L 5 KR 223/06

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 KR 329/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KR 223/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 7/08 R
Datum
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 24. Mai 2006 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Revision wird zugelassen.
IV. Der Streitwert wird in Höhe der Klageforderung auf 5.490,64 Euro festgesetzt.

Tatbestand:

Streitig ist, in welcher Höhe die Beklagte der Klägerin Umsatzsteuer zu zahlen hat für Sondennahrung, die die Beklagte als vertragliche Leistungserbringerin liefert.

1.

Die Klägerin produziert enterale Nahrung und Zubehör, d.h. diätetische Flüssigkeiten, die geeignet und bestimmt sind, für Erkrankte die Ernährung mit Lebensmitteln zu ersetzen. Betroffen sind Personen, die wegen Erkrankungen im Mund oder Rachen, insbesondere wegen Tumorerkrankungen nicht in der Lage sind, oral Nahrungsmittel aufzunehmen und deshalb enteral, d.h. per Magensonde mit Applikationssystem ernährt werden. Sie erhalten das auf ihren Bedarf abgestimmte (bilanzierte) Lebensmittel durch ein keimfreies geschlossenes System, das aus einem abgefüllten Nahrungsmittel im Beutel oder Flasche sowie Schlauchsystem besteht. Die Schlauchversorgung erfordert, dass das Nahrungsmittel fließfähig ist.

Streitig ist die Versorgung mit den Produkten Nutrison sowie Biosorb, die als vollbilanzierte Lebensmittel einen Brennwert von 75 bzw. 150 kcal/100 ml aufweisen und neben 77% bzw. 88% Wasser aus Fett, Kohlehydraten, Eiweißen, Mineralstoffen und Spurenelementen bestehen. Die Mineralstoffmenge führt dazu, dass bei Versorgung allein mit Nutrison oder Biosorb Dehydrierung einträte, die Patienten also eine tödliche "Versalzung" erlitten.

2.

Mit Schreiben vom 12.03.2001 ließ die Beklagte die Klägerin zur Versichertenversorgung mit Präparaten der enteralen Ernährung zu. Angegeben waren eine Versorgung der Sondennahrung und Überleitungssysteme "zuzüglich Mehrwertsteuer". Dementsprechend versorgte die Klägerin eine Vielzahl von Versicherten, u.a. die Personen B. , O. , W. und H. mit den entsprechenden Präparaten und Schlauchernährungssystemen sowie Verbandsmaterialien, stellte die Leistung der Beklagten in Rechnung, die darauf die vertraglich geschuldete Zahlung erbrachte.

Ab 2003 kam es zu Differenzen in welcher Höhe die Beklagte der Klägerin auf diese Leistungen Umsatzsteuer zahlen müsste. Die Beigeladene vertrat durch ihre Finanzverwaltung ab 01.01.2003 die Auffassung, bei den gelieferten Präparaten handele es sich um Getränke, die mit dem regelmäßigen Steuersatz von 16 % belegt seien. Die bisherige Praxis, den für Lebensmittel geltenden ermäßigten Steuersatz von 7 % anzuwenden, sei nicht zutreffend und aufzugeben. Daraufhin stellte die Klägerin der Beklagten ihre Leistungen mit den Nettobeträgen zuzüglich 16% Umsatzsteuer in Rechnung. Die Beklagte behielt die Auffassung bei, es handele sich bei den Präparaten nicht um Getränke, sondern um Lebensmittel und erstattete deshalb auf die unstreitigen Nettobeträge nur 7% Umsatzsteuer statt 16% wie von der Klägerin in Rechnung gestellt.

3.

Nach fruchtloser Mahnung vom 27.08.2003 zur Zahlung bis 10.09.2003 hat die Klägerin die Beklagte auf Zahlung von 5.490,64 EUR zuzüglich Verzugszinsen verklagt. Wegen der Praxis und der nicht zuletzt europarechtlich bedingten Rechtsauffassung der Beigeladenen spätestens seit 01.01.2003 müsse sie auf die gelieferten Präparate nach unstreitiger Bemessungsgrundlage 16 % Umsatzsteuer abführen. Dies habe auch eine Zolltarifauskunft für Umsatzsteuerzwecke vom 21.11.2000 ergeben. Gemäß Leistungsvereinbarung vom 12.03.2001 sei der entsprechende Um-satzsteuersatz auch zu vergüten.

Die Beklagte hat erwidert, in einem Musterprozess wende sie sich sich gegen die unzutreffende Auffassung der Beigeladenen, bei den gelieferten Leistungen handele es sich um Getränke. Diese seien aber als Nahrungsmittel nur mit 7 %, dem ermäßigten Umsatzsteuersatz belegt.

Am 24.05.2006 hat das Sozialgericht die Beklagte zur Zahlung verurteilt, weil sie vereinbarungsgemäß verpflichtet sei, die Leistungen der Klägerin zuzüglich Umsatzsteuer zu erstatten. Die Höhe des Umsatzsteuersatzes richte sich nach der Beurteilung der Finanzbehörden. Daran sei die Klägerin gebunden und die Beklagte in der Folge zur entsprechenden Zahlung verpflichtet.

