Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 P 30/06
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 26/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Mai 2006 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob für die Gewährung von Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung die Vorversicherungszeiten nach § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) einzuhalten sind.
Die 1937 geborene Klägerin kam am 7. Juni 2003 als Spätaussiedlerin aus Kasachstan in die Bundesrepublik Deutschland. Seit 17. Juli 2003 ist sie bei der Beklagten versichert. Aufgrund eines Zustandes nach Schlaganfall (Apoplexie) mit spastischer Hemiparese links sowie einer arteriellen Hypertonie stellte sie am 17. Mai und 22. September 2004 Anträge auf Leistungen aus der Pflegeversicherung. Mit Schreiben vom 1. Juni und 28. September 2004 teilte die Beklagte ihr mit, dass ein Leistungsanspruch frühestens ab 17. Juli 2008 entstehen könne, und lehnte mit Bescheid vom 28. Oktober 2005 die Anträge ab, da die Vorversicherungszeit nach § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XI nicht erfüllt sei.
Zur Begründung des Widerspruchs wies die Klägerin darauf hin, dass Aussiedler nach dem Fremdrentengesetz (FRG) der einheimischen Bevölkerung gleichgestellt würden. In der Krankenversicherung seien Aussiedler jetzt nach § 5 Abs. 1 Ziff. 12 des Fünften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB V) versicherungspflichtig, wenn sie in den letzten zehn Jahren vor dem Bezug einer Rente aus dem Ausland zugezogen seien. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19. Januar 2006 zurück. Seit 1. Januar 1996 sei das Vorliegen von Vorversicherungszeiten nach § 33 SGB XI erforderlich. Ab 1. Januar 2000 müsse eine Vorversicherungszeit von mindestens fünf Jahren vorliegen. Da die Klägerin ihren Antrag erstmals im Mai 2004 gestellt habe, sei als Vorversicherungszeit die Regelung des § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XI mit einer fünfjährigen Vorversicherungszeit maßgeblich. Ein Leistungsanspruch könne daher frühestens ab 17. Juli 2008 entstehen.
Mit der hiergegen gerichteten Klage zum Sozialgericht Nürnberg begehrte die Klägerin die Gewährung von Pflegegeld. Im Renten- und im Krankenkassenrecht sei die Gleichstellung der Aussiedler festgehalten. Diese sei lediglich in der Pflegeversicherung noch nicht erfolgt. Die Gleichstellung würde bedeuten, einem Aussiedler nach einer Wartezeit von einem Jahr Pflegegeld zu zahlen. Ein Spätaussiedler müsse die gleichen Rechte haben; eine spätere Wohnsitznahme könne nicht zu einer Ablehnung führen.
Das Sozialgericht wies die Klage mit Urteil vom 15. Mai 2006 unter Bezugnahme auf die Begründung des Widerspruchsbescheides ab. Es müssten die Voraussetzungen des § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XI vorliegen. Dies sei jedoch nicht der Fall. Verfassungsrechtliche Bedenken bestünden nicht, insbesondere liege keine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Versicherten vor, die speziell Aussiedler treffe. § 33 Abs. 2 SGB XI gelte für alle Versicherten, unabhängig von den Gründen, die zu Lücken in der Versicherung geführt haben. Der Hinweis auf § 5 Abs. 1 Nr. 12 SGB V greife ebenfalls nicht.
Mit der Berufung machte die Klägerin geltend, eine Gleichstellung der Aussiedler sei im Bereich der Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung erreicht. Die in der Pflegeversicherung vorgesehene Wartezeit von fünf Jahren bei einer Einreise ab 2000 sei rechtswidrig, da im Herkunftsland keine Vorversicherungszeit erworben werden konnte. Für die Bevölkerung, die bereits 1995 im Bundesgebiet wohnte, habe es praktisch keine Wartezeit gegeben.
Die Beklagte vertrat die Auffassung, eine Ungleichbehandlung der Aussiedler sei nicht ersichtlich. Soweit in anderen Zweigen der Sozialversicherung keine oder kürzere Warte- oder Vorversicherungszeiten zu erfüllen seien, führe dies nicht zur Verfassungswidrigkeit des § 33 Abs. 2 SGB XI, da dem Gesetzgeber bei der Ausfüllung des Sozialstaatsprinzips ein weiter Gestaltungsspielraum zustehe. Der Gesetzgeber sei der Ansicht gewesen, die Einführung von Vorversicherungszeiten sei in dieser Form erforderlich, um eine Überforderung der Solidargemeinschaft der Versicherten zu vermeiden.
