da die Klägerin die Gewährung von Leistungen für mehr als ein Jahr begehrt (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).
2. Die Berufung der Klägerin ist auch begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 20. März 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juli 2014 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung über den 30. April 2014 bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze hinaus.
a) Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze (insoweit mit Wirkung zum 1. Januar 2008 geändert durch Artikel 1 Nr. 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20. April 2007, BGBl. I, S. 554), wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).
Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit eines Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle in zumutbarer Zeit aufsuchen zu können. Hat – wie hier – der Versicherte keinen Arbeitsplatz und wird ihm ein solcher auch nicht angeboten, bemessen sich die Wegstrecken, deren Zurücklegung ihm möglich sein müssen, – auch in Anbetracht der Zumutbarkeit eines Umzugs – nach einem generalisierenden Maßstab, der zugleich den Bedürfnissen einer Massenverwaltung Rechnung trägt. Dabei wird angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel sowie vom Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle und zurück Fußwege absolvieren muss. Eine (volle) Erwerbsminderung setzt danach grundsätzlich voraus, dass der Versicherte nicht vier Mal am Tag Wegstrecken von über 500 Metern mit zumutbarem Zeitaufwand (also jeweils innerhalb von 20 Minuten) zu Fuß bewältigen und ferner zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann (so – auch zum Folgenden – BSG, Urteil vom 12. Dezember 2011 – B 13 R 79/11 R – juris Rdnr. 20 m.w.N.). Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Dazu gehört z.B. auch die zumutbare Benutzung eines eigenen Kraftfahrzeuges.
b) Nach diesen Maßstäben steht zur Überzeugung des Senats fest, dass bei der Klägerin volle Erwerbsminderung über den 30. April 2014 hinaus aufgrund fehlender Wegefähigkeit vorliegt. Ob die Klägerin auch hinsichtlich der beruflichen Leistungsfähigkeit in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt ist, kann daher dahinstehen.
Die Klägerin leidet unter anderem unter einer Funktionsstörung des unteren Verdauungstraktes in Form von Durchfällen mit bis zu 20 Stuhlgängen pro Tag (vgl. schriftliche sachverständige Zeugenaussage des Dr. B. vom 29. Januar 2015) und in diesem Zusammenhang unter einer spezifischen Angststörung bezogen auf die rechtzeitige Erreichbarkeit einer Toilette. Dies entnimmt der Senat insbesondere dem Gutachten des erstinstanzlich tätig gewordenen Sachverständigen Prof. Dr. L ... Dies entspricht im Wesentlichen auch dem Gutachten der Dr. H. vom 20. August 2010 unter Berücksichtigung des Zusatzgutachtens der Ärztin W.s vom 21. Juli 2010, die von einer autonomen somatoformen Störung des unteren Gastrointestinaltraktes ausgegangen sind; diese Gutachten kann der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwerten (etwa BSG, Beschluss vom 14. November 2013 – B 9 SB 10/13 B – juris Rdnr. 6; BSG, Urteil vom 5. Februar 2008 – B 2 U 8/07 R – juris Rdnr. 51). Auch Dr. L. hat in seinem Gutachten vom 18. März 2014 psychogene Durchfälle diagnostiziert. Bestätigt wird diese Diagnose durch das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. A. vom 17. September 2017, der lediglich offengelassen hat, ob ein Reizdarmsyndrom vom Schmerz- und Diarrhoetyp oder eine autonome Funktionsstörung des Intestinaltraktes vorliegt. Mit Ausnahme von Dr. L. sind auch alle genannten Ärzte davon ausgegangen, dass diese Funktionsstörung dazu führt, dass der Klägerin jederzeit ein Zugang zu einer Toilette möglich sein muss; hiervon ist im Übrigen auch das SG im angegriffenen Urteil ausdrücklich ausgegangen.
Soweit Dr. L. in seinem Gutachten vom 18. März 2014 demgegenüber ausgeführt hat, eine "normale Toilettenverfügbarkeit" sei ausreichend, ist dies eine Einzelmeinung geblieben. Es lässt sich auch nicht mit den von ihm dokumentierten Äußerungen der Klägerin in Einklang bringen, nach denen ein permanenter wässriger Durchfall bestehe. Die Nichtverwendung von Slipeinlagen wird von Dr. L. zwar kritisch bemerkt; offenbar hat er im Gespräch mit der Klägerin aber nicht weiter geklärt, ob diese Nichtverwendung auf mangelnder Notwendigkeit oder mangelnder Eignung beruht.