Dagegen hat die Beklagte Berufung eingelegt und geltend gemacht, die Leistung der Klägerin werde offenkundig zu Unrecht mit dem vollen Steuersatz belegt, zur Zahlung unrechtmäßiger Steuern dürfe sie nicht verurteilt werden. Zudem stehe der Klägerin der geltend gemachte Zinssatz nicht zu, zivilrechtliche Verzinsungsvorschriften seien auf öffentlich-rechtliche Verträge nicht anzuwenden.

Nach Beiladung durch den Senat hat die Beigeladene bestritten, dass ihre Interessen hinreichend berührt seien, so dass die Beiladung aufzuheben sei. Zudem sei der ermäßigte Umsatzsteuersatz nicht anzuwenden.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 24.05.2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG), aber unbegründet. Die Klägerin hat der Beklagten auf die dem Grunde und der Höhe nach zutreffend in Rechnung gestellten und unstrittigen Leistungen den vollen Umsatzsteuersatz zu erstatten. Dies ergibt sich aus der Zulassung als Leistungserbringer vom 12.03.2001. Ein Leistungsverweigerungs- oder Zurückbehaltungsrecht steht der Klägerin nicht zu.

1.

Die Klägerin ist Leistungserbringerin der Beklagten gemäß § 126 SGB V für Mittel i.S.d. § 33 SGB V, Anspruchsgrundlage für die streitige Vergütung ist § 127 SGB V i.V.m. dem Vereinbarungs-schreiben vom 12.03.2001. Danach erhält die Klägerin für ihre Lieferungen von Sondennahrung und Zubehör, deren Erbringungsumfang hier dem Grunde und der Nettohöhe nach zutreffend in Rechnung gestellt und unstrittig ist, den berechneten Leistungspreis zuzüglich Mehrwertsteuer. Damit ist die Umsatzsteuer gemeint.

Die Höhe des Umsatzsteuersatzes richtet sich nach den einschlägigen Rechtsvorschriften, hier § 12 Abs.2 Nr.1 UStG i.V.m. der Anlage 2 zum UStG i.V.m. Anlage 2 zum Zolltarif. Nach Kapitel 21 und Kapitel 22 des Zolltarifs ist entscheidend, ob die gelieferte Sondennahrung der Klägerin als Getränk mit dem vollen Steuersatz zu belegen ist oder als verschiedene Lebensmittelzubereitung, als Nahrungsmittel mit dem Steuersatz von nur 7 %, den die Beklagte gezahlt hat. Hierzu ist im Einklang mit dem Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 02.08.2007 - L 5 KNK 1/06 - festzustellen, dass die insoweit vertretene Rechtsauffassung der Beigeladenen als nicht zutreffend angesehen werden muss.

Bei den gelieferten Präparaten, insbesondere Biosorb und Nutrison handelt es sich um Nahrung, die enteral per Sonde appliziert wird und nur deshalb fließfähig sein muss. Die Zusammensetzung weist einen extrem hohen Brennwert sowie einen äußerst hohen Mineralien- und Vitamingehalt auf, welcher bei ausschließlichem Genuss der Präparate zu Gesundheitsstörungen insbesondere zu Dehydrierung führt. Der flüssige Aggregatszustand der Präparate beruht einzig und allein darauf, dass die Versicherten der Beklagten krankheitsbedingt Nahrung nicht in fester Form zu sich nehmen können, sondern über ein Schlauchsystem versorgt werden müssen und feste Nahrung die Schläuche verstopfen würde. Es ist damit nicht möglich, die betroffenen Präparate als Getränke einzuordnen, weil sie für besondere diätetische Zwecke hergestellt und zubereitet werden, um bestimmten krankheitsbedingten physischen oder physiologischen Umständen zu entsprechen.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht im Zusammenhang mit EU-Recht wie es der EuGH mit Urteil vom 26.03.1981 - C 114-80, "Bierhefe" - ausgelegt hat. In Anlehnung an die überzeugenden Erwägungen des LSG Rheinland-Pfalz vom 02.08.2007 - L 5 KNK 1/06 - ist festzustellen, dass spätestens die EG-VO 1777/2001 vom 07.09.2001 zur Subsumierung der streitigen enteralen Nahrung unter den steuerlichen Begriff der Lebensmittel veranlasst, für welche der verminderte Steuersatz gilt.

Das bestätigt auch eine verfassungskonforme Auslegung, die Art.3 Abs.3 Satz 2 GG berücksichtigt, wonach niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Zu einer solchen Benachteiligung käme es aber, wenn die betroffenen Versicherten der Beklagten Nahrungsmittel zu ihrer Ernährung erhielten, welche mit dem erhöhten, für Getränke gültigen Steuersatz belegt sind. Insoweit würden gesunde Personen, welche sich mit nichtflüssigen Nahrungsmitteln ernähren können, steuerlich besser behandelt, als behinderte Personen, die dazu nicht in der Lage sind.

