L 8 SB 1993/17

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 3 SB 5919/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 1993/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 24.04.2017 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Bescheid des Beklagten vom 17.07.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2014 nicht aufgehoben, sondern abgeändert wird.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB).

Der 1966 geborene Kläger beantragte am 12.06.2014 (Blatt 4 VA) bei dem Landratsamt R. (LRA) die Feststellung eines GdB.

Dr. S. erstattete die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 14.07.2014 (Blatt 41 VA) und empfahl die Feststellung eines GdB von 30 unter Berücksichtigung einer Depression (Einzel-GdB 30) und einer Refluxkrankheit der Speiseröhre (Einzel-GdB 10).

Mit Bescheid vom 17.07.2014 (Blatt 44 VA) stellte das LRA einen GdB von 30 seit dem 12.06.2014 fest.

Gegen den Bescheid erhob der Kläger am 12.08.2014 Widerspruch (Blatt 46 VA) unter Vorlage des Attestes des Neurologen/Psychiaters Dr. B. vom 06.08.2014.

Das LRA zog den Entlassungsbericht des M. S. vom 07.06.2013 (Blatt 52 VA) bei, zu dem Dr. S. die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 09.10.2014 (Blatt 55 VA) erstattete und ausführte, dass sich keine wesentliche Änderung ergeben habe. Die depressiven Episoden seien richtet bewertet, der Verlust der Gallenblase könne tenoriert werden, bedinge aber keinen GdB von 10, da ein guter Allgemein- und Ernährungszustand beschrieben sei bei unauffälligem Abdominalbefund.

Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20.10.2014 (Blatt 61 VA) zurück.

Am 29.10.2014 erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG). Das SG holte die sachverständigen Zeugenauskünfte des Dipl. Psych. K. vom 19.02.2015 (Blatt 36 SG-Akte), des Internisten Dr. Z. vom 02.03.2015 (Blatt 39/53 SG-Akte) und des Psychiaters Dr. B. vom 10.03.2015 (Blatt 54/87 SG-Akte) ein, zu denen der Beklagte die versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. B. vom 03.06.2015 (Blatt 91/92 SG-Akte) vorlegte. Weiter holte das SG das neurologisch-psychiatrische Sachverständigengutachten des Dr. S. vom 03.11.2015 (Blatt 107/118 SG-Akte) ein, zu dem der Beklagte die versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. K. vom 11.02.2016 (Blatt 122 SG-Akte) vorlegte und ein Vergleichsangebot auf die Feststellung eines GdB von 40 seit dem 12.06.2014 (Blatt 121 SG-Akte) unterbreitete.

Mit Gerichtsbescheid vom 24.04.2017 hob das SG den Bescheid des Beklagten vom 17.07.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2014 auf und verpflichtete den Beklagten zur Feststellung eines GdB von 40 sei dem 12.06.2014. Im Übrigen wies es die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, dass keine schwere psychische Störung mit entsprechenden sozialen Anpassungsstörungen bestehe, sodass ein Einzel-GdB von 40 anzunehmen sei. Der Alkoholabusus und die Spielsucht seien dabei berücksichtigt. Durch die Refluxkrankheit der Speiseröhre werde kein höherer Einzel-GdB als 10 bedingt, entsprechendes gelte für den Diabetes, da dieser mit Metformin behandelt werde.

Gegen den am 26.04.2017 (Blatt 190 VA) zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 18.05.2017 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Er macht geltend, dass das SG bei Einholung eines Sachverständigengutachtens nach § 109 SGG zu dem Ergebnis habe kommen müssen, dass eine Schwerbehinderteneigenschaft vorliege. Es liege nicht nur eine mittelgradige Depression vor, sondern eine mittelschwere bis schwere.

Der Kläger beantragt, sachdienlich gefasst,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 24.04.2017 sowie den Bescheid vom 17.07.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.10.2014 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, einen GdB von 50 seit dem 12.06.2014 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG hat der Senat das Sachverständigengutachten der Prof. Dr. E. vom 29.11.2017 (Blatt 61/80 Senatsakte) eingeholt, zu dem der Beklagte die versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. W. vom 28.12.2017 (Blatt 83 Senatsakte) vorgelegt hat.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (Blatt 91/101 Senatsakte).

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§§ 153 Absatz 1, 124 Absatz 2 SGG), ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, in der Sache aber unbegründet.

Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 17.07.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2014 ist rechtmäßig, soweit dieser die Feststellung eines über 40 liegenden GdB abgelehnt hat. Zu dieser Auffassung ist auch das SG gelangt, wie den Entscheidungsgründen des Gerichtsbescheides zu entnehmen ist. Dementsprechend war der angefochtene Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides nur abzuändern, nicht aber vollständig aufzuheben, da andernfalls eine Verwaltungsentscheidung über die weitergehende Feststellung des GdB fehlen würde.

Der Senat konnte feststellen, dass die formalen Voraussetzungen für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 Absatz 1 SGG vorgelegen haben, die Beteiligten sind zu der Entscheidung angehört worden und der Sachverhalt ist geklärt gewesen. Soweit der Kläger geltend macht, dass SG habe ein Sachverständigengutachten nach § 109 SGG einholen müssen, ist der Vortrag nicht nachvollziehbar. Nachdem die nach § 109 SGG benannte Sachverständige dem Gutachtensauftrag nicht nachgekommen ist, hat der Kläger mit Schriftsatz vom 11.04.2017 die Entpflichtung der Sachverständigen beantragt und gleichzeitig das Einverständnis mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid erklärt (Schriftsatz vom 11.04.2017, Blatt 169 SG-Akte). Dementsprechend war zum Entscheidungszeitpunkt des SG kein wirksamer Antrag nach § 109 SGG mehr gestellt, sodass über einen solchen weder zu entscheiden war, noch eine Begutachtung in Betracht gekommen ist.

Rechtsgrundlage für die GdB-Bewertung sind die Vorschriften des SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung des Bundesteilhabegesetzes vom 23.12.2016 (BGBl. I 2016, 3234), da maßgeblicher Zeitpunkt bei Verpflichtungs- und Leistungsklagen der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz ist, wobei es für laufende Leistungen auf die Sach- und Rechtslage in dem jeweiligen Zeitraum ankommt, für den die Leistungen begehrt werden; das anzuwendende Recht richtete sich nach der materiellen Rechtslage (Keller in: Meyer Ladewig, SGG, 12. Auflage, § 54 Rdn. 34). Nachdem § 241 Absatz 2 SGB IX lediglich eine (Übergangs-) Vorschrift im Hinblick auf Feststellungen nach dem Schwerbehindertengesetz enthält, ist materiell-rechtlich das SGB IX in seiner derzeitigen Fassung anzuwenden.

Nach § 152 Absatz 1 SGB IX (§ 69 Abs. 1 und 3 SGB IX aF) stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB. Nach § 2 Absatz 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Geisteszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht, § 2 Absatz 1 Satz 2 SGB IX. Schwerbehindert sind gemäß § 2 Abs. 2 SGB IX Menschen, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach 10er Graden abgestuft festgestellt; eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein Grad der Behinderung von wenigstens 20 vorliegt (§ 152 Absatz 1 Satz 6 SGB XI). Bis zum 31.12.2008 waren die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) heranzuziehen (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1). Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der AHP, die im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewendet wurden, die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 70 Abs. 2 SGB IX in der ab 15.01.2015 gültigen Fassung). Bis zum 14.01.2015 galten gemäß § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX (in der Fassung vom 20.06.2011) die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und der aufgrund des § 30 Abs. 16 des BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. Hiervon hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales Gebrauch gemacht und die VersMedV erlassen, um unter anderem die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG zu regeln (vgl. § 1 VersMedV). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage "VG" zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden AHP getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (BSG, Urteil vom 1. September 1999 - B 9 V 25/98 R -, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht. Anders als die AHP, die aus Gründen der Gleichbehandlung in allen Verfahren hinsichtlich der Feststellung des GdB anzuwenden waren und dadurch rechtsnormähnliche Wirkungen entfalteten, ist die VersMedV als Rechtsverordnung verbindlich für Verwaltung und Gerichte. Sie ist indes, wie jede untergesetzliche Rechtsnorm, auf inhaltliche Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen - insbesondere § 69 SGB IX - zu überprüfen (BSG, Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - RdNr 27, 30 m.w.N.). Sowohl die AHP als auch die VersMedV (nebst Anlage) sind im Lichte der rechtlichen Vorgaben des § 69 SGB IX auszulegen und - bei Verstößen dagegen - nicht anzuwenden (BSG, Urteil vom 30.09.2009 SozR 4-3250 § 69 Nr. 10 RdNr. 19 und vom 23.4.2009, a.a.O., RdNr 30).

Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2 e).

Die Feststellung des GdB erfolgt zum Zeitpunkt der Antragstellung; auf Antrag kann, wenn ein besonderes Interesse glaubhaft gemacht wird, festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat § 152 Abs. 1 Satz 2 SGBX; (§ 69 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB IX a.F.).

Die Bemessung des Gesamt-GdB (dazu s. unten) erfolgt nach § 152 Absatz 3 SGB IX (§ 69 Abs. 3 SGB IX aF). Danach ist zu beachten, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB zu bilden, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt-GdB ungeeignet. Insoweit scheiden dahingehende Rechtsgrundsätze, dass ein Einzel-GdB nie mehr als die Hälfte seines Wertes den Gesamt-GdB erhöhen kann, aus. In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Ein Einzel GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. A Nr. 3 VG). Der Gesamt GdB ist unter Beachtung der VersMedV einschließlich der VG in freier richterlicher Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten zu bilden (BSGE 62, 209, 213; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 und SozR 3 3879 § 4 Nr. 5 zu den AHP). Es ist also eine Prüfung vorzunehmen, wie die einzelnen Behinderungen sich zueinander verhalten und ob die Behinderungen in ihrer Gesamtheit ein Ausmaß erreichen, das die Schwerbehinderung bedingt. Insoweit ist für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft - gleiches gilt für alle Feststellungsstufen des GdB - nach den allgemeinen Beschreibungen in den einleitenden Teilen der VG als Maßstab der Vergleich zu den Teilhabebeeinträchtigungen anderer Behinderungen anzustellen, für die im Tabellenteil ein Wert von 50 - oder ein anderer Wert - fest vorgegeben ist (BSG 16.12.2014 - B 9 SB 2/13 R - SozR 4-3250 § 69 Nr. 18 = juris). Damit entscheidet nicht allein die Anzahl einzelner Einzel-GdB oder deren Höhe die Höhe des festzustellenden Gesamt-GdB. Vielmehr ist der Gesamt-GdB durch einen wertenden Vergleich dadurch zu bilden, dass die in dem zu beurteilenden Einzelfall bestehenden Funktionsbehinderungen mit den vom Verordnungsgeber in den VG für die Erreichung einer bestimmten Feststellungsstufe des GdB bestimmten Funktionsbehinderungen in Beziehung zu setzen sind - z.B. ist bei Feststellung der Schwerbehinderung der Vergleich mit den für einen GdB von 50 in den VG vorgesehenen Funktionsbehinderungen, bei Feststellung eines GdB von 60 ist der Vergleich mit den für einen GdB von 60 in den VG vorgesehenen Funktions-behinderungen usw. vorzunehmen. Maßgeblich sind damit grundsätzlich weder Erkrankungen oder deren Schlüsselung in Diagnosemanualen an sich noch ob eine Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit aufgetreten ist, sondern ob und wie stark die funktionellen Auswirkungen der tatsächlich vorhandenen bzw. ärztlich objektivierten Erkrankungen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) anhand eines abstrakten Bemessungsrahmens (Senatsurteil 26.09.2014 - L 8 SB 5215/13 - juris RdNr. 31) beeinträchtigen. Dies ist - wie dargestellt - anhand eines Vergleichs mit den in den VG gelisteten Fällen z.B. eines GdB von 50 festzustellen. Letztlich handelt es sich bei der GdB-Bewertung nicht um eine soziale Bewertung von Krankheit und Leid, sondern um eine anhand rechtlicher Rahmenbedingungen vorzunehmende, funktionell ausgerichtete Feststellung.

Gestützt auf das Sachverständigengutachten des Dr. S. konnte der Senat eine rezidivierende depressive Störung, Alkoholmissbrauch und eine Spielsucht feststellen.

Dr. S. beschreibt den Kläger als bewusstseinsklar, örtlich, zeitlich und zur Person orientiert mit formal und inhaltlich unauffälligem Gedankengang. Hinweise auf eine akute Psychose des schizophrenen Formenkreises zeigten sich nicht, kognitive Störungen werden verneint. Gravierende Einschränkungen bei Auffassung und Konzentration sowie Merk- und Umstellungsfähigkeit verneint der Sachverständige, die affektive Schwingungsfähigkeit war nur leicht eingeengt.

Hinsichtlich des Alkoholmissbrauch hat der Kläger gegenüber dem Sachverständigen Dr. S. angegeben, täglich 4 Flaschen Bier und daneben Jägermeister zu trinken, früher habe ein höherer Alkoholkonsum bestanden. Zum neurologischen Befund beschreibt der Sachverständige eine seitengleiche und regelrechte epikritische und protopathische Sensibilität, der Vibrationssinn war mit Werten um 7/8 bis 8/8 der Stimmgabelmarke im Vorfußbereich ausreichend erhalten, Hinweise auf segmentale Reiz- oder Ausfallerscheinungen bestanden nicht. Der Finger-Nase-Versuch sowie der Knie-Hackenversuch waren beidseits zielsicher, der Zehengang, Fersengang und Seiltänzergang sowie der Blindgang unauffällig, beim Unterberg’schen und Romberg’schen Versuch ergab sich kein pathologischer Befund. Alkoholbedingte Rückwirkungen auf den sozialen Bereich konnte der Sachverständige nicht feststellen und weist im Hinblick auf den neurologischen Befund überzeugend darauf hin, dass sich hieraus keine gravierenden Folgeschäden ergeben.

Nach den VG Teil B 3.7 ist bei Neurosen, Persönlichkeitsstörungen oder Folgen psychischer Traumen mit leichteren psychovegetativen oder psychischen Störungen der GdB mit 0 bis 20, bei stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) der GdB mit 30 bis 40 und bei schweren Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten der GdB mit 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten der GdB mit 80 bis 100 zu bewerten.

Nach den VG Teil B 3.8. bedingt der schädliche Gebrauch psychotroper Substanzen ohne körperliche oder psychische Schädigung keinen GdB. Die Abhängigkeit von Koffein oder Tabak sowie von Koffein und Tabak bedingt für sich allein in der Regel keine Teilhabebeeinträchtigung. Abhängigkeit von psychotropen Substanzen liegt vor, wenn als Folge des chronischen Substanzkonsums mindestens drei der folgenden Kriterien erfüllt sind: - Starker Wunsch (Drang), die Substanz zu konsumieren, - verminderte Kontrollfähigkeit (Kontrollverlust) den Konsum betreffend, - Vernachlässigung anderer sozialer Aktivitäten zugunsten des Substanzkonsums - fortgesetzter Substanzkonsum trotz Nachweises schädlicher Folgen - Toleranzentwicklung - Körperliche Entzugssyndrome nach Beenden des Substanzkonsums Dabei gelten folgende GdB-Werte: Bei schädlichem Gebrauch von psychotropen Substanzen mit leichteren physischen Störungen beträgt der GdB: 0 – 20 Bei Abhängigkeit: - mit leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdB 30 – 40 - mit mittleren sozialen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdB 50 – 70 - mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdB 80 – 100

Ausgehend von diesen Maßstäben konnte der Senat mit dem Sachverständigen Dr. S. keine alkoholbedingten Rückwirkungen auf den sozialen Bereich feststellen, sodass jedenfalls nur leichte soziale Anpassungsschwierigkeiten angenommen werden können, aus denen sich ein Einzel-GdB von 30 bis 40 rechtfertigt. Dahinstehen kann somit, ob die Voraussetzungen für die Annahme einer Abhängigkeit im Sinne der VG Teil B Nr. 3.8 vorliegen, wogegen spricht, dass weder schädliche Folgen noch eine Vernachlässigung anderer sozialer Aktivitäten festzustellen gewesen sind und weder ein starker Wunsch nach Substanzkonsum noch ein Kontrollverlust beschrieben werden. Vielmehr hat der Kläger gegenüber dem Sachverständigen angegeben, dass der Alkoholkonsum früher sehr ausgeprägt gewesen ist, dieser nunmehr aber nur noch erhöht ist. Unter Berücksichtigung der rezidivierenden depressiven Störung rechtfertigt sich daher, in Übereinstimmung mit Dr. S. , ein Einzel-GdB für die Psyche von 40. Im Übrigen geht auch der behandelnde Dr. B. (sachverständige Zeugenauskunft vom 10.03.2015, Blatt 54 SG-Akte) von dem Bestehen einer stärker behinderten Störung aus, dass er den Alkoholabusus mit einem Einzel-GdB von 20 additiv berücksichtigen will und daher einen Gesamt-GdB von 40 – 50 annimmt, führt im Hinblick auf die Befunde zu keiner anderen Beurteilung.

Keine andere Beurteilung rechtfertigt sich aus dem Sachverständigengutachten der Prof. Dr. E ... Dieser gegenüber hat der Kläger angegeben, fünf bis sechs Biere und mehrere Schnäpse täglich zu trinken, aber manchmal auch zwei Tage überhaupt nichts. Zum psychischen Befund ist angegeben, dass der Kläger bewusstseinsklar und allseits orientiert war, im Kontakt angespannt. Formale und inhaltliche Denkstörungen fanden sich nicht, auch keine wahnhaften oder halluzinativen Erlebensweisen. Die Stimmungslage wird als mittelgradig depressiv bei leichtem phobischen Vermeidungsverhalten beschrieben, die Antriebslage als anamnestisch reduziert. Zusammenfassend geht die Sachverständige von einer mittelgradig ausgeprägten depressiven Störung und Alkoholsucht aus, wobei ihre GdB-Einschätzung, als rechtliche Beurteilung, nicht mit den Vorgaben der VG korrespondiert und daher nicht überzeugt. Für die angenommenen mittelgradigen Beeinträchtigungen ist die Annahme eines Einzel-GdB von 50 aus den vom ihr aufgegliederten Teil-GdB 30 für die Alkoholerkrankung, 50 für die Depression und keine Teil-GdB-Ansätze für Agoraphobie, Spielsucht und chronisches Schmerzsyndrom nicht gerechtfertigt, da dies einer schweren Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten entsprechen würde, die sich aus dem Gutachten aber gerade nicht ergeben. Die Sachverständige berücksichtigt weiter nicht hinreichend, dass nach VG Teil A Nr. 2f. bei Schwankungen im Gesundheitszustand

Durchschnittswerte zu berücksichtigen sind und schon deshalb wegen auftretender schwerer Episoden keine Erhöhung des Einzel-GdB in Betracht kommt, abgesehen davon, dass eine GdB-Relevanz erst dann besteht, wenn ein entsprechender Ausprägungsgrad mehr als sechs Monate besteht, was der Senat indessen nicht feststellen konnte. Auch die von der Sachverständigen erhobenen Befunde rechtfertigen ebenso wie die von Dr. S. erhobenen Befunde nur einen Einzel-GdB von 40, wie Dr. W. in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 28.12.2017 (Blatt 83 Senatsakte) überzeugend ausgeführt hat. Schmerzstörungen und Agoraphobie sind erstmals im Gutachten vom 29.11.2017 beschrieben worden. Der Ausprägungsgrad dieser psychischen Leiden veranlasste die Sachverständige nicht, hierfür einen Teil-GdB anzunehmen.

Soweit der Kläger die versorgungsärztliche Stellungnahme für nicht verwertbar erachtet, da diese nach Aktenlage erstellt sei, verkennt er bereits, dass es sich um Beteiligtenvorbringen handelt und nicht um einen Sachverständigenbeweis, welches aber jedenfalls im Rahmen des Urkundenbeweises in den Prozess eingeführt und verwertet werden kann. Darüber hinaus ist der Verfahrensordnung keine Vorschrift zu entnehmen, die selbst der Einholung von Sachverständigengutachten nach Aktenlage entgegenstehen würde.

Der mit Metformin behandelte Diabetes (sachverständige Zeugenauskunft des Dr. Z. vom 02.03.2015, Blatt 39 SG-Akte) bedingt nach VG Teil B Nr. 15.1. keinen Einzel-GdB, da es sich nur um eine medikamentöse Behandlung handelt.

Weitere Gesundheitsstörungen, die einen Teil-GdB von mehr als 10 begründen würden, konnte der Senat nicht feststellen.

Die Berufung konnte daher in der Sache keinen Erfolg haben. Im Hinblick darauf, dass das SG im Tenor den angefochtenen Bescheid des Beklagten vollumfänglich aufgehoben, in den Entscheidungsgründen aber nur eine Abänderung vorgenommen hat, geht der Senat von einer offensichtlichen Unrichtigkeit i.S.v. § 138 SGG aus, die formal einer durch den Senat vorzunehmenden Berichtigung zugänglich wäre (vgl. Keller in Mayer-Ladewig, SGG, 12. Aufl. § 138 RdNr. 4a). Der Senat hat sich daher mit einer Klarstellung im Tenor des Berufungsurteils begnügen können und deshalb war die Berufung mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass der Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides abgeändert wird. Der Berufungsantrag war sinnentsprechend auszulegen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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