Ob die Funktionsstörung des unteren Verdauungstraktes (inzwischen) ausschließlich somatoformer Genese ist oder auch eine körperliche Ursache hat, kann dabei dahinstehen, da es aus rentenversicherungsrechtlicher Hinsicht auf die Funktionsstörung ankommt, grundsätzlich aber nicht auf deren ätiologischen Befund. Insbesondere kann der Klägerin nicht gleichsam entgegengehalten werden, dass sich eine Darmerkrankung, etwa Morbus Crohn oder eine Colitis ulcerosa, zumindest zuletzt histologisch nicht nachweisen ließ. Dr. A. hat zwar zum Zeitpunkt seiner Untersuchung (21. bis 23. August 2017) keine sichere somatische Ursache finden können; der makroskopische Befund zeigte in der Koloskopie allerdings postentzündliche Veränderungen wie bei einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung in Remission.
Der Senat ist daher überzeugt, dass es der Klägerin nicht in zumutbarer Weise möglich ist, eine Arbeitsstätte aufzusuchen. Angesichts der Notwendigkeit, jederzeit eine Toilette aufsuchen zu müssen, kann sie nicht auf die Verwendung öffentliche Verkehrsmittel verwiesen werden, da diese entweder (etwa Busse oder Straßenbahnen) gar keine Toiletten oder (etwa Regionalverkehrszüge) Toiletten nicht in quantitativ ausreichender und funktionell zuverlässiger Weise haben. Auch die gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. L., Dr. D. und Dr. A. sind davon ausgegangen, dass die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel "nicht zu empfehlen", "nicht zuzumuten" bzw. "problematisch" sei. Die Möglichkeit der Klägerin, eine Wegstrecke von 500 Metern zu Fuß zurückzulegen, reicht für die Wegefähigkeit nicht aus, da das Zurücklegen einer solchen Wegstrecke gerade nur dem Aufsuchen der nächsten Haltestelle öffentlicher Verkehrsmittel dient.
Die Klägerin kann auch nicht zumutbar auf die Nutzung eines Personenkraftwagens verwiesen werden. Die Notwendigkeit, dass die Klägerin jederzeit kurzfristig eine Toilette aufsuchen können muss, ist bei realistischer Betrachtung auch dann nicht gegeben, selbst wenn man etwa Toiletten bei Tankstellen mitberücksichtigt. Weder ist es gewährleistet, dass auf jedem Arbeitsweg in entsprechend notwendigen kurzen Abständen eine Tankstelle mit für die Öffentlichkeit zugänglicher Toilette verfügbar ist, noch dass diese von der Klägerin – auch unter Berücksichtigung der gerade in den Hauptberufsverkehrszeiten regelmäßigen Verkehrsstörungen – mit der notwendigen Zuverlässigkeit kurzfristig erreicht werden können.
Entsprechend ist auch die entwickelte spezifische Angststörung bezogen auf die rechtzeitige Erreichbarkeit einer Toilette, die Prof. Dr. L. diagnostiziert hat, durchaus plausibel. Der Einwand der Beklagten, die psychische Störung der Klägerin sei bislang nicht hinreichend behandelt worden, greift daher zu kurz. Die Beklagte berücksichtigt nicht, dass die psychische Störung mit einem objektiven körperlichen Symptom korrespondiert, das durch eine entsprechende psychiatrische Behandlung nicht beseitigt werden kann. Mit anderen Worten: Die Angst, eine Toilette nicht rechtzeitig aufsuchen zu können, kann nicht mit Mitteln der Psychotherapie oder durch medikamentöse Behandlung beseitigt werden, soweit die reale Notwendigkeit, eine Toilette ggf. sehr kurzfristig aufsuchen zu müssen, fortbesteht.
Die Möglichkeit, die Notwendigkeit, kurzfristig eine Toilette aufsuchen zu müssen, durch symptombezogene Medikamente zu reduzieren, besteht zur Überzeugung des Senats in dem für die Bejahung der Wegefähigkeit notwendigen Umfang nicht. Zwar mag in Einzelfällen die Einnahme entsprechender Medikamente erfolgreich und zumutbar sein, nicht aber in dem für die Wegefähigkeit notwendigen Ausmaß von fünf Tagen pro Woche jeweils für den Hin- und Rückweg von und zur Arbeitsstelle. Die Klägerin hat insofern auch plausibel vorgetragen, dass die bisherigen Versuche im Ergebnis gescheitert sind. Sowohl die Verwendung von Hamira als auch von Methotrexat führten zu Nebenwirkungen (Schuppenflechte bzw. Verschlechterung der Leberwerte). Die Einnahme von Opioden, die ebenfalls zeitweise erfolgt ist, dürfte im Übrigen wegen der Suchtgefahr nicht zumutbar sein.
