L 8 R 1640/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 11 R 1260/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 R 1640/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 12.04.2018 aufgehoben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 09.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.04.2017 verurteilt, dem Kläger aufgrund eines Leistungsfalles am 28.11.2017 ab dem 01.06.2018 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit bis zum 31.12.2019 in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.

Die Beklagte erstattet dem Kläger die Hälfte seiner außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger gegen die Beklagte ein Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung seit 01.05.2016 zusteht.

Der 1964 geborene Kläger war nach einer abgebrochenen Ausbildung bei der Bahn zuletzt als Maschinenbediener bzw. Verpacker bis ca. September 2011 versicherungspflichtig beschäftigt. Zuletzt stand er im Bezug von Leistungen nach dem SGB II.

Der Kläger beantragte auf Veranlassung des JobCenters des O. beim Landkreis Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und wurde zugleich zur Rentenantragstellung bei der Beklagten aufgefordert. Dort beantragte er am 22.05.2013 die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Mit Bescheid vom 12.12.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.03.2014 lehnte die Beklagte die begehrte Rente ab. Nach durchgeführtem Gerichtsverfahren beim Sozialgericht (SG) Ulm nahm der Kläger am 04.03.2016 seine Berufung im Verfahren L 4 R 3639/15 zurück.

Am 09.05.2016 beantragte der Kläger erneut die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Der Kläger gab an, seit 24.06.2015 eine Rückenorthese zu tragen, er habe auch Beschwerden durch Epilepsie und Knieschmerzen.

Die Beklagte berücksichtigte die Unterlagen des früheren Rentenverfahrens und nahm ärztliche Berichte und Unterlagen zu den Akten. Außerdem begutachtete der Facharzt für Orthopädie Dr. E. den Kläger (Gutachten vom 12.07.2016; Untersuchung des Klägers am 11.07.2016). Er diagnostizierte ein lumbales Facettensyndrom bei Bandscheibendegenerationen und Spondylarthrosen mit lokaler und pseudoradikulärer Symptomatik, kernspintomografisch gesicherter Bandscheibenvorfall L5/S1 ohne radikuläre Symptomatik, und Arthroseveränderungen beider Kniegelenke bei Zustandsbild nach mehrfachen operativen Behandlungen mit geringem Streckdefizit auf der rechten Seite und vollständiger Beugefähigkeit beider Seiten ohne Kapselreizerscheinungen, leichte Insuffizienzen der vorderen Kreuzbandführung und der lateralen Seitbandführung am rechten Kniegelenk und sah den Kläger für Bürotätigkeiten bei der Deutschen Bahn, als Kommissionierer und Lagerarbeiter sowie hinsichtlich leichter bis mittelschwerer Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leistungsfähig im Umfang von 6 Stunden und mehr täglich, ständig im Sitzen, zweitweise im Gehen und Stehen sowie unter Beachtung qualitativer Einschränkungen hinsichtlich des Bewegungs- und Haltungsapparates sowie hinsichtlich von Gefährdungs- und Belastungsfaktoren. Dieser Beurteilung schloss sich der Beratungsarzt Dr. Z. an.

Mit Bescheid vom 09.08.2016 lehnte die Beklagte die Gewährung der begehrten Rente ab. Der Kläger sei in der Lage, noch mindestens 6 Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein.

Hiergegen erhob der Kläger am 02.09.2016 Widerspruch (von seinem behandelnden Arzt werde er als arbeitsunfähig erachtet), den die Beklagte unter Berücksichtigung von beigezogenen bzw. vorgelegten Arztunterlagen und der beratungsärztlichen Stellungnahme von Dr. Z. vom 17.03.2017 mit Widerspruchsbescheid vom 07.04.2017 zurückwies.

Hiergegen hat der Kläger am 24.04.2017 beim SG Klage erhoben. Zweimal am Tag müsse er ein Antiepileptikum einnehmen. Es sei auch eine deutliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes eingetreten. Die Schmerzen zögen sich bis ins rechte Bein. Auch bestehe eine Alkoholabhängigkeit und eine schwerwiegende Schädigung der Rotatorenmanschette am linken Schultergelenk. Am rechten Arm seien die Schleimbeutel entfernt, dieser sei nur eingeschränkt beweglich und einsetzbar. Außerdem habe er Dauerdurchfall.

