L 5 KR 33/05

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 47 KR 291/04
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KR 33/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts München vom 9. Februar 2005 und der Bescheid der Beklagten vom 11. November 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Februar 2004 aufgehoben.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Rückforderung von Leistungen, die die Beklagte zugunsten des Klägers erbracht hat.

Der 1970 geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger und im Frühjahr 2000 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Hier war er erstmals vom 16.02.2001 bis 20.04.2001 beschäftigt und deshalb pflichtversichertes Mitglied der Beklagten. Der Arbeitgeber der Beschäftigung meldete den Kläger erst am 28.08.2003 bei der Beklagten rückwirkend zum Ende der Beschäftigung ab.

Der Kläger, der nach Ende der Beschäftigung Leistungen der Sozialhilfe erhielt, und der angibt, vom zuständigen Träger die Auskunft erhalten zu haben, er sei allenfalls über die Beklagte noch krankenversichert, wurde vom 9. bis 14. September, 4. bis 13. sowie 14. bis 18. Dezember 2001 stationär behandelt. Dabei legte er die Krankenversicherungskarte der Beklagten vor. Für diese Klinikaufenthalte sowie für Krankentransporte am 4. Dezember 2001 sowie 2. März 2002 wandte die Beklagte insgesamt 5.585,76 EUR auf.

Auf Anfrage der Beklagten vom 13. Oktober 2003 erschien der Kläger am 3. November 2003 in deren Geschäftsstelle und erklärte, er sei noch immer bei ihr versichert. Dies habe man ihm bei der Sozialhilfeverwaltung erklärt, welche dargestellt habe, dass er von dort keine Krankenversicherung erhalten könne. Die Beklagte zog daraufhin die Krankenversichertenkarte gegen den Protest und den Widerstand des Klägers ein.

Mit Bescheid vom 11. November 2003 hob die Beklagte die Leistungsbewilligung auf und forderte ihre Aufwendungen von insgesamt EUR 5.585,76 vom Kläger ein. Dessen Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 19.02.2004). Die Beklagte führte zur Begründung aus, sie habe stationäre Leistungen erbracht und dies dem Kläger bekanntgegeben, so dass ein Verwaltungsakt vorliege. Weil jedoch kein relevanter Unterschied zur Bewilligung mit Verwaltungsakt oder ohne Verwaltungsakt bestehe, müsse der Kläger jedenfalls die zu Unrecht erbrachten Leistungen zurückerstatten. Dieser könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, weil er infolge grober Fahrlässigkeit davon ausgegangen war, er sei noch immer über das Ende der Beschäftigung hinaus bei der Beklagten pflichtversichert. Dies zeige auch sein Protest und Widerstand gegen das Verlangen, die Krankenversicherungskarte zurückzugeben. Zudem habe der Kläger ein Merkblatt zu seiner Mitgliedschaft erhalten, aus welchem er die Pflichten als Versicherter und das Ende der Krankenversicherung hätte entnehmen müssen.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht München hat der Kläger geltend gemacht, im Zeitpunkt seiner Beschäftigung als Produktionshelfer habe er Deutsch in Wort und Schrift nur sehr schwer verstanden. Daran habe auch ein Deutschkurs von April bis August 2001 sowie ein Integrationskurs vom Dezember 2002 bis März 2003 kaum etwas geändert. In Unkenntnis des deutschen Sozialversicherungsrechts sei er gutgläubig davon ausgegangen, er sei bei der Beklagten versichert.

Mit Urteil vom 09.02.2005 hat das Sozialgericht die Klage im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, die Kosten der infolge der Nichtkenntnis des Endes der Mitgliedschaft irrtümlich erbrachten Leistungen müsse der Kläger erstatten. Ihm sei wenigstens grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen, er habe nicht auf das Fortbestehen der Mitgliedschaft vertrauen dürfen. Anlässlich der erhaltenen Erstinformationen durch die Beklagte sowie aufgrund der Beratung durch das Sozialamt sei ihm bewusst gewesen, dass er im Krankheitsfall keine Leistungen beanspruchen könne. Zumindest hätte er sich Auskunft und Beratung von der Beklagten holen können, welche diese mit einem flächendeckenden Netz von Beratungsstellen zur Verfügung stelle. Auf mangelnde Deutschkenntnisse könne sich der Kläger ebensowenig berufen wie auf die Nichtkenntnis des Merkblattes.

Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt und beantragt, das Urteil des Sozialgerichts München vom 9. Februar 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11.November 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Februar 2004 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Verwaltungsakten der Beklagten. Darauf sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge wird zur Ergänzung des Tatbestandes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 SGG) und auch begründet. Der streitgegenständliche Bescheid vom 11. November 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Februar 2004 ist rechtswidrig, weil er dem Kläger eine Rückzahlungspflicht auferlegt, ohne dass die dafür notwendige Rechtsgrundlage tatbestandlich erfüllt wäre. Die Entscheidung der Beklagten wird deshalb ebenso aufgehoben wie das Urteil des Sozialgerichts München vom 9. Februar 2005.

Soweit Leistungen ohne formellen Verwaltungsakt - wie hier - zu Unrecht erbracht worden sind, müssen sie erstattet werden, wobei §§ 45 und 48 SGB X entsprechend gelten (§ 50 Abs.2 SGB X). Dies bedeutet, dass die Rückforderung vom Begünstigten dann ausgeschlossen ist, wenn dieser auf den Bestand der Leistung vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit den öffenlichen Interessen an der Kostenerstattung schutzwürdig ist. Auf Vertrauen kann sich nicht berufen, wer die Rechtswidrigkeit der Leistung kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, falls der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs.2 SGB X).

Die formelle Darlegungslast für das Bestehen von grober Fahrlässigkeit trägt derjenige, welcher sich darauf beruft; die Nichterweislichkeit grober Fahrlässigkeit geht somit vorliegend zu Lasten der die Rückforderung geltend machenden Beklagten.

Der Kläger war aufgrund der versicherungspflichtigen Beschäftigung vom 16. Februar bis 20. April 2001 versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten (§ 7 Abs.1 SGB IV, § 5 Abs.1 Nr.1 SGB V, § 186 SGB V). Diese Mitgliedschaft endete mit dem Ende des Beschäftigungsverhältnisses, § 190 Abs.2 SGB V. Die stationäre Krankenhausbehandlungen, die die Beklagte im September und Dezember 2001 als Sachleistungen im Werte von 5.065,07 EUR erbracht hat sind damit ebenso zu Unrecht erbracht worden wie die Leistungen des Krankentransports am 4. Dezember 2001 und am 2. März 2002 (Kostensumme: EUR 820,69).

Bei diesen Leistungen handelt es sich um solche ohne Bescheid im Sinne von § 31 SGB X, es liegt eine Leistungserbringung im Sinne von § 50 Abs.2 SGB X vor. Der Kläger wäre deshalb grundsätzlich zur Erstattung der Leistungssummen verpflichtet (§ 50 Abs.2 Satz 1 SGB X); er kann sich jedoch auf Vertrauensschutz berufen.

Den Vertrauensschutz gewährt § 50 Abs.2 Satz 2 SGB X in Verbindung mit § 45 Abs.2 SGB X. Im Zeitpunkt der Leistungen war der Kläger noch Inhaber einer Krankenversichertenkarte der Beklagten, welche er rechtmäßig erhalten hatte. Dem Kläger kann nicht vorgehalten werden, er hätte wissen müssen, dass er mit Ende des Beschäftigungsverhältnisses im April 2001 nicht mehr versichert gewesen war. Insoweit ist maßgeblich, dass der Kläger im Irak aufgewachsen und erst 2001 in die Bundesrepublik eingereist war. Er hatte nur sehr schlechte Deutschkenntnisse und allenfalls rudimentäre Kenntnisse des hiesigen Rechtssystems, insbesondere des Sozialsystems und dessen Zusammenwirkung mit einer versicherungspflichtigen Beschäftigung. Nachweise dafür, dass der Kläger von der Beklagten, vom Arbeitgeber oder der Sozialhilfeverwaltung darüber aufgeklärt worden wäre, dass er nach Ende der Beschäftigung nicht mehr krankenversichert war, sind nicht vorhanden. Der Kläger gibt vielmehr glaubhaft an, dass die Sozialhilfeverwaltung ihm gesagt habe, er sei von ihr nicht krankenversichert. Dies erscheint in Anbetracht der damals bestehenden Krankenversicherungskarte der Beklagten auch glaubhaft. Hinweise darauf, dass der Arbeitgeber, welcher den Kläger erst mehr als zwei Jahre nach Beschäftigungsende bei der Beklagten abgemeldet hatte, diesen auf das Ende des Krankenversicherungsschutzes hingewiesen hätte, lassen sich weder dem Vorbringen der Beteiligten noch dem Akteninhalt entnehmen. Es spricht vielmehr die um Jahre verspätete pflichtwidrige Abmeldung des Versicherungsverhältnisses dafür, dass der Arbeitgeber den Kläger nicht ausreichend auf die sozialversicherungsrechtlichen Gegebenheiten hingewiesen hatte. Schließlich hat der Senat begründete Zweifel daran, dass die Beklagte den Kläger über das Ende der Krankenversicherung bei Ende des Beschäftigungsverhältnisses aufgeklärt hatte. Der Kläger gibt an, ein entsprechendes Merkblatt nicht erhalten zu haben; es fand sich auch nicht in den Unterlagen, welche der Kläger vorgelegt hatte. Ein Zustellungsnachweis lässt sich den Akten nicht entnehmen; ebensowenig sind Hinweise darauf enthalten, dass der Kläger dieses erhalten hätte oder dass darin ausreichende Erläuterungen enthalten gewesen wären.

Der Senat übersieht dabei nicht, dass der Kläger in seinem Heimatland die Hochschulreife erhalten hatte und dort über zwei Jahre selbständiger Kaufmann gewesen war. Er hatte somit nachweisbar in bedeutendem Umfange am Rechts- und Wirtschaftsverkehr teilgenommen und verfügt über wohl eher mehr als durchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten. Es ist jedoch nicht möglich, hieraus den Schluss zu ziehen, dass der Kläger sich auch in der deutschen Sozialversicherung und dem komplexen Verhältnis zwischen Beschäftigung, fortbestehendem Beschäftigungsverhältnis, Mitgliedschaft und Ende der Mitgliedschaft in der Krankenversicherung auskannte. Hieran ändert auch nichts, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Leistungserbringung an einem Deutschkurs bzw. an einem Integrationskurs teilgenommen hatte, die Teilnahme an diesen Kursen allein begründet keine positive Kenntnis oder ein "Wissen müssen" der engen Verbindung zwischen Beschäftigung und Krankenversicherung.

Das Verhalten des Klägers anlässlich der Vorsprache bei der Beklagten vom 3. November 2003 mit Rückforderung der Krankenversicherungskarte ist kein ausreichendes Indiz für eine grobe Fahrlässigkeit des Klägers. Vielmehr scheint es zu seinen Gunsten zu sprechen, wenn er sich als rechtmäßiger Inhaber der Krankenversicherungskarte wähnt und gegen die aus seiner Sicht rechtswidrige Einziehung dieser Karte protestiert und sich zur Wehr setzt.

Nach den gesetzlichen Regelungen ist somit das Vertrauen des Klägers auf das Bestehen des Krankenversicherungsverhältnisses schutzwürdig. Die Beklagte ist damit nicht berechtigt, die zu Unrecht erbrachten Krankenhaus- und Krankentransportleistungen vom Kläger zurück zu verlangen. Die angefochtene Entscheidung ist deshalb ebenso aufzuheben wie das bestätigende Urteil des Sozialgerichts München.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich, § 160 SGG.
Rechtskraft
Aus
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