Die Einschränkung der Wegefähigkeit kann schließlich nicht durch den Verweis auf die Nutzung von Einlagen/Vorlagen beseitigt werden. Insofern ist für den Senat ohne Weiteres plausibel, dass die Nutzung von Einlagen/Vorlagen bei Stuhlinkontinenz – anders als unter Umständen etwa bei Harninkontinenz – einem Versicherten nicht zumutbar ist, zumal wenn er sich nicht etwa auf dem Weg nach Hause mit der Möglichkeit anschließender Hygienemaßnahmen, sondern auf dem Weg zur Arbeitsstätte befindet.
Die Annahme, dass die Klägerin aus den dargestellten Gründen nicht wegefähig ist, ist auch mit Blick auf ihre Angaben zur Gestaltung des alltäglichen Lebens plausibel. So hat sie gegenüber dem Sachverständigen Prof. Dr. L. angegeben, dass zwar Freunde zu Besuch kämen, ihr dies aber lieber sei, als diese zu besuchen, da sie dann jederzeit auf verfügbare Toiletten zurückgreifen könne. Auch hat die Klägerin bei diesem Sachverständigen angegeben, nicht in Urlaub zu fahren; einmal sei ein bereits gebuchter Urlaub noch während der Anfahrt abgebrochen worden wegen ihrer Ängste, nicht rechtzeitig Toiletten erreichen zu können. Gegenüber dem Sachverständigen Dr. D. hat die Klägerin angegeben, dass es ihr immer häufiger nicht gelinge, ihren Sohn in den in der Nähe gelegenen Kindergarten zu bringen und von dort abzuholen; dann erfolge dies durch eine Nachbarin, deren Kind ebenfalls diesen Kindergarten besuche. Sofern ihr Sohn eigene Freunde besuche, würde er in aller Regeln von deren Eltern abgeholt, weil sie ihn beschwerdebedingt kaum zu seinen Freunden bringen könne. Die Einkäufe werden nach ihren Angaben allein von ihrem Mann erledigt. Auch Freizeitaktivitäten außerhalb der eigenen Wohnung werden nicht berichtet. Dr. D. hat schließlich auch mitgeteilt, dass die Klägerin vor und während der Exploration insgesamt fünf Mal die Toilette aufgesucht habe.
c) Dass die Klägerin die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 43 Abs. 2 Satz1 Nr. 2 und Nr. 3, Abs. 4 SGB VI erfüllt, ist zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig. Im Zeitraum vom 7. Dezember 1997 bis zum 6. Dezember 2002 (vgl. zur Berechnung des Fünf-Jahres-Zeitraumes Freudenberg in jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 Rdnr. 264 ff.) weist das Versicherungskonto der Klägerin 56 Monate mit Pflichtbeitragszeiten auf. Dies ergibt sich im Übrigen bereits daraus, dass die Beklagte der Klägerin Rente wegen Erwerbsminderung bereits seit dem 1. Juli 2003 bis zum Beginn des hier streitigen Zeitraums gewährt hat. Die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen müssen nicht bei Beginn des jeweiligen Bewilligungszeitraums vorliegen, sondern bei Beginn der Erwerbsminderung, die hier bereits nach dem bestandskräftigen und die Beteiligten bindenden (§ 77 SGG) Bescheid vom 4. Februar 2004 am 7. Dezember 2002 vorgelegen hat.
d) Die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist unbefristet zu leisten.
aa) Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGB VI auf Zeit geleistet. Die Befristung erfolgt für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn (§ 102 Abs. 2 Satz 2 SGB V). Sie kann verlängert werden; dabei verbleibt es bei dem ursprünglichen Rentenbeginn (§ 102 Abs. 2 Satz 3 SGB VI). Verlängerungen erfolgen für längstens drei Jahre nach dem Ablauf der vorherigen Frist (§ 102 Abs. 2 Satz 4 SGB VI). Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann; hiervon ist nach einer Gesamtdauer der Befristung von neun Jahren auszugehen (§ 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI).
bb) Nach diesen Maßstäben kommt eine Befristung nicht in Betracht. Die der Klägerin zustehende Rente ist unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage. Es ist zudem davon auszugehen, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht behoben werden kann, nachdem ihr bislang über mehr als neun Jahre (vom 1. Juli 2003 bis 30. April 2014) befristete Rente wegen Erwerbsminderung gewährt worden war.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
4. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Login
BWB
Saved