Das SG hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung der den Kläger behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen. Dr. S. , Fachärztin für Orthopädie usw. hat dem SG am 06.07.2017 geschrieben (Blatt 26/30 der SG-Akte) aufgrund mangelnder Konzentrationsfähigkeit (Epilepsie) könne der Kläger keine Tätigkeit von mehr als 4 Stunden ausüben. Der Facharzt für Psychiatrie und Neurologie usw. Dr. Sch. hat dem SG am 24.07.2017 (Blatt 31/32 der SG-Akte) geschrieben, es bestehe eine Epilepsie mit Grandmal-Anfällen, der Verdacht auf Synkopen, eine Alkoholabhängigkeit und ein Tilidin-Missbrauch. Der Allgemeinmediziner Dr. T. hat dem SG mitgeteilt (Blatt 33/38 der SG-Akte), der Kläger könne nicht 6 Stunden erwerbstätig sein.

Die Beklagte hat hierzu die beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. Z. , Facharzt für Innere Medizin, Sozialmedizin, vom 22.08.2017 vorgelegt. Der Kläger hat das Attest des Dr. T. vom 05.09.2017 vorgelegt.

Das SG hat nunmehr Beweis erhoben durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens bei Dr. S ... Dieser hat in seinem Gutachten vom 04.12.2017 (Blatt 47/80 der SG-Akte; Untersuchung des Klägers am 28.11.2017) eine psychische und Verhaltensstörung durch Alkoholabhängigkeitssyndrom, eine Epilepsie mit generalisierten Anfällen, eine äthyltoxische Polyneuropathie und ein chronisches Schmerzsyndrom angegeben. Die Alkoholkrankheit könne nicht ohne Therapie überwunden werden. Eine anhaltende Alkoholkarenz könne nur erreicht werden, wenn beim Kläger eine Krankheits- und Behandlungseinsicht vorhanden sei. Diese seien aber nicht gegeben. Diese aber vorausgesetzt sei damit zu rechnen, dass bei einer ambulanten und/oder stationären Suchtbehandlung mit Entzugs- und Langzeittherapie die Krankheit und damit die psychischen Einschränkungen dauerhaft überwunden werden könnten. Tätigkeiten könnten dann bis zu einer Höchstdauer von mindestens 6 Stunden je Arbeitstag unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen ausgeübt werden.

Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 12.04.2018 die Klage abgewiesen. Der Kläger sei in der Lage, leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten in sitzender Tätigkeit mindestens 6 Stunden täglich zu verrichten.

Gegen den seinem Bevollmächtigten am 20.04.2018 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 07.05.2018 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung eingelegt. Er sei seit seiner Bundeswehrzeit dem Alkoholmissbrauch unterworfen. Der psychische und physische Zerfall sei nicht zu übersehen.

Der Kläger beantragt sinngemäß, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 12.04.2018 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 09.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.04.2017 zu verurteilen, ihm ab 01.05.2016 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte ist der Berufung entgegengetreten und hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Es habe ein 6-stündiges Leistungsvermögen festgestellt werden können. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien erfüllt bis laufend (Schreiben vom 17.07.2018, Blatt 21/22 der Senatsakte). Die Aussage von Dr. S. bedürfe insoweit der Klarstellung, dass eine Entwöhnungsbehandlung (stationär und ambulant) i.d.R. einen Zeitraum von 1 bis 2 Jahre umfasse. Damit sei keineswegs ausgesagt, dass in dieser Zeit eine Leistungsfähigkeit nicht bestehen würde. Lediglich für die Dauer einer mehrmonatigen Behandlung in einer Entwöhnungseinrichtung müsste von Arbeitsunfähigkeit ausgegangen werden. Die Entwöhnungsnachsorge finde in ambulanten Zentren statt, welche z.B. auch abends besucht werden könnten (z.B. anonyme Alkoholiker S. G., Beratungsstelle Kreisdiakonieverband O. usw.). Dies setze aber den Willen zur dauerhaften Entwöhnung voraus, welcher beim Kläger seit Jahrzehnten nicht gegeben sei. Solange jedoch die willentliche Steuerbarkeit grds. erhalten sei, und die fortlaufenden Schädigungen an Nerven und Organen noch nicht signifikant hoch seien, bestehe ein entsprechend festzusetzendes Leistungsvermögen fort. Der willentlich fortgesetzte Alkoholmissbrauch ändere hieran nichts. Dies entspreche auch der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BSG.

Vom Senat ergänzend befragt hat Dr. S. mit Schreiben vom 23.08.2018 (Blatt 29/35 der Senatsakte) u.a. ausgeführt, er sei davon ausgegangen, dass der Kläger nach einer Alkoholentzugstherapie in der Lage wäre, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, mindestens 6 Stunden arbeitstäglich leichte Tätigkeiten zu verrichten. Für eine Therapie der Alkoholabhängigkeit würde er davon ausgehen, dass mindestens ein Jahr verstreiche, bis über eine ambulante Suchttherapie, ggf. stationären Alkoholentzug und Motivationstherapie in einer psychiatrischen Suchtfachklinik sowie eine stationäre Langzeittherapie eine Arbeitsfähigkeit erreicht werde. Hinzu kämen die Wartezeiten für Antragsstellung, Bearbeitung der Leistungsträger und ähnliches. Bei einem eigenmotivierten Probanden und reibungslosen Therapieverlauf sowie Kostenübernahme durch die Leistungsträger würde er ein Jahr bis zum Abschluss einer erfolgreichen Therapie veranschlagen. Bei einem nicht optimalen Verlauf könnte jedoch auch mit zwei Jahren gerechnet werden. Der Kläger trinke täglich 4 Flaschen Bier sowie eine halbe Flasche Jägermeister, 0,7 Liter. Die Mindestvoraussetzung für eine Arbeitsfähigkeit wäre ein qualifizierter Alkoholentzug mit nachfolgender Abstinenz. Eine Motivations- oder Langzeittherapie für eine weitere Abstinenz zur Festigung des Abstinenzwillens wäre jedoch keine zwingende Voraussetzung. Der Kläger sei zum Zeitpunkt seiner Begutachtung ohne Therapie nicht arbeitsfähig gewesen. Er halte eine qualifizierte stationäre Entzugstherapie über ca. l Woche für medizinisch indiziert. Danach könnte der Kläger leichte körperliche Arbeiten, mit den Einschränkungen, an einem leidensadäquaten Arbeitsplatz, unter einer zumutbaren Willensanstrengung verrichten.

Die Beklagte hat hierzu mit Schreiben vom 05.09.2018 Stellung genommen (Blatt 36 der Senatsakte). Der ergänzenden Stellungnahme des Dr. S. sei zu entnehmen, dass der Kläger nach einer qualifizierten stationären Entzugstherapie von 1 Woche in der Lage wäre, leichte körperliche Arbeiten unter einer zumutbaren Willensanstrengung zu verrichten. Eine Motivations- oder Langzeittherapie für eine weitere Abstinenz zur Festigung des Abstinenzwillens seien nach den Ausführungen des Gutachters hingegen keine zwingende Voraussetzung für das Bestehen von Arbeitsfähigkeit. Auch sei die willentliche Steuerbarkeit grundsätzlich erhalten. Der Kläger gebe selbst an, dass er jederzeit in der Lage sei, mit dem Trinken aufzuhören. Er habe auch den Alkohol über einige Zeit weggelassen. Der willentlich fortgesetzte Alkoholkonsum könne jedoch keinen Rentenanspruch begründen.

Der Kläger hat mit Schreiben vom 13.11.2018 (Blatt 44/46 der Senatsakte) darauf hingewiesen, dass er aus eigenem Antrieb, gerade auch im Hinblick auf die jahrelange andauernde Alkoholsucht überhaupt nicht mental und willentlich in der Lage sei, sich einer Suchttherapie zu unterziehen. In seinem Umfeld lebten so gut wie nur alkoholabhänge oder drogensüchtige Menschen. Er sei auch schon im Hinblick darauf überhaupt nicht in der Lage, ohne Alkohol zu leben. Er würde, sollte er tatsächlich eine einwöchige Suchttherapie - Entzug - hinter sich bringen, sofort wieder rückfällig, sobald er in sein Wohnumfeld zurückkomme. Schließlich seien vom Sachverständigen, der sich wohl nur auf die neurologischen und psychiatrischen Belange beziehe, die sonstigen Erkrankungen nicht berücksichtigt. Er habe letztendlich seine Gesundheit, auch seine körperliche Gesundheit, ruiniert. Auch bei Durchführung einer Entzugsmaßnahme werde diese körperliche Zerstörung nicht rückgängig gemacht. Er habe dargestellt, dass er überhaupt nicht in der Lage sei, ohne die Benutzung eines Rollators beweglich zu sein. Allein schon die bestätigte Epilepsieerkrankung und die einhergehenden epileptischen Anfälle verböten es, ihn in einen Arbeitsprozess zu bringen. Abgesehen davon werde er vor seinem Hintergrund überhaupt keine Arbeit finden. Der Kläger weist im Übrigen auf seine alkoholische Polyneuropathie und eine Gangstörung hin.

Nach Anhörung der Beteiligten hat der Senat die Berufung mit Beschluss vom 16.11.2018 nach § 153 Abs. 5 SGG dem Berichterstatter übertragen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Senatsakte sowie die beigezogenen Akten des SG und der Beklagten Bezug genommen

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG) entschieden hat, ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig und in der Sache teilweise begründet.

Über die Berufung konnte der Berichterstatter zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheiden, nachdem das SG mit Gerichtsbescheid vom 12.04.2018 entschieden hatte und die Berufung dem Berichterstatter durch Beschluss des Senates nach § 153 Abs. 5 SGG übertragen worden war. Der Senat hat keine Gründe feststellen können, die eine Entscheidung durch den ganzen Senat erforderlich machen, solche waren auch nicht in der Anhörung von den Beteiligten mitgeteilt worden.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 09.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.04.2017 erweist sich nach Prüfung durch den Senat als rechtswidrig. Der Kläger wird dadurch in seinen Rechten verletzt. Er hat aufgrund eines Leistungsfalles am 28.11.2017 ab dem 01.06.2018 Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit ab dem 01.06.2018 bis zum 31.12.2019; ein weitergehender Rentenanspruch steht dem Kläger nicht zu. Dementsprechend waren der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 09.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.04.2017 sowie der Gerichtsbescheid des SG vom 12.04.2018 abzuändern bzw. aufzuheben.

Gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind (Satz 1 Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Satz 1 Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Satz 1 Nr. 3). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (Satz 2). Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben - bei im Übrigen identischen Tatbestandsvoraussetzungen - Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Gemäß § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Der Senat konnte feststellen, dass der Kläger derzeit nicht in der Lage ist, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts unter Beachtung qualitativer Leistungsbeschränkungen an 5 Tagen pro Woche (arbeitstäglich) 6 Stunden und mehr auszuüben. Grundlage dieser Überzeugung sind die vorliegenden Befundberichte und Angaben der behandelnden Ärzte sowie das Gutachten des Dr. S. und dessen ergänzende Auskunft.

Der Senat stellt aufgrund des Gutachtens von Dr. S. fest, dass beim Kläger eine psychische und Verhaltensstörung durch Alkoholabhängigkeitssyndrom, eine Epilepsie mit generalisierten Anfällen, eine äthyltoxische Polyneuropathie und ein chronisches Schmerzsyndrom besteht.

Dr. S. hat ausgeführt, dass die Alkoholkrankheit nicht ohne Therapie überwunden werden kann. Eine anhaltende Alkoholkarenz kann nur erreicht werden, wenn beim Kläger eine Krankheits- und Behandlungseinsicht vorhanden ist, die aber derzeit nicht gegeben ist. Nach Vorliegen einer solchen Einsicht rechnet Dr. S. damit, dass der Kläger bei einer ambulanten und/oder stationären Suchtbehandlung mit Entzugs- und Langzeittherapie die Krankheit und damit die psychischen Einschränkungen dauerhaft überwinden kann.

An qualitativen Einschränkungen hat Dr. S. angegeben, dass aufgrund der Alkoholkrankheit das Umstellungs- und Anpassungsvermögen gemindert ist. Tätigkeiten mit Verantwortung für Personen, Maschinen, Publikumsverkehr, Überwachung und Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge, Führen von Kraftfahrzeugen und Flurförderfahrzeugen seien nicht möglich. Diese qualitativen Leistungseinschränkungen stellt der Senat fest. Darüber hinaus bestehen mit Dr. S. und den behandelnden Ärzten wegen der degenerativen Wirbelsäulen- und Gelenksveränderungen Einschränkungen als Arbeiten mit schwerem Heben, Tragen und Bewegen von Lasten, Tätigkeiten in Zwangshaltungen, wie auch häufiges Bücken entfallen. Aufgrund der Gefährdungsfaktoren durch die Epilepsie mit generalisierten Anfällen entfallen Arbeiten mit Tätigkeiten auf Treppen, Leitern und Gerüsten sowie das Führen von Kraftfahrzeugen/Flurförderfahrzeugen und das Hantieren mit schnell laufenden Maschinen, wie Z.B. ungeschützten Bohrern, Fräsen und Sägen. Der Senat stellt auch unter Berücksichtigung der Polyneuropathie diese weiteren qualitativen Leistungseinschränkungen fest. Leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten, wie z.B. Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen, können damit auch unter Berücksichtigung der Epilepsie und der Polyneuropathie noch in sitzender Position verrichtet werden, wenn die aufgrund der Alkoholkrankheit bestehenden Leistungseinschränkungen beseitigt sind.

Während der Senat mit dem Gutachter Dr. S. und den dem Orthopäden Dr. S. , der eine zeitliche Leistungseinschränkung nur durch die neurologisch-psychiatrischen Erkrankungen gesehen hatte, durch die Epilepsieerkrankung, die Polyneuropathie und die bestehenden orthopädischen Erkrankungen keine Einschränkung der zeitlichen Leistungsfähigkeit feststellen kann, reduziert die Alkoholkrankheit das Leistungsvermögen des Klägers nicht nur in qualitativer Hinsicht, sondern auch in zeitlicher/quantitativer Hinsicht. Denn auf der Grundlage des Gutachtens von Dr. S. und dessen ergänzender Stellungnahme steht für den Senat fest, dass der Kläger erst dann wieder in der Lage ist, die gerade beschriebenen leichten bis mittelschweren körperlichen Arbeiten in sitzender Haltung 6 Stunden und mehr arbeitstäglich zu verrichten, wenn nach einer ambulanten und/oder stationären Suchtbehandlung mit Entzugs- und Langzeittherapie die Krankheit und damit die psychischen Einschränkungen dauerhaft überwunden sind. Der Kläger ist nach Dr. S. , wobei sich der Senat dessen Auffassung anschließt, erst nach Durchführung einer Alkoholentzugstherapie in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, mindestens 6 Stunden arbeitstäglich leichte Tätigkeiten zu verrichten.

Für eine solche Therapie der Alkoholabhängigkeit geht Dr. S. davon aus, dass mindestens ein Jahr verstreicht, bis über eine ambulante Suchttherapie, ggf. stationären Alkoholentzug und Motivationstherapie in einer psychiatrischen Suchtfachklinik sowie eine stationäre Langzeittherapie eine Arbeitsfähigkeit erreicht wird. Daher genügt auch ein qualifizierter Alkoholentzug von 1 Woche nicht um die Erwerbsfähigkeit des Klägers wiederherzustellen.

Dass eine solche Langzeittherapie neben einer bestehenden Erwerbsfähigkeit bzw. Erwerbstätigkeit durchgeführt werden kann, ist dem Gutachten von Dr. S. ebenso wenig zu entnehmen wie seiner ergänzenden Stellungnahme. Vielmehr hat dieser ein 6-stündiges Leistungsvermögen erst nach einer solchen Therapie, also nach deren Abschluss, angenommen, weshalb es unerheblich ist, ob die Therapie tagsüber oder abends stattfindet.

Damit besteht beim Kläger derzeit eine Erwerbsfähigkeit von weniger als 6 Stunden arbeitstäglich, auch für leichte Tätigkeiten. Der Senat kann dagegen keine Erwerbsfähigkeit von nur noch weniger als 3 Stunden arbeitstäglich feststellen. So hat auch Dr. S. ein Leistungsvermögen von noch 4 Stunden arbeitstäglich angenommen. Auch Dr. T. hat kein unter 3 Stunden liegendes Leistungsvermögen beschrieben, er hat den Kläger nur nicht für in der Lage gehalten, 6 Stunden arbeitstäglich erwerbstätig zu sein.

Damit stellt der Senat fest, dass beim Kläger derzeit ein Leistungsvermögen von weniger als 6 Stunden und mehr als 3 Stunden arbeitstäglich besteht. Der Senat stellt auch fest, dass dieses so geminderte Leistungsvermögen erst bei der Untersuchung durch Dr. S. objektiviert werden konnte. Zuvor mag das Leistungsvermögen möglicherweise bereits gemindert gewesen sein, Art und Ausmaß dieser Leistungsminderung konnten jedoch erst durch die Untersuchung bei Dr. S. am 28.11.2017 mit einer an Gewissheit grenzenden Sicherheit festgestellt werden, sodass der Senat den Eintritt des Leistungsfalles am 28.11.2017 feststellt.

Diese Minderung der zeitlichen Leistungsfähigkeit kann jedoch behoben werden. Dr. S. hat mitgeteilt, dass der Kläger nach einer Alkoholentzugstherapie wieder in der Lage sein wird, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens 6 Stunden arbeitstäglich leichte Tätigkeiten zu verrichten. Nach einer solchen Therapie – der Senat schließt sich der Einschätzung des Gutachters Dr. S. an, wonach die Therapie unter Berücksichtigung von Vorbereitungs-/Antragszeiten insgesamt ein Jahr dauern wird - kann der Kläger wieder leichte körperliche Arbeiten, mit den sonstigen, bereits zuvor dargestellten Einschränkungen an einem leidensadäquaten Arbeitsplatz und unter einer zumutbaren Willensanstrengung verrichten. Damit ist nicht unwahrscheinlich, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann (§ 102 Abs. 2 5 SGB VI).

Auch aus der bisherigen Rechtsprechung ergibt sich nichts Anderes. Die Entscheidung des BSG vom 29.03.2006 – B 13 RJ 31/05 R - befasst sich mit der Frage, wann eine rentenrechtlich relevante Besserungsaussicht im Sinne des § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI mit der Folge besteht, dass eine Befristung der Rente nicht in Betracht kommt. In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, dass alle therapeutischen Möglichkeiten in Betracht gezogen werden müssen, um ein qualitatives oder quantitatives Leistungshindernis zu beheben. Diese schließen alle Therapiemöglichkeiten nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ein, also auch Operationen. Dies gilt unabhängig davon, ob diese duldungspflichtig sind, da sich die Frage der Duldungspflicht allein im Bereich der Mitwirkungsobliegenheiten des Versicherten stellt, der Gedanke aus § 65 Absatz 2 SGB I jedoch nicht in das Rentenrecht übertragen werden kann, da die §§ 60 ff. SGB I verfahrensrechtliche Konsequenzen betreffen, aber einen materiell-rechtlichen Anspruch voraussetzen und § 102 SGB VI gerade den materiell-rechtlichen Anspruch betrifft (BSG vom 29.03.2006 – B 13 RJ 31/05 R - juris). Nachdem der Senat vorliegend aufgrund der Besserungsmöglichkeit nur über eine befristete Rente zu entscheiden hatte, kann dahinstehen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung einer Dauerrente vorgelegen haben.

In der Entscheidung des BSG vom 12.09.1990 (BSG vom 12.09.1990 – 5 RJ 88/89 - juris) ist dargelegt, dass seelisch bedingte Störungen wie eine körperliche Krankheit anzusehen sind, wenn sie durch Willensentschlüsse des Betroffenen nicht oder nicht mehr zu beheben sind, wobei zu prüfen ist, ob der Versicherte die seelischen Hemmungen entweder aus eigener Kraft (vgl. auch BSG vom 21.10.1969 – 11 RA 219/66- juris) oder unter ärztlicher Mithilfe überwinden kann. Wenn das möglich ist, muss der Versicherte alle verfügbaren Mittel einsetzen, die Rente ist nur dann abzulehnen, wenn im Einzelfall die Prognose zuverlässig gestellt werden kann, dass die Ablehnung der Rente bei dem betroffenen Versicherten die neurotischen Erscheinungen ohne weiteres verschwinden lässt, da es mit dem Sinn und Zweck der Rentengewährung unvereinbar wäre, dass gerade die Rentengewährung den Zustand aufrecht erhält, dessen nachteilige Folge sie ausgleichen soll (BSG vom 12.09.1990 – 5 RJ 88/89 - juris). Insoweit konnte der Senat, gestützt auf das Sachverständigengutachten des Dr. S. , feststellen, dass die beim Kläger festzustellende Gesundheitsstörung nicht ohne Therapie überwunden werden kann, sodass sich durch eine bloße Willensanstrengung weder die Grunderkrankung noch aus ihr resultierende Funktionsdefizite überwinden lassen. Eine zuverlässige Prognose dahingehend, dass bei Ablehnung der Rente auch die krankhaften Erscheinungen entfallen, lässt sich daher gerade nicht stellen, sodass sich hierauf, auch nach der Rechtsprechung des BSG, gerade keine Rentenablehnung stützen lässt.

Soweit die Entscheidungen des Bayrischen LSG (vom 21.01.2015 – L 19 R 394/10, juris; vom 21.03.2012 – L 19 R 35/08, juris) darauf abstellen, dass bei den Erkrankungen die Behandlungsoptionen nicht ausgeschöpft seien und somit kein nicht mehr beeinflussbarer Gesundheitszustand bestehe oder festzustellen war, dass die psychische Erkrankung unter zumutbarer Anstrengung des eigenen Willens, jedenfalls aber durch ärztliche und therapeutische Hilfe überwunden werden kann, führt dies vorliegend ebenfalls nicht weiter. Zwar geht auch der Senat grundsätzlich davon aus, dass bei einer fehlenden nachhaltigen Behandlung eine psychische Erkrankung, wozu der Senat auch eine Alkoholabhängigkeit zählt, nicht als rentenrechtlich relevant angesehen werden kann (Senatsurteil vom 23.03.2018 – L 8 R 1479/16 -, n.v.), jedoch liegt ein solcher Fall beim Kläger nicht vor. Denn der Kläger ist erst nach Durchführung der von Dr. S. angegebenen und auf ein Jahr geschätzten Therapien in der Lage, wieder erwerbstätig zu sein. Daher kann er nicht darauf verwiesen werden, dass sein Leistungsvermögen bereits innerhalb von 6 Monaten gebessert werden kann, denn das konnte der Senat mit dem Gutachter gerade nicht feststellen.

Damit liegt bei einem Leistungsvermögen von mehr als 3 aber weniger als 6 Stunden arbeitstäglich Erwerbsminderung vor. Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann - jedoch nicht innerhalb von 6 Monaten – sodass weder teilweise noch volle Erwerbsminderung unbefristet anzunehmen ist. Damit ist dem Kläger an sich eine befristete Rente wegen teilweiser, wegen der noch immer angenommenen Verschlossenheit des allgemeinen Teilzeitarbeitsmarktes, jedoch wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Ausgehend vom Leistungsfall am 28.11.2017 werden befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des 7. Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet, sodass die Rente ab 01.06.2018 zu leisten ist. Die Rente ist zu befristen bis bei der von Dr. S. angenommenen Therapiedauer die Erwerbsminderung prognostisch beseitigt ist. Dafür ist eine Therapie für die Dauer eines Jahres anzunehmen, sodass die Rente bis zum 31.12.2019 zu befristen ist. In dieser Zeit werden Kläger und Beklagte die Möglichkeit und Obliegenheit haben, die Erwerbsfähigkeit durch ersthafte und zielorientierte Therapien wiederherzustellen und daran mitzuwirken.

Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) steht dem 1964 geborenen Kläger bereits aus Rechtsgründen nicht zu.

Auf die Berufung des Klägers war daher der Gerichtsbescheid des SG und die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten abzuändern bzw. aufzuheben. Im Übrigen war die Berufung des Klägers zurückzuwiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
Saved