Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
11
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 19 SO 82/08 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 B 625/08 SO ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 13.06.2008 Punkt I und II aufgehoben.
II. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr 2 des Bescheides des Antragsgegners vom 09.05.2008 wird aufgehoben.
III. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe:
I.
Streitig zwischen den Beteiligten ist die Anordnung des Sofortvollzugs der Entziehung von Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) zum 31.01.2008 durch die Bescheide vom 07.02.2008 und 09.05.2008.
Der 1975 geborene Antragsteller (ASt) erhielt nach dem Bescheid des Antragsgegners (AG) vom 10.12.2007 Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII für die Zeit vom 01.10.2007 bis 31.10.2008. Ab dem 01.12.2007 hatte der AG keine Unterkunftskosten mehr anerkannt, da nach einem Hausbesuch festgestellt wurde, dass die vom ASt angemietete Wohnung nicht bewohnbar sei und er nur ein Zimmer in der Wohnung der Vermieterin bewohnte.
Bei einem unangemeldeten Hausbesuch am 14.11.2007 konnte der ASt nicht angetroffen werden. Bei einem weiteren Hausbesuch am 10.12.2007 wurde festgestellt, dass das vom ASt angemietete Zimmer im 2. Stock nicht bewohnbar sei. Bei weiteren unangemeldeten Besuchen am 21.01.2008 und 23.01.2008 konnte der ASt nicht angetroffen werden, die zum Anwesen gehörenden Mülltonnen waren leer. Bei einem weiteren Hausbesuch am 04.02.2008 wurde in den Abfalltonnen wiederum kein Abfall festgestellt. Ein Nachbar habe mitgeteilt, dass im Anwesen niemand zuhause sei, die Bewohner seien schon seit drei Wochen nicht mehr da gewesen. Nach dem Betreten der Wohnung wurde festgestellt, dass die Heizung ausgestellt gewesen sei und die Temperaturen deutlich unter normalen Zimmertemperaturen lägen. Der Kühlschrank sei außer Betrieb gewesen. Der ASt teilte mit, dass er tagsüber keine Heizung brauche und diese erst nachts einschalten würde. Wenn er etwas zu essen brauche, besorge er sich etwas in der Metzgerei oder esse ein Schnitzel in der Gastwirtschaft am Ort. Er könne sich auch keinen Vorrat an Wasser leisten, die Elektrogeräte in der Küche seien nicht an das Stromnetz angesteckt gewesen. Eine Zahnbürste habe der ASt nicht vorweisen können.
Mit Bescheid vom 07.02.2008 stellte der AG die Leistungen zum 31.01.2008 vollständig ein. Es spräche alle Lebenserfahrung dafür, dass der ASt nicht mehr in der Wohnung wohne.
Hiergegen legte der ASt am 28.02.2008 Widerspruch ein. Er habe kein Geld, um sich Essensvorräte zu kaufen. Wasser trinke er nur aus dem Wasserhahn.
Seit dem 01.04.2008 erhält der ASt Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit bis 28.02.2009 mit einem Zahlbetrag von 365,00 EUR (Rente 341,28 EUR zuzüglich Zuschuss zur Krankenversicherung 23,72 EUR).
Am 08.04.2008 hat der ASt beim Sozialgericht Nürnberg (SG) beantragt, die AG anzuweisen, dem ASt bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Anspruch des ASt Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren (Az: S 19 SO 63/08 ER). Das SG hat mit Beschluss vom 06.05.2008 festgestellt, dass der Widerspruch vom 28.02.2008 gegen den Bescheid des AG vom 07.02.2008 aufschiebende Wirkung habe.
Mit weiterem Bescheid vom 09.05.2008 änderte der AG den Bescheid vom 07.02.2008 dahingehend, dass der Bescheid vom 10.12.2007 mit Wirkung zum 01.02.2008 aufgehoben werde und die Leistungen nach dem SGB XII zum 31.01.2008 eingestellt würden. Die sofortige Vollziehung des Bescheides wurde angeordnet (Nr. 2 des Bescheides).
Zur Begründung des Sofortvollzuges wurde ausgeführt, dass es nach Aktenlage mehr als offensichtlich sei, der sich der ASt tatsächlich nicht mehr in der Wohnung A-Straße aufhalte. Ohne die Anordnung des Sofortvollzuges würde der AG als unzuständige Behörde weitere Leistungen erbringen, obwohl ein Ersatzanspruch von Seiten des AG nicht geltend gemacht werden könne. Es sei zweifelhaft, ob der AG die vorzustreckenden Leistungen wieder zurückfordern könne. Die rechtmäßige Verwendung von öffentlichen Geldern des AG entsprechend den Vorschriften des SGB XII sei bei einer Leistungserbringung nicht gegeben. Der tägliche Bedarf des ASt sei durch die zwischenzeitliche Rentenzahlung gedeckt. Der ASt könne jederzeit Hilfe zum Lebensunterhalt beim tatsächlich zuständigen Sozialhilfeträger beantragen.
Hiergegen hat der ASt am 14.05.2008 erneut Widerspruch eingelegt und gleichzeitig beim SG im Wege einer einstweiligen Anordnung beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 14.05.2008 gegen den Bescheid vom 09.05.2008 anzuordnen.
Diesen Antrag hat das SG mit Beschluss vom 13.06.2008 abgelehnt. Zur Überzeugung des SG träfen die Angaben des ASt zu seinem Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt offensichtlich nicht zu. Auch die rückwirkende Aufhebung des Bescheids vom 10.12.2007 mit Bescheid vom 09.05.2008 ab dem 01.02.2008 sei rechtmäßig, wobei dahinstehen könne, ob die Abänderung auf § 48 oder § 45 SGB X zu stützen sei. Der ASt habe grob fahrlässig bzw. vorsätzlich gehandelt. Auch die Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 86a Abs 2 Nr 5 SGG sei rechtmäßig, denn das öffentliche Interesse, Steuermittel nicht zu Unrecht aufzuwenden, überwiege das Interesse des ASt.
Bereits vorher hatte der ASt am 16.05.2008 einen neuen Antrag auf Gewährung von Sozialhilfe gestellt, über den nach Aktenlage noch nicht entschieden ist. Hausbesuche am 19.05.2008 und 28.05.2008, 12.06.2008 und 03.07.2008 verliefen jeweils erfolglos, der ASt konnte jeweils nicht angetroffen werden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 15.05.2008 wies die Regierung von Mittelfranken den Widerspruch des ASt gegen den Bescheid des AG vom 07.02.2008 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 09.05.2008 zurück. Hiergegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Nürnberg erhoben (Az: S 19 SO 106/08).
Gegen den Beschluss des SG vom 13.06.2008 hat der ASt am 23.07.2008 Beschwerde eingelegt und zur Begründung auf die Klageschrift dem Verfahren S 19 SO 106/08 Bezug genommen und ergänzend mitgeteilt, dass beim Hausbesuch am 04.02.2008 sehr wohl eine Zahnbürste vorhanden gewesen sei.
Zur Ergänzung des Sachvortrages wird auf die Akten des AG sowie auf die Gerichtsakten 1. und 2. Instanz ergänzend Bezug genommen.
II.
Die form - und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist zulässig. Eine Abhilfeentscheidung ist nicht erforderlich, § 174 SGG ist mit Wirkung zum 01.04.2008 weggefallen. Das Rechtsmittel erweist sich als begründet. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung (VzA) ist aufzuheben (vgl. Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. Aufl. 2008 Rdnr. 247).
Mit Bescheid vom 09.05.2008 hat der AG die sofortige Vollziehung der Aufhebung des Bescheides vom 10.12.2007 mit Wirkung zum 01.02.2008 und die Einstellung von Leistungen nach dem SGB XII zum 31.01.2008 angeordnet.
Nach § 86a Abs 1 S. 2 Nr 5 SGG kann eine Behörde in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten ist, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnen.
Der Anordnung der sofortigen Vollziehung (VzA) gemäß § 86a Abs 1 S. 2 Nr 5 SGG stand nicht der Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg im Verfahren S 19 SO 63/08 ER entgegen. Zwar ist grundsätzlich die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit durch eine Behörde nicht mehr statthaft, wenn bereits eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung durch ein Gericht vorliegt. Diese sachliche Bindungswirkung tritt jedoch nicht ein, wenn das Gericht, insbesondere ohne Bewertung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, lediglich deklaratorisch feststellt, dass der gesetzlich vorgeschriebene Automatismus des Eintritts der aufschiebenden Wirkung vorliegt (vgl. Krodel, aaO Rdnr. 42).
Die VzA war auch formell rechtmäßig. Vor der Anordnung der sofortigen Vollziehung hat der AG den ASt nicht anhören müssen, da es sich bei der Vollzugsanordnung nicht um einen Verwaltungsakt gehandelt hat, bei dem gemäß § 24 SGB X angehört hätte werden müssen, vgl. Keller in Meyer-Ladewig SGG 8. Aufl. § 86a Rdnr. 22). Soweit man eine Anhörungspflicht aus rechtsstaatlichen Gründen bejahen würde (vgl. insoweit Krasney/
Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Auflage S. 185), wäre eine nachträgliche Heilung durch das durchgeführte gerichtliche Verfahren erfolgt (vgl. zu § 80 VwGO Kopp/Schenke VwGO, 14. Aufl. 2005, Rdnr. 82). Die VzA ist nach § 86a Abs 1 S. 2 Nr 5 SGG auch ausführlich schriftlich begründet worden (vgl. insoweit Keller aaO, § 86a Rdnr. 21b). Sie lässt die für die AG bei der Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte und die Gründe dieser Entscheidung erkennen und erschöpft sich nicht in allgemeinen Wendungen und Wiederholungen des Wortlauts des Gesetzes.
Die VzA ist aber materiell rechtswidrig, der AG hat zu Unrecht die sofortige Vollziehung des Bescheides vom 07.02.2008 idF des Bescheides vom 09.05.2008 im öffentlichen Interesse angeordnet. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung ist dabei mehr als das für den Erlass des VA erforderliche Interesse (vgl. Keller aao Rdnr. 20). Dieses fehlt vorliegend.
Notwendig ist nämlich in der Regel ein zusätzliches öffentliches Interesse an dem sofortigen Vollzug, so dass die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass des Verwaltungsaktes nicht zur Begründung der Vollzugsanordnung ausreichen (vgl. BVerfGE 35, 383). Das besondere öffentliche Interesse ist - soweit es vorliegt - mit dem Interesse des Betroffenen abzuwägen, wobei maßgeblich die Folgen sind, die eintreten würden, wenn die sofortige Vollziehung angeordnet und ein Rechtsbehelf Erfolg haben würde, gegenüber den Nachteilen, die entstehen, wenn die sofortige Vollziehung nicht angeordnet und ein Rechtsbehelf keinen Erfolg haben würde. Die VzA ist gerechtfertigt, wenn eine umfassende Abwägung aller öffentlicher und privater Belange zum Ergebnis kommt, dass das Vollziehungsinteresse überwiegt (vgl. Keller aaO § 86a Rdnr. 21)
Dies entspricht dem Grundsatz, dass die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs die Regel und die Anordnung der sofortigen Vollziehung die Ausnahme ist (Regel - Ausnahme - Verhältnis). Bei der Interessenabwägung sind die mit dem Gesetz verfolgten Ziele zu berücksichtigen, die Behörde muss den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten (vgl. zu allem Keller aaO § 86a Rdnr. 20, 20a).
Bei der Frage der Verhältnismäßigkeit steht die drohende Rechtsverletzung des ASt mit den zu prüfenden Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs und des besonderen Vollzugsinteresses in einer Wechselbeziehung. Je schwerer die im Interimszeitraum bis zur Hauptsacheentscheidung drohende Beeinträchtigung der Rechte des ASt ist, umso geringer sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit einer solchen Rechtsverletzung und der Wahrscheinlichkeit des Hauptsacherfolgs und umso höher sind die Anforderungen an das besondere Vollzugsinteresse.
Das besondere Vollzugsinteresse des AG ist hier nicht erkennbar. Die Tatsache, dass eine Rückforderung einer unrechtmäßigen Auszahlung an den ASt aufgrund dessen Vermögensverhältnissen praktisch nicht durchführbar ist, ist kein besonderes Vollzugsinteresse, sondern ein regelmäßiges Problem bei der Auszahlung von existenzsichernden Leistungen an Hilfeempfänger (vgl. LSG Niedersachsen - Bremen Beschluss vom 10.08.2006, L 8 SO 69/06 ER).
Auch die Tatsache, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit von einem Obsiegen des AG im Hauptsacheverfahren auszugehen ist, vermag hieran nichts zu ändern. Von einer offensichtlichen Rechtmäßigkeit der Entscheidung kann nicht ausgegangen werden (für diesen Fall Keller aaO, § 86a Rdnr. 20b). Hierbei ist zu beachten, dass der AG eine Sorgfaltspflichtverletzung im Sinne einer groben Fahrlässigkeit nachzuweisen hat, wobei ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab anzulegen ist (vgl. Schütze in von Wulffen SGB X 6. Aufl. 2008 § 48 Rdnr. 28 mwN). Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen und der beim ASt nach dem Gutachten von Dr. L. vom 04.09.2007 bestehenden drogenindizierten mittelschweren bis schweren depressiven Entwicklung, Angststörung und psychotische Störung wäre es denkbar, dass ein Hauptsacheverfahren für den ASt erfolgreich verläuft. Ebenfalls ist ein tatsächlicher Aufenthalt außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des AG und damit das Vorliegen einer wesentlichen Änderung bislang nicht nachgewiesen. Es kann vermutet werden, dass sich der ASt nicht gewöhnlich in der angegebenen Wohnung aufhält.
