L 16 AS 139/08

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
16
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 10 AS 173/06
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 16 AS 139/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 12. Dezember 2007 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob das sozialgerichtliche Verfahren Az. S 6 AS 72/06 durch Klagerücknahme erledigt worden ist.

Die 1962 geborene Klägerin, die zusammen mit ihrem 1942 geborenen Ehegatten ein eigenes Haus bewohnt, beantragte am 17.11.2005 bei der Beklagten die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 16.12.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.03.2006 ab, weil die Klägerin aufgrund des Einkommensüberhanges bei ihrem Ehemann nicht hilfebedürftig sei und daher keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts habe. Deren Ehemann beziehe eine Altersrente mit einem Zahlbetrag in Höhe von EUR 902,21. Der Bedarf der Klägerin und ihres Ehemannes betrage jeweils neben der Regelleistung von EUR 311,- und den Kosten der Unterkunft von EUR 57,65 (Hälfte der Neben- und Heizkosten in Höhe von insgesamt EUR 115,29) insgesamt EUR 368,65. Auf den Bedarf der Klägerin sei somit ein Betrag von EUR 422,62 anzurechnen. Unberücksichtigt seien dabei noch weitere Einkünfte aus der Vermietung der Eigentumswohnung in Regensburg.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Landshut mit dem Az. S 6 AS 72/06 begehrten die Klägerin sowie ihr Ehemann, der als Kläger zu 2 geführt wurde, die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Der Ehemann der Klägerin, der auch als deren Prozessbevollmächtigter auftrat, führte im Schriftsatz vom 11.03.2006, eingegangen beim Sozialgericht am 13.03.2006, aus, er "verzichte auf jegliche Leistungen der ARGE", damit sich "der Schauprozess 1998" - ein Strafverfahren gegen ihn wegen Vergewaltigung mit dessen Verurteilung zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten - nicht wiederhole. Das Sozialgericht wertete diese Erklärung als Klagerücknahme.

Mit Schreiben vom 21.04.2006, eingegangen beim Sozialgericht am 24.04.2006, beantragten die Klägerin und ihr Ehemann die Fortsetzung des sozialgerichtlichen Verfahrens mit der Begründung, dass im Schriftsatz vom 11.03.2006 irrtümlich angedeutet worden sei, auf die Leistungen der Beklagten zu verzichten. Das Sozialgericht führte dieses Verfahren als ein selbstständiges Verfahren unter Vergabe des neuen Aktenzeichens S 6 AS 173/06, das später wegen der Veränderung der Geschäftsverteilung in das Az. S 10 AS 173/06 umgewandelt wurde.

Gleichzeitig beantragten die Klägerin und ihr Ehegatte die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes, "um auch den kommenden Winter nicht hungern und frieren zu müssen". Der Erlass einer einstweiligen Anordnung wurde mit Beschluss des Sozialgerichts Landshut vom 7. November 2006, Az. S 6 AS 373/06 ER, bestätigt durch den Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 16. Januar 2007, Az. L 7 B 958/06 AS ER, abgelehnt. Denn es liege zum einen kein Anordnungsgrund vor, weil die Klägerin und ihr Ehemann eine Altersrente und Einkünfte aus Vermietung erzielten, so dass der Bedarf des täglichen Lebens gesichert erscheine. Zum anderen sei kein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, weil nicht feststehe, ob die Klägerin und ihr Ehemann hilfebedürftig seien, da grundsätzlich der Wert der vermieteten Eigentumswohnung als Vermögen zu berücksichtigen sei. Da bislang keine verlässliche Ermittlung des Wertes der Eigentumswohnung durchgeführt worden sei, sei der Anordnungsanspruch nicht ausreichend glaubhaft gemacht.

Das Sozialgericht wies die Klage der Klägerin und ihres Ehemannes mit Urteil vom 12. Dezember 2007 ab. Der Ehemann der Klägerin, der diese nach § 73 Abs.2 Satz 2 SGG vertreten habe, habe in seinem Schriftsatz vom 11.03.2006 die Klage zurückgenommen. Seine Erklärung bringe eindeutig einen Verzicht auf Leistungen der Beklagten zum Ausdruck; ein solcher Verzicht sei regelmäßig als Klagerücknahme zu behandeln.

Dagegen hat die Klägerin - und nicht auch deren Ehemann, wie im Schriftsatz vom 07.05.2008 ausdrücklich erklärt - Berufung eingelegt mit der Begründung, dass das Urteil oberflächlich, unsachlich und ungerecht sei. In der mündlichen Verhandlung sei die "Sache" erörtert worden, so dass das Urteil kein Ergebnis des Verfahrens sei. Der Ehemann der Klägerin trägt als deren Prozessbevollmächtigter vor, dass allein seine Ehefrau die Klägerin "ist und war", er nur deren Bevollmächtigter sei und das Sozialgericht ihn irrtümlich als Kläger bezeichnet habe. Mit seinem Schriftsatz vom 11.03.2006 habe er keineswegs die Klage zurücknehmen wollen. Die Worte "damit sich der Schauprozess 1998 nicht wiederholt" seien so zu verstehen, dass das Gericht nicht wieder auf Lügen, Intrigen, Vermutungen und Unterstellungen aufbauen solle. Dies solle sich nicht wiederholen. Sollte die Justiz trotzdem versuchen, die schändliche Prozessart zu wiederholen, dann verzichte er lieber auf jegliche Hilfeleistungen. Die Worte "ich verzichte" seien als Appell an die Justiz gerichtet, damit sich der Schauprozess 1998 nicht wiederhole.

Auf die Mitteilung des Senats hin, dass eine Entscheidung im Beschlussverfahren nach § 153 Abs. 4 SGG beabsichtigt sei, begehrt die Klägerin eine Entscheidung auf Grund einer mündlichen Verhandlung.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 12.12.2007 aufzuheben und festzustellen, dass der Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Landshut, Az. S 6 AS 72/06 nicht durch die mit Schreiben vom 11.03.2006 erklärte Klagerücknahme beendet worden ist.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Nach Ansicht der Beklagten habe die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten keinen neuen Sachverhalt vorgetragen, der zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung führen könne. Die von der Klägerin vorgetragene Erörterung der Sache in der mündlichen Verhandlung beruhe auf einem weiteren vom Sozialgericht an diesem Tag terminierten Verfahren der Klägerin mit dem Az. S 10 AS 125/07, das vertagt worden sei.

Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird zur Ergänzung des Tatbestands auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagte, der Archivakten des Sozialgerichts und des Bayerischen Landessozialgerichts sowie der Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat kann den anhängigen Rechtsstreit durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden, weil der Berufung eine mündliche Verhandlung des Sozialgerichts Landshut, an der der Prozessbevollmächtigte der Klägerin teilnahm und so ausreichend Gelegenheit hatte sich zu äußern, vorausging, der Senat die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (§ 153 Abs. 4 Satz 1 SGG). Es handelt sich weder um einen rechtlich schwierigen Fall noch kommt ungeklärten Tatfragen eine erhebliche Bedeutung zu. Neue gewichtige Gesichtspunkte wurden weder vorgetragen noch sind sie nach Aktenlage ersichtlich. Der Senat hat die Beteiligten in einer Anhörungsmitteilung auch darauf hingewiesen, dass eine Entscheidung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG erfolgen wird. Ein Einverständnis der Klägerin hierzu ist nicht erforderlich.

Die von der Klägerin form- und fristgerecht eingelegte statthafte Berufung ist gemäß §§ 143, 151 SGG zulässig. Sie hat in der Sache aber keinen Erfolg. Der Rechtsstreit der Klägerin vor dem Sozialgericht Landshut, Az. S 6 AS 72/06 ist durch die Klagerücknahme vom 11.03.2006 erledigt worden; ihr Widerrufsbegehren ist unberechtigt. Das Urteil des Sozialgerichts vom 12.12.2007 ist nicht zu beanstanden, auch wenn das Sozialgericht die Feststellung der Erledigung des vorgenannten Klageverfahrens in einem selbstständigen Klageverfahren - unter Vergabe eines neuen Aktenzeichens - und nicht, wie üblich und grundsätzlich vom Prozessrecht vorgesehen (s. etwa Meyer-Ladewig/Leitherer, SGG, 8. Auflage, § 102 Rdnr. 12 m.w.N.), in Fortsetzung des Klageverfahrens, um dessen Erledigung gestritten wird, weiter geprüft und entschieden hat. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist nur die Klage der Klägerin. Wie im Berufungsverfahren im Schriftsatz vom 07.05.2008 ausdrücklich klargestellt worden ist, macht nur die Klägerin ihren Anspruch auf Fortführung des sozialgerichtlichen Verfahrens geltend. Unerheblich ist insoweit, dass ihr Ehegatte irrtümlich davon ausgeht, dass nur seine Ehefrau - und nicht auch er - Kläger/in der vorausgehenden Klageverfahren S 6 AS 72/06 und S 10 AS 173/06 war. Denn entgegen dessen Ansicht ist das Sozialgericht in diesem Klageverfahren zutreffend davon ausgegangen, dass alle Personen der Bedarfsgemeinschaft, das heißt die Klägerin und ihr Ehemann, sowohl von den entsprechenden prozessualen Anträgen als auch von den Bescheiden der Beklagten erfasst werden. Der Klageantrag war nach dem sog. Meistbegünstigungsprinzip unabhängig vom Wortlaut unter Berücksichtigung des wirklichen Willens erweiternd auszulegen (§ 38 SGB II, § 73 Abs.2 Satz 2, § 123 SGG). Im Hinblick auf die besonderen mit der Bedarfsgemeinschaft verbundenen verfahrensrechtlichen Probleme ist nämlich zumindest für eine Übergangszeit bis 30. Juni 2007 diese im Interesse der Hilfebedürftigen anzuwendende großzügige Auslegung zur Durchsetzung der subjektiven Rechte aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft geboten (so BSG, Urteile vom 7.11.2006, Az. B 7b AS 8/06 R und vom 30.3.2007, Az. B 7b AS 4/06 R).

Der Rechtsstreit der Klägerin vor dem Sozialgericht Landshut, Az. S 6 AS 72/06 ist in vollem Umfang durch die Klagerücknahme vom 11.03.2006 erledigt worden. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Fortführung dieses Rechtsstreits, weil die Rücknahme ihrer Klage durch die Erklärung ihres Ehegatten in dem Schriftsatz vom 11.03.2006 als ihr Prozessbevollmächtigter (§ 73 Abs. 2 Satz 2 SGG) wirksam erklärt worden ist.

Nach § 102 SGG kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.

Die Klagerücknahme ist eine Prozesshandlung und wurde vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin gegenüber dem Sozialgericht Landshut mit Schreiben vom 11.03.2006 ausdrücklich und eindeutig erklärt. Der im Klageverfahren Az. S 6 AS 72/06 erklärte Verzicht "auf jegliche Leistungen der ARGE", damit sich "der Schauprozess 1998" nicht wiederhole, ist nach dem objektiven Empfängerhorizont gemäß § 133 BGB entsprechend als Rücknahme der Klage der Klägerin zu qualifizieren (vgl. Meyer-Ladewig/Leitherer, a.a.O. § 101 Rdnr. 25, § 102 Rdnr. 1a, 3 m.w.N.).