Die Beteiligten erklärten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Mai 2006 und den Bescheid vom 28. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Januar 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Pflegegeld zu gewähren, hilfsweise, den Rechtsstreit nach Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Mai 2006 zurückzuweisen.
Im Übrigen wird gemäß § 136 Abs. 2 SGG auf den Inhalt der Akte der Beklagten sowie der Klage- und Berufungsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), jedoch unbegründet. Der Senat vermag eine Verfassungswidrigkeit des § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XI nicht zu erkennen, so dass auch eine Aussetzung und Vorlage des Rechtsstreits an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG ausscheidet.
Der Senat konnte gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zustimmten.
Ein Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld scheitert bereits daran, dass die Klägerin die nach § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XI notwendigen Leistungsvoraussetzungen nicht erfüllt. Danach besteht ein Anspruch auf Leistungen in der Zeit ab 1. Januar 2000, wenn der Versicherte in den letzten zehn Jahren vor der Antragstellung mindestens fünf Jahre als Mitglied versichert oder nach § 25 SGB XI familienversichert war. Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin, die im Juni 2003 in die Bundesrepublik Deutschland einreiste und seit 17. Juli 2003 bei der Beklagten versichert ist, derzeit unstreitig nicht. Gemäß dem eindeutigen Wortlaut dieser Regelung gelten die Vorversicherungszeiten für alle Versicherten. Ausnahmen für (Spät-) Aussiedler sieht das Gesetz nicht vor; diese können auch nicht im Analogieschluss angenommen werden. Hiergegen spricht der eindeutige Wortlaut des § 33 Abs. 2 SGB XI sowie das Fehlen einer Regelungslücke. Der Gesetzgeber sah nämlich in § 33 Abs. 4 SGB XI eine Ausnahmeregelung für Personen, die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten, vor, nicht jedoch für sonstige Personengruppen.
Vielmehr heißt es in den Gesetzesmaterialien in der Begründung zu § 29 Pflegeversicherungsgesetz, der § 33 SGB XI entspricht:
"Zielsetzung des Pflegeversicherungsgesetzes ist es, alle bereits Pflegebedürftigen sofort bei In-Kraft-Treten des Gesetzes in den Versicherungsschutz einzubeziehen. Um die Solidargemeinschaft der Versicherten nicht zu überfordern, kann aber auf Dauer nicht von einer Vorversicherungszeit abgesehen werden. Es wäre sozialpolitisch nicht befriedigend, wenn jeder, der in die Bundesrepublik Deutschland zuwandert und Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung und damit Versicherter der sozialen Pflegeversicherung wird, sofort volle Leistungen der Pflegeversicherung für sich oder einen mitversicherten Familienangehörigen erhalten könnte, obwohl er noch keine oder nur eine geringe Vorleistung in Form von Beiträgen erbracht hat. Daher wird nach Abs. 2 die Vorversicherungszeit beginnend mit dem 1. Januar 1995 stufenweise eingeführt ..." (amtliche Begründung zu § 29 PflegeVG, BT-Drucks. 12/5262, abgedruckt in Hauck/Noftz, SGB XI, M 010 Seite 94, 95).
Damit bezweckte der Gesetzgeber vor dem Hintergrund des Schutzes der Solidargemeinschaft vor einer Überforderung ausdrücklich auch den Einbezug von Aussiedlern in die Notwendigkeit der Erfüllung der Leistungsvoraussetzungen nach § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XI.
Der Senat teilt nicht die von der Klägerin geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken, sie werde als Spätaussiedlerin durch die Regelung des § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XI diskriminiert, so dass auch eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG an das BVerfG nicht in Betracht kommt.
Durch das Erfordernis der Erfüllung von Vorversicherungszeiten ist die Klägerin nicht in ihrem Grundrecht nach Art. 3 Abs. 1 GG (allgemeiner Gleichheitssatz) verletzt. Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet nur, wesentliches Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Aus ihm ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen (BVerfG, Beschluss vom 21. Juni 2006, Az.: 2 BvL 2/99, NJW 2006, 2757).