2.

Allerdings hat die Beklagte kein Recht, zu beanstanden, dass die Klägerin der Zollauskunft vom 21.11.2000, der Auskunft der OFD C. vom 17.06.2003 sowie den weiteren unzweifelhaften Äußerungen der Beigeladenen und ihrer Steuerverwaltung folgend die erbrachten Leistungen mit einem Umsatzsteuersatz von 16% belegt.

Für Umsätze, die wie die hier gegenständlichen Leistungen der Umsatzsteuer gem § 1 Abs 1 Nr 1 UStG unterliegen, schuldet gem § 13 Abs 1 S 1 UStG der Unternehmer - hier die Klägerin - die Steuer; ein Ausnahmefall, in welchem der Leistungsempfänger - hier die Beklagte - die Steuer schuldet, wie z.B. nach § 13b UStG, liegt nicht vor. Wenn sich der Steuerschuldner konform mit den unmissverständlichen Angaben der Steuerbehörden verhält ist das nicht zu beanstanden, selbst wenn die Steuerbehörden einen mit der konkreten Rechtslage nicht zu vereinbarenden Standpunkt - wie hier aus Sicht des Senates - vertreten.

Insoweit vermag sich der Senat der Auffassung des LSG Rheinland-Pfalz nicht anzuschließen, dass die Beklagte aus den Nebenpflichten zur Zulassung als Leistungserbringer im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Vertrages nach Treu und Glauben verpflichtet ist, gegen die Praxis der Beigeladenen vorzugehen. Dies würde die Nebenpflichten überspannen. Die Klägerin wäre nämlich gezwungen, die fremde Auffassung der Beklagten im Gerichtswege geltend zu machen. Die Entscheidung, einen Prozess wegen einer Steuerschuld zu führen oder nicht, wäre dann der Klägerin genommen und der Beklagten, die nicht Schuldnerin der Steuer ist, übertragen. Dies widerspräche der aus Art 2 und Art 14 Grundgesetz resultierenden Entscheidungsfreiheit eines Unternehmers, ohne dass dafür Gründe ersichtlich wären, die aus der besonderen Beziehung der Klägerin und der Beklagten hergeleitet werden können. Einen Rechtsstreit gegen die Finanzverwaltung der Beigeladenen zu führen erfordert, die Erfolgsaussichten und finanziellen Risiken der Klage abzuwägen, den zeitlichen und sächlichen Aufwand, die Bindung personeller und sächlicher Ressourcen, weitere Folgen für das Verhältnis der Beklagten mit den Finanzbehörden, bilanzielle Auswirkungen, Folgen für das Unternehmensimage und eventuell für die Kreditwürdigkeit sowie weitere Aspekte, die die Klägerin gegenüber der Beklagten nicht zu offenbaren hätte wie zB - frei unter-stellt - die Absicht das Unternehmen zu verkaufen, zu berücksichtigen und eine am Wohl des Unternehmens orientierte Entscheidung zu treffen. Wenn die Klägerin diese Entscheidung zu Ungunsten einer Klage getroffen hat und sich dabei nicht primär an den Interessen der Beklagten orientiert hat, ist dies nicht zu beanstanden.

Hieran ändert im Ergebnis auch die Sondersituation des vorliegenden Falles nichts, dass auf die Beklagte als Endabnehmerin die Umsatzsteuer faktisch überwälzt ist, sie aber die Steuer nicht schuldet. Die Beklagte ist dadurch zwar nicht in der Lage, sich auf gerichtlichem Wege gegen die unzutreffende umsatzsteuerrechtliche Behandlung der Sondennahrung zur Wehr zu setzen. Das spezielle Leistungserbringerverhältnis ist durch gegenseitige Rücksichtnahme geprägt, es gelten daher die Grundsätze von Treu und Glauben analog § 242 BGB. Hieraus aber die Pflicht zur Führung einer Stellvertreterklage im eigenen Namen gegen eine unzweifelhaft praktizierte Steuerverpflichtung zu fordern, überspannte die Verpflichtung aus dem Leistungsvertrag.

Die Beklagte ist daher zur Zahlung der Hauptsacheforderung verpflichtet. Der Anspruch auf die beantragten Verzugszinsen besteht auch im sozialrechtlich begründeten Leistungserbringer-verhältnis (BSG Urteil vom 19.4.2007 - B 3 KR 10/06 R). Verzug ist durch Nichtzahlung nach Mahnung mit Fristsetzung zum 10.9.2003 eingetreten, die Verzinsung wird in gesetzlicher Höhe ausgesprochen.

Die Berufung bleibt damit vollumfänglich ohne Erfolg.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs.1 Verwaltungsgerichtsordnung.

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Streitsache zugelassen, § 160 Abs.2 Nr.1 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved