L 4 P 3968/18 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 9 P 2410/18 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 3968/18 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 17. Oktober 2018 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Leistungen der Pflegeversicherung für einen Hilfebedarf bei schweren Einkäufen.

Der am 1933 geborene Antragsteller ist aufgrund des Bezugs einer Altersrente bei der Antragsgegnerin pflegeversichert. Er bezieht aufstockend Leistungen der Grundsicherung im Alter nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).

Am 28. November 2017 beantragte er bei der Antragsgegnerin Geldleistungen der Pflegeversicherung. Pflegefachkraft K. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ermittelte auf Grundlage eines Hausbesuches in seinem Gutachten vom 5. Januar 2018 in den pflegefachlich zu bewertenden Modulen einen Gesamtpunktewert von 8,75 (Modul 1: 0,00 Punkte; Modul 2: 0,00 Punkte; Modul 3: 0,00 Punkte; Modul 4: 0,00 Punkte; Modul 5: 5,00 Punkte; Modul 6: 3,75 Punkte). Mit Bescheid vom 8. Januar 2018 lehnte die Antragsgegnerin daraufhin die Gewährung von Leistungen der Pflegeversicherung ab, da die festgestellte Beeinträchtigung der Selbständigkeit nicht die für eine Einstufung in Pflegegrad 1 erforderlichen Voraussetzungen (12,5 bis unter 27 Punkte) erreiche.

Zur Begründung des dagegen eingelegten Widerspruches führt der Antragsteller unter Auflistung diverser Diagnosen, der eingenommenen Medikamente sowie der behandelnden Ärzte aus, die bei ihm vorliegenden Gesundheitsstörungen sowie die daraus resultierenden Einschränkungen seien nicht ausreichend gewürdigt worden. Nach einer Gehstrecke von 20 bis 25 Metern leide er unter Atemnot und sei dadurch in seiner Mobilität eingeschränkt. Aufgrund einer Fußatrophie, Arthrose und Wadenkrämpfen sei ihm die Nutzung einer Badewanne nicht möglich. In den letzten Wochen sei er im häuslichen Umfeld gestürzt. Die "Leistung Grundhilfebedarf (Einkaufen)" sei zu gewähren.

In ihrem Gutachten vom 8. März 2018 ermittelte Pflegefachkraft H. auf Grundlage eines Hausbesuchs in den pflegefachlich zu bewertenden Modulen einen Gesamtpunktewert von 0,00 (Modul l: 0,00 Punkte; Modul 2: 0,00 Punkte; Modul 3: 0,00 Punkte; Modul 4: 0,00 Punkte; Modul 5: 0,00 Punkte; Modul 6: 0,00 Punkte). Ein Hilfebedarf beim Duschen/Baden in Form einer Transferhilfe sei berücksichtigt worden. Auch wenn einmal monatlich die Begleitung zu Fachärzten berücksichtigt werde, werde kein Pflegegrad erreicht. Allein der notwendige Hilfebedarf bei schweren Einkäufen begründe keine Pflegebedürftigkeit. Mit Widerspruchsbescheid vom 26. April 2018 wies der Widerspruchsausschuss der Antragsgegnerin den Widerspruch als unbegründet zurück.

Hiergegen erhob der Antragsteller am 11. Mai 2018 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG; S 9 P 1174/18), mit der er die Verurteilung der Antragsgegnerin zur Gewährung der "Leistung Grundhilfebedarf (Einkaufen)" begehrte. Der MDK verfüge für die Beurteilung der in Streit stehenden Pflegebedürftigkeit nicht über die erforderliche medizinische Kompetenz. Aufgrund der chronischen obstruktiven Lungenerkrankung (Bronchialasthma) bestehe Hilfebedarf bei schweren Einkäufen. Die Antragsgegnerin trat der Klage unter Verweis auf die Gründe der angefochtenen Bescheide entgegen.

Das SG befragte die den Antragsteller behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen. Fachärztin für Innere Medizin Dr. T.-W. gab unter dem 20. Juni 2018 an, in Übereinstimmung mit den Feststellungen des MDK könne bestätigt werden, dass beim Antragsteller die Voraussetzungen zur Erfüllung eines Pflegegrads nicht gegeben seien. Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. Kä. führte in seiner Auskunft vom 23. Juni 2018 aus, aus orthopädischer Sicht lasse sich ein Pflegegrad nicht begründen. Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie He. führte unter dem 26. Juli 2018 aus, beim Antragsteller bestünden ein Spannungskopfschmerz, eine Dysthymia sowie ein Schwindel unklarer Genese. Insbesondere im Modul 1 (Mobilität), Modul 2 (Kognitive und kommunikative Fähigkeiten) und Modul 6 (Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte) seien die beim Antragsteller vorliegenden Einschränkungen bisher nur unzureichend berücksichtigt worden. In der Gesamtschau sei die Zuerkennung von Leistungen in Pflegegrad 1 angemessen. Am 2. August 2018 bestellte das SG den Pflegesachverständigen Bi. zum gerichtlichen Sachverständigen, dessen Gutachten noch nicht vorliegt.

Am 9. Oktober 2018 beantragte der Antragsteller beim SG den Erlass einer einstweiligen Anordnung auf sofortige Bewilligung der Hilfe. Er mache vom Hilfebedarf bei schweren Einkäufen Gebrauch. Aufgrund wesentlicher und nachgewiesener Beeinträchtigungen im Bereich der unteren Gliedmaßen habe er Anspruch auf entsprechende Unterstützung. Beigefügt war ein Überweisungsschein von Dr. T.-W. vom 2. Oktober 2018 zur Gefäßchirurgie (Kontrolle bei Ulcus crucis durch venöse Insuffizienz).

Die Antragsgegnerin trat dem Antrag entgegen. Aus dem unbestritten vorliegenden Hilfebedarf bei schweren Einkäufen resultiere kein Pflegegrad. Die Gewährung laufender Leistungen sei erst ab Pflegegrad 2 vorgesehen, der beim Antragsteller nicht vorliege. Ein Bedürfnis zur Gewährung einstweiligen Rechtschutzes sei nicht gegeben, nachdem es dem Antragsteller zuzumuten sei, das vom SG in Auftrag gegebene Gutachten abzuwarten.

Mit Beschluss vom 17. Oktober 2018 lehnte das SG den Antrag ab. Der gegenwärtig allenfalls als offen anzusehende Ausgang des Hauptsacheverfahrens rechtfertige auch nicht im Wege der Folgenabwägung eine stattgebende Entscheidung. Dem Antragsteller drohten keine Nachteile, die er nicht auch bei Erfolglosigkeit seiner Rechtsverfolgung in der Hauptsache hinzunehmen hätte, so dass eine Vorwegnahme der Hauptsache nicht gerechtfertigt sei. Ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache sei ihm angesichts des bereits in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachtens zumutbar. Ergänzend wies das SG auf einen möglichen Anspruch auf Hilfen zur Haushaltsführung aus §§ 19 Abs. 3, 70 SGB XII hin.

Gegen diesen ihm am 20. Oktober 2018 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 30. Oktober 2018 Beschwerde beim SG eingelegt und zur Begründung inhaltlich ausgeführt, das Klinikum A.-E. habe die sofortige Hinzuziehung eines Pflegedienstes angeordnet. Er sei pflegebedürftig und bekomme täglich häusliche Krankenpflege (Vorlage zweier Kostenübernahmebescheide der Krankenkasse vom 9. und 16. Oktober 2018). Schon deshalb stehe ihm Pflegegrad 2 zu. Nach den bereits ärztlich diagnostizierten Krankheiten und dem krankenhausärztlich festgestellten weiteren Leiden am Fuß mit Bewegungseinschränkung bekräftige sich der Anspruch auf Hilfebedarf bei schweren Einkäufen. Die Annahme, ein auf eine bestimmte Verrichtung beschränkter Hilfebedarf (Einkaufen) könne keinen isolierten Anspruch auf Pflegeleistungen begründen, sei nicht zutreffend.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 17. Oktober 2018 aufzuheben und die Antragsgegnerin und die Antragsgegner zu verpflichten, ihm vorläufig Geldleistungen der Pflegeversicherung mindestens nach dem Pflegegrad 2 zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie wiederholt ihre Ausführungen im erstinstanzlichen Verfahren. Der Antragsteller verkenne den Unterschied zwischen den Begriffen der Krankheit und der Pflegebedürftigkeit. Die Annahme, aus der Notwendigkeit häuslicher Krankenpflege lasse sich ein Anspruch auf Pflegegrad 2 ableiten, gehe fehl.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

II.