In dieser Erklärung kommt der Wille der Klägerin zum Ausdruck, sich endgültig mit der Entscheidung der Beklagten zufrieden zu geben; eine Entscheidung des Gerichts wird nicht mehr gewünscht. Der Vortrag der Klägerin im Berufungsverfahren, die Worte "damit sich der Schauprozess 1998 nicht wiederholt" seien so zu verstehen, dass das Gericht nicht wieder auf Lügen, Intrigen, Vermutungen und Unterstellungen aufbauen solle, und die Worte "ich verzichte" seien als Appell an die Justiz gerichtet, damit sich der Schauprozess 1998 nicht wiederhole, vermag den Senat nicht zu überzeugen. Die erklärte Rücknahme der Klage war daher zulässig und wirksam.

Der vom Ehegatten der Klägerin in dem Schriftsatz vom 11.03.2006 erklärte Verzicht erfasste unter Berücksichtigung des wirklichen Willens beider Eheleute auch die Klage der Klägerin. Der Ehemann der Klägerin, der als deren Prozessbevollmächtigter in dem Verfahren S 6 AS 72/06 auftrat und dessen Bevollmächtigung gemäß § 73 Abs.2 Satz 2 SGG zu unterstellen ist, nahm als deren Prozessbevollmächtigter im Rahmen seiner Bevollmächtigung auch deren Klage zurück. Denn nach seinem Vorbringen im Berufungsverfahren ging er davon aus, dass nur seine Ehefrau Klägerin "ist und war" und er im Klageverfahren nur als deren Bevollmächtigter auftritt. Der Verzicht erstreckte sich auch nur auf die Leistungen der Beklagten, die lediglich die Klägerin als Erwerbsfähige für sich in Anspruch nehmen konnte. Der Ehegatte der Klägerin musste sich dagegen als Rentenbezieher an das Landratsamt Regensburg bzw. Landshut als Leistungsträger wenden; entsprechende Verfahren hat er bei diesen Leistungsträgern auch durchgeführt.

Als einseitige Prozesshandlung kann die Klagerücknahme nicht nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts angefochten werden (so etwa BSGE 14, 139). Die Rücknahmeerklärung kann nur ausnahmsweise widerrufen werden, wenn die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach §§ 179, 180 SGG erfüllt sind. Diese Voraussetzungen liegen aber offensichtlich nicht vor.

Die Nichtigkeitsklage nach § 579 Zivilprozessordnung (ZPO) findet statt 1. wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war, 2. wenn ein Richter bei der Entscheidung mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war, 3. wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, obgleich er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt war, 4. wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war, sofern sie nicht die Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat.

Derartige schwerste Verstöße gegen das Prozessrecht liegen offensichtlich nicht vor und wurden von der Klägerin auch nicht geltend gemacht. Die Restitutionsklage nach § 580 ZPO findet ausschließlich statt 1. bei falschem Parteieid, 2. bei Urkundenfälschung, 3. bei falschem Zeugnis oder Gutachten, 4. bei Urteilserschleichung, 5. bei Amtspflichtverletzung eines Richters, 6. bei Urteilsaufhebung und 7. bei Auffinden eines früheren Urteil oder bei einer anderen Urkunde.

Auch diese Wiederaufnahmegründe sind offensichtlich nicht erfüllt.

Ergänzend wird zum Vorbringen der Klägerin, dass das angefochtene Urteil kein Ergebnis des Verfahrens sei, darauf hingewiesen, dass keine Überraschungsentscheidung des Sozialgerichts Landshut vorliegt. Denn das Sozialgericht hatte am 12.12.2007 zwei Verfahren der Klägerin terminiert und in der mündlichen Verhandlung lediglich überwiegend Ausführungen zur Sache in dem weiteren, vertagten Rechtsstreit gemacht.

Da eine wirksame Klagerücknahme die Hauptsache erledigt (§ 102 Satz 2 SGG), endete die Rechtshängigkeit der Klage in dem Verfahren Az. S 6 AS 72/06. Eine Sachentscheidung ist nicht mehr zulässig.

Die Kostenentscheidung gemäß § 193 SGG beruht auf der Erwägung, dass die Berufung keinen Erfolg hatte.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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