Das BVerfG führt in seinem Urteil vom 3. April 2001 aus, es sei grundsätzlich Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, welche Merkmale er beim Vergleich von Lebenssachverhalten als maßgebend ansieht, um sie im Recht gleich oder verschieden zu behandeln (vgl. BVerfGE 50, 57, 77; st. Rspr.). Art. 3 Abs. 1 GG verbietet es ihm aber, dabei Art und Ausmaß der tatsächlichen Unterschiede sachwidrig außer Acht zu lassen. Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn der Gesetzgeber es versäumt hat, Ungleichheiten der zu ordnenden Lebenssachverhalte zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsdenken orientierten Betrachtungsweise beachtet werden müssen (vgl. BVerfGE 71, 255, 271). Innerhalb dieser Grenzen ist der Gesetzgeber in seiner Entscheidung frei (vgl. BVerfGE 94, 241, 260). Allerdings kann sich eine weiter gehende Einschränkung aus anderen Verfassungsnormen ergeben.
Eine Benachteiligung von Aussiedlern findet durch § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XI nicht statt. Der Gesetzgeber wollte ausdrücklich die Leistungsvoraussetzung einer Vorversicherungszeit auch auf Zuwanderer erstrecken, um die Solidargemeinschaft der Versicherten nicht zu überfordern. Die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Systems der sozialen Pflegeversicherung ist ein berechtigtes und schutzwürdiges Anliegen. Dies maßgebend zu berücksichtigen ist nicht sachwidrig. Es ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber Vorversicherungszeiten grundsätzlich für alle Versicherte in gleichem Maße festlegt. Durch die gestaffelte Regelung des § 33 Abs. 2 SGB XI ab dem Stichtag 1. Januar 1996 vermied er unbillige Härten gerade auch für Aussiedler, die im Ausland keine oder nicht anrechenbare Vorversicherungszeiten aufweisen. Im Übrigen ist diese Personengruppe nicht von den Versicherungsleistungen ausgeschlossen, da die notwendige Vorversicherungszeit im Laufe der Zeit erfüllt werden kann. Insoweit liegt auch ein wesentlicher Unterschied zur Versicherungsberechtigung in der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V bzw. zur Weiterversicherungsberechtigung nach § 26 Abs. 1 SGB XI (Leitherer, in: Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Bd. 2, § 33 SGB XI, Rdnr. 13).
Dabei durfte sich der Gesetzgeber auch einer Stichtagsregelung (1. Januar 1996) bedienen mit der Folge, dass auch Aussiedler, die vor dem 1. Januar 1996 einreisten und versicherungspflichtig wurden, sofort einen Anspruch auf Leistungen geltend machen konnten, während für die Zeit ab 1. Januar 1996 eine Vorversicherungszeit zu berücksichtigen ist. Das BVerfG hat in einem Nichtannahmebeschluss vom 11. März 1994 entschieden, dass der Gesetzgeber mit der Einführung von Stichtagen grundsätzlich nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Dem Gesetzgeber sei es durch Art. 3 Abs. 1 GG nicht verwehrt, zur Regelung bestimmter Lebenssachverhalte Stichtage einzuführen, obwohl jeder Stichtag unvermeidlich gewisse Härten mit sich bringt (BVerfG, SozR 3-5070 § 12 a des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung - WGSVG).
Schließlich ist dem Gesetzgeber im Bereich des Sozialversicherungsrechts als sog. Leistungsrecht ein nicht unerheblicher Gestaltungsspielraum zuzubilligen. Dies gilt vor allem auch bei der Einführung neuer sozialer Regelungen (s.a. BVerfG NJW 1992, 2213 ff) wie hier der sozialen Pflegeversicherung. Zum Schutz der einzelnen Versicherungszweige kann er deshalb durchaus zu unterschiedlichen Regelungen greifen. Die Bewertung ist vom Gesetzgeber für jeden Versicherungszweig in eigener Verantwortung zu treffen. Die Klägerin vermag daher aus den Regelungen der Renten-, Kranken-, Unfall- oder Arbeitslosenversicherung keine Rechtsansprüche für die Pflegeversicherung abzuleiten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob für die Gewährung von Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung die Vorversicherungszeiten nach § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) einzuhalten sind.
Die 1937 geborene Klägerin kam am 7. Juni 2003 als Spätaussiedlerin aus Kasachstan in die Bundesrepublik Deutschland. Seit 17. Juli 2003 ist sie bei der Beklagten versichert. Aufgrund eines Zustandes nach Schlaganfall (Apoplexie) mit spastischer Hemiparese links sowie einer arteriellen Hypertonie stellte sie am 17. Mai und 22. September 2004 Anträge auf Leistungen aus der Pflegeversicherung. Mit Schreiben vom 1. Juni und 28. September 2004 teilte die Beklagte ihr mit, dass ein Leistungsanspruch frühestens ab 17. Juli 2008 entstehen könne, und lehnte mit Bescheid vom 28. Oktober 2005 die Anträge ab, da die Vorversicherungszeit nach § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XI nicht erfüllt sei.
Zur Begründung des Widerspruchs wies die Klägerin darauf hin, dass Aussiedler nach dem Fremdrentengesetz (FRG) der einheimischen Bevölkerung gleichgestellt würden. In der Krankenversicherung seien Aussiedler jetzt nach § 5 Abs. 1 Ziff. 12 des Fünften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB V) versicherungspflichtig, wenn sie in den letzten zehn Jahren vor dem Bezug einer Rente aus dem Ausland zugezogen seien. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19. Januar 2006 zurück. Seit 1. Januar 1996 sei das Vorliegen von Vorversicherungszeiten nach § 33 SGB XI erforderlich. Ab 1. Januar 2000 müsse eine Vorversicherungszeit von mindestens fünf Jahren vorliegen. Da die Klägerin ihren Antrag erstmals im Mai 2004 gestellt habe, sei als Vorversicherungszeit die Regelung des § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XI mit einer fünfjährigen Vorversicherungszeit maßgeblich. Ein Leistungsanspruch könne daher frühestens ab 17. Juli 2008 entstehen.
Mit der hiergegen gerichteten Klage zum Sozialgericht Nürnberg begehrte die Klägerin die Gewährung von Pflegegeld. Im Renten- und im Krankenkassenrecht sei die Gleichstellung der Aussiedler festgehalten. Diese sei lediglich in der Pflegeversicherung noch nicht erfolgt. Die Gleichstellung würde bedeuten, einem Aussiedler nach einer Wartezeit von einem Jahr Pflegegeld zu zahlen. Ein Spätaussiedler müsse die gleichen Rechte haben; eine spätere Wohnsitznahme könne nicht zu einer Ablehnung führen.
Das Sozialgericht wies die Klage mit Urteil vom 15. Mai 2006 unter Bezugnahme auf die Begründung des Widerspruchsbescheides ab. Es müssten die Voraussetzungen des § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XI vorliegen. Dies sei jedoch nicht der Fall. Verfassungsrechtliche Bedenken bestünden nicht, insbesondere liege keine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Versicherten vor, die speziell Aussiedler treffe. § 33 Abs. 2 SGB XI gelte für alle Versicherten, unabhängig von den Gründen, die zu Lücken in der Versicherung geführt haben. Der Hinweis auf § 5 Abs. 1 Nr. 12 SGB V greife ebenfalls nicht.
Mit der Berufung machte die Klägerin geltend, eine Gleichstellung der Aussiedler sei im Bereich der Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung erreicht. Die in der Pflegeversicherung vorgesehene Wartezeit von fünf Jahren bei einer Einreise ab 2000 sei rechtswidrig, da im Herkunftsland keine Vorversicherungszeit erworben werden konnte. Für die Bevölkerung, die bereits 1995 im Bundesgebiet wohnte, habe es praktisch keine Wartezeit gegeben.
Die Beklagte vertrat die Auffassung, eine Ungleichbehandlung der Aussiedler sei nicht ersichtlich. Soweit in anderen Zweigen der Sozialversicherung keine oder kürzere Warte- oder Vorversicherungszeiten zu erfüllen seien, führe dies nicht zur Verfassungswidrigkeit des § 33 Abs. 2 SGB XI, da dem Gesetzgeber bei der Ausfüllung des Sozialstaatsprinzips ein weiter Gestaltungsspielraum zustehe. Der Gesetzgeber sei der Ansicht gewesen, die Einführung von Vorversicherungszeiten sei in dieser Form erforderlich, um eine Überforderung der Solidargemeinschaft der Versicherten zu vermeiden.
Die Beteiligten erklärten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Mai 2006 und den Bescheid vom 28. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Januar 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Pflegegeld zu gewähren, hilfsweise, den Rechtsstreit nach Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Mai 2006 zurückzuweisen.
Im Übrigen wird gemäß § 136 Abs. 2 SGG auf den Inhalt der Akte der Beklagten sowie der Klage- und Berufungsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), jedoch unbegründet. Der Senat vermag eine Verfassungswidrigkeit des § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XI nicht zu erkennen, so dass auch eine Aussetzung und Vorlage des Rechtsstreits an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG ausscheidet.
Der Senat konnte gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zustimmten.
Ein Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld scheitert bereits daran, dass die Klägerin die nach § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XI notwendigen Leistungsvoraussetzungen nicht erfüllt. Danach besteht ein Anspruch auf Leistungen in der Zeit ab 1. Januar 2000, wenn der Versicherte in den letzten zehn Jahren vor der Antragstellung mindestens fünf Jahre als Mitglied versichert oder nach § 25 SGB XI familienversichert war. Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin, die im Juni 2003 in die Bundesrepublik Deutschland einreiste und seit 17. Juli 2003 bei der Beklagten versichert ist, derzeit unstreitig nicht. Gemäß dem eindeutigen Wortlaut dieser Regelung gelten die Vorversicherungszeiten für alle Versicherten. Ausnahmen für (Spät-) Aussiedler sieht das Gesetz nicht vor; diese können auch nicht im Analogieschluss angenommen werden. Hiergegen spricht der eindeutige Wortlaut des § 33 Abs. 2 SGB XI sowie das Fehlen einer Regelungslücke. Der Gesetzgeber sah nämlich in § 33 Abs. 4 SGB XI eine Ausnahmeregelung für Personen, die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten, vor, nicht jedoch für sonstige Personengruppen.
Vielmehr heißt es in den Gesetzesmaterialien in der Begründung zu § 29 Pflegeversicherungsgesetz, der § 33 SGB XI entspricht:
"Zielsetzung des Pflegeversicherungsgesetzes ist es, alle bereits Pflegebedürftigen sofort bei In-Kraft-Treten des Gesetzes in den Versicherungsschutz einzubeziehen. Um die Solidargemeinschaft der Versicherten nicht zu überfordern, kann aber auf Dauer nicht von einer Vorversicherungszeit abgesehen werden. Es wäre sozialpolitisch nicht befriedigend, wenn jeder, der in die Bundesrepublik Deutschland zuwandert und Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung und damit Versicherter der sozialen Pflegeversicherung wird, sofort volle Leistungen der Pflegeversicherung für sich oder einen mitversicherten Familienangehörigen erhalten könnte, obwohl er noch keine oder nur eine geringe Vorleistung in Form von Beiträgen erbracht hat. Daher wird nach Abs. 2 die Vorversicherungszeit beginnend mit dem 1. Januar 1995 stufenweise eingeführt ..." (amtliche Begründung zu § 29 PflegeVG, BT-Drucks. 12/5262, abgedruckt in Hauck/Noftz, SGB XI, M 010 Seite 94, 95).
Damit bezweckte der Gesetzgeber vor dem Hintergrund des Schutzes der Solidargemeinschaft vor einer Überforderung ausdrücklich auch den Einbezug von Aussiedlern in die Notwendigkeit der Erfüllung der Leistungsvoraussetzungen nach § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XI.
Der Senat teilt nicht die von der Klägerin geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken, sie werde als Spätaussiedlerin durch die Regelung des § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XI diskriminiert, so dass auch eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG an das BVerfG nicht in Betracht kommt.
Durch das Erfordernis der Erfüllung von Vorversicherungszeiten ist die Klägerin nicht in ihrem Grundrecht nach Art. 3 Abs. 1 GG (allgemeiner Gleichheitssatz) verletzt. Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet nur, wesentliches Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Aus ihm ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen (BVerfG, Beschluss vom 21. Juni 2006, Az.: 2 BvL 2/99, NJW 2006, 2757).
Das BVerfG führt in seinem Urteil vom 3. April 2001 aus, es sei grundsätzlich Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, welche Merkmale er beim Vergleich von Lebenssachverhalten als maßgebend ansieht, um sie im Recht gleich oder verschieden zu behandeln (vgl. BVerfGE 50, 57, 77; st. Rspr.). Art. 3 Abs. 1 GG verbietet es ihm aber, dabei Art und Ausmaß der tatsächlichen Unterschiede sachwidrig außer Acht zu lassen. Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn der Gesetzgeber es versäumt hat, Ungleichheiten der zu ordnenden Lebenssachverhalte zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsdenken orientierten Betrachtungsweise beachtet werden müssen (vgl. BVerfGE 71, 255, 271). Innerhalb dieser Grenzen ist der Gesetzgeber in seiner Entscheidung frei (vgl. BVerfGE 94, 241, 260). Allerdings kann sich eine weiter gehende Einschränkung aus anderen Verfassungsnormen ergeben.
Eine Benachteiligung von Aussiedlern findet durch § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XI nicht statt. Der Gesetzgeber wollte ausdrücklich die Leistungsvoraussetzung einer Vorversicherungszeit auch auf Zuwanderer erstrecken, um die Solidargemeinschaft der Versicherten nicht zu überfordern. Die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Systems der sozialen Pflegeversicherung ist ein berechtigtes und schutzwürdiges Anliegen. Dies maßgebend zu berücksichtigen ist nicht sachwidrig. Es ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber Vorversicherungszeiten grundsätzlich für alle Versicherte in gleichem Maße festlegt. Durch die gestaffelte Regelung des § 33 Abs. 2 SGB XI ab dem Stichtag 1. Januar 1996 vermied er unbillige Härten gerade auch für Aussiedler, die im Ausland keine oder nicht anrechenbare Vorversicherungszeiten aufweisen. Im Übrigen ist diese Personengruppe nicht von den Versicherungsleistungen ausgeschlossen, da die notwendige Vorversicherungszeit im Laufe der Zeit erfüllt werden kann. Insoweit liegt auch ein wesentlicher Unterschied zur Versicherungsberechtigung in der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V bzw. zur Weiterversicherungsberechtigung nach § 26 Abs. 1 SGB XI (Leitherer, in: Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Bd. 2, § 33 SGB XI, Rdnr. 13).
Dabei durfte sich der Gesetzgeber auch einer Stichtagsregelung (1. Januar 1996) bedienen mit der Folge, dass auch Aussiedler, die vor dem 1. Januar 1996 einreisten und versicherungspflichtig wurden, sofort einen Anspruch auf Leistungen geltend machen konnten, während für die Zeit ab 1. Januar 1996 eine Vorversicherungszeit zu berücksichtigen ist. Das BVerfG hat in einem Nichtannahmebeschluss vom 11. März 1994 entschieden, dass der Gesetzgeber mit der Einführung von Stichtagen grundsätzlich nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Dem Gesetzgeber sei es durch Art. 3 Abs. 1 GG nicht verwehrt, zur Regelung bestimmter Lebenssachverhalte Stichtage einzuführen, obwohl jeder Stichtag unvermeidlich gewisse Härten mit sich bringt (BVerfG, SozR 3-5070 § 12 a des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung - WGSVG).
Schließlich ist dem Gesetzgeber im Bereich des Sozialversicherungsrechts als sog. Leistungsrecht ein nicht unerheblicher Gestaltungsspielraum zuzubilligen. Dies gilt vor allem auch bei der Einführung neuer sozialer Regelungen (s.a. BVerfG NJW 1992, 2213 ff) wie hier der sozialen Pflegeversicherung. Zum Schutz der einzelnen Versicherungszweige kann er deshalb durchaus zu unterschiedlichen Regelungen greifen. Die Bewertung ist vom Gesetzgeber für jeden Versicherungszweig in eigener Verantwortung zu treffen. Die Klägerin vermag daher aus den Regelungen der Renten-, Kranken-, Unfall- oder Arbeitslosenversicherung keine Rechtsansprüche für die Pflegeversicherung abzuleiten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
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