1. Die gemäß § 173 Satz 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Klägers ist zulässig, insbesondere statthaft. Die Beschwerde ist nicht nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ausgeschlossen, weil die Berufung in der Hauptsache nicht der Zulassung bedürfte. Der Antragsteller begehrt zukunftsgerichtet laufende Leistungen ohne Beschränkung und damit für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

2. Die Beschwerde ist nicht begründet. Das SG hat es zu Recht abgelehnt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufige Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung zu gewähren.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist Voraussetzung, dass ein dem Antragsteller zustehendes Recht oder rechtlich geschütztes Interesse vorliegen muss (Anordnungsanspruch), das ohne Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes vereitelt oder wesentlich erschwert würde, so dass dem Antragsteller schwere, unzumutbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund müssen glaubhaft gemacht sein (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Glaubhaftmachung liegt vor, wenn das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds überwiegend wahrscheinlich sind. Dabei dürfen sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss des Ersten Senats vom 13. April 2010 – 1 BvR 216/07 – juris, Rn. 64; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 – juris, Rn. 9).

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen nicht isoliert nebeneinander; es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt (vgl. Landessozialgericht [LSG] Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER – juris, Rn. 18; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Januar 2007 – L 7 SO 5672/06 ER-B – juris, Rn. 2). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER – juris, Rn. 18; Hessisches LSG, Beschluss vom 5. Februar 2007 – L 9 AS 254/06 ER – juris, Rn. 4). Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER – juris, Rn. 18; Hessisches LSG, Beschluss vom 5. Februar 2007 – L 9 AS 254/06 ER – juris, Rn. 4).

Es kann dahinstehen, ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, denn der Antragsteller hat auch im Beschwerdeverfahren keinerlei Gründe vorgebracht, aus denen sich ergeben könnte, dass ihm ein Abwarten des Klageverfahrens unzumutbar ist. Sein Vorbringen auch im Beschwerdeverfahren beschränkt sich auf die Darlegung der Gründe, die nach seiner Ansicht seine Pflegebedürftigkeit mindestens nach Pflegegrad 2 begründen. Eine besondere Dringlichkeit hat er nicht dargelegt. Die Leistungen der häuslichen Pflege sind keine existenzsichernden Leistungen. Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) ergänzen bei häuslicher und teilstationärer Pflege die Leistungen der Pflegeversicherung die familiäre, nachbarschaftliche oder sonstige ehrenamtliche Pflege und Betreuung. § 4 Abs. 2 SGB XI als Grundnorm verdeutlicht, dass die Leistungen der Pflegeversicherung (lediglich) eine soziale Grundsicherung in Form von unterstützenden Hilfeleistungen darstellen sollen, eine Vollversorgung des Pflegebedürftigen indessen nicht angestrebt wird. Im ambulanten Bereich obliegt es den Versicherten, einen durch die Leistungen der Pflegeversicherung nicht gedeckten Pflege- und Betreuungsaufwand selbst sicherzustellen (vgl. Bundestags-Drucksachen 12/5262 S. 90 und 16/7439, S. 44; siehe auch Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 5. Mai.2010 - B 12 R 6/09 R -, juris Rn. 19). Darüber hinaus hat das SG zutreffend darauf hingewiesen, dass eine Deckung des vom Antragsteller allein herausgestellten Hilfebedarfs beim Einkaufen vorübergehend über Leistungen nach §§ 19 Abs. 3, 70 SGB XII möglich wäre. Nach § 70 Abs. 1 Satz 1 SGB XII sollen Personen mit eigenem Haushalt Leistungen zur Weiterführung des Haushalts erhalten, wenn weder sie selbst noch, falls sie mit anderen Haushaltsangehörigen zusammenleben, die anderen Haushaltsangehörigen den Haushalt führen können und die Weiterführung des Haushalts geboten ist. Die Leistung umfasst u.a. das Einkaufen (Sehmsdorf in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, § 70, Rn. 25). Diese Leistung nach dem Neunten Kapitel des SGB XII setzt anders als die Pflegehilfe nach dem Siebten Kapitel gerade keine Pflegebedürftigkeit i.S.d. §§ 14, 15 SGB XI voraus, insbesondere keine nach Pflegegrad 2. Da der alleinstehende Antragsteller bereits aufstockende Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erhält, erfüllt er die Eingangsvoraussetzungen des § 19 Abs. 3 SGB XII. Es ist daher davon auszugehen, dass der Antragsteller bis zur Entscheidung in der Hauptsache den von ihm geltend gemachten Hilfebedarf vorübergehend decken kann, ohne dass es der vorläufigen Gewährung von Pflegegeld bedürfte. Entgegenstehende Gründe hat der Antragsteller nicht vorgetragen.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

5. Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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