Insbesondere aber steht dem nachrangig verpflichteten AG ein Erstattungsanspruch gegen den Rentenversicherungsträger nach § 104 SGB X zu, so dass sich das Ausfallrisiko des AG bei einem Obsiegen in der Hauptsache minimiert.
Mangels Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses ist eine Abwägung mit den Interessen des ASt nicht vorzunehmen. Die VzA war aufzuheben und der Beschwerde stattzugeben. Es verbleibt bei der grundsätzlichen Regelung des § 86a Abs 1 S. 1 SGG. Mit der Aufhebung der sofortigen Vollziehung des Bescheides tritt die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage wieder ein, § 86a Abs 1 S. 1 SGG.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
-
II. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr 2 des Bescheides des Antragsgegners vom 09.05.2008 wird aufgehoben.
III. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe:
I.
Streitig zwischen den Beteiligten ist die Anordnung des Sofortvollzugs der Entziehung von Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) zum 31.01.2008 durch die Bescheide vom 07.02.2008 und 09.05.2008.
Der 1975 geborene Antragsteller (ASt) erhielt nach dem Bescheid des Antragsgegners (AG) vom 10.12.2007 Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII für die Zeit vom 01.10.2007 bis 31.10.2008. Ab dem 01.12.2007 hatte der AG keine Unterkunftskosten mehr anerkannt, da nach einem Hausbesuch festgestellt wurde, dass die vom ASt angemietete Wohnung nicht bewohnbar sei und er nur ein Zimmer in der Wohnung der Vermieterin bewohnte.
Bei einem unangemeldeten Hausbesuch am 14.11.2007 konnte der ASt nicht angetroffen werden. Bei einem weiteren Hausbesuch am 10.12.2007 wurde festgestellt, dass das vom ASt angemietete Zimmer im 2. Stock nicht bewohnbar sei. Bei weiteren unangemeldeten Besuchen am 21.01.2008 und 23.01.2008 konnte der ASt nicht angetroffen werden, die zum Anwesen gehörenden Mülltonnen waren leer. Bei einem weiteren Hausbesuch am 04.02.2008 wurde in den Abfalltonnen wiederum kein Abfall festgestellt. Ein Nachbar habe mitgeteilt, dass im Anwesen niemand zuhause sei, die Bewohner seien schon seit drei Wochen nicht mehr da gewesen. Nach dem Betreten der Wohnung wurde festgestellt, dass die Heizung ausgestellt gewesen sei und die Temperaturen deutlich unter normalen Zimmertemperaturen lägen. Der Kühlschrank sei außer Betrieb gewesen. Der ASt teilte mit, dass er tagsüber keine Heizung brauche und diese erst nachts einschalten würde. Wenn er etwas zu essen brauche, besorge er sich etwas in der Metzgerei oder esse ein Schnitzel in der Gastwirtschaft am Ort. Er könne sich auch keinen Vorrat an Wasser leisten, die Elektrogeräte in der Küche seien nicht an das Stromnetz angesteckt gewesen. Eine Zahnbürste habe der ASt nicht vorweisen können.
Mit Bescheid vom 07.02.2008 stellte der AG die Leistungen zum 31.01.2008 vollständig ein. Es spräche alle Lebenserfahrung dafür, dass der ASt nicht mehr in der Wohnung wohne.
Hiergegen legte der ASt am 28.02.2008 Widerspruch ein. Er habe kein Geld, um sich Essensvorräte zu kaufen. Wasser trinke er nur aus dem Wasserhahn.
Seit dem 01.04.2008 erhält der ASt Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit bis 28.02.2009 mit einem Zahlbetrag von 365,00 EUR (Rente 341,28 EUR zuzüglich Zuschuss zur Krankenversicherung 23,72 EUR).
Am 08.04.2008 hat der ASt beim Sozialgericht Nürnberg (SG) beantragt, die AG anzuweisen, dem ASt bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Anspruch des ASt Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren (Az: S 19 SO 63/08 ER). Das SG hat mit Beschluss vom 06.05.2008 festgestellt, dass der Widerspruch vom 28.02.2008 gegen den Bescheid des AG vom 07.02.2008 aufschiebende Wirkung habe.
Mit weiterem Bescheid vom 09.05.2008 änderte der AG den Bescheid vom 07.02.2008 dahingehend, dass der Bescheid vom 10.12.2007 mit Wirkung zum 01.02.2008 aufgehoben werde und die Leistungen nach dem SGB XII zum 31.01.2008 eingestellt würden. Die sofortige Vollziehung des Bescheides wurde angeordnet (Nr. 2 des Bescheides).
Zur Begründung des Sofortvollzuges wurde ausgeführt, dass es nach Aktenlage mehr als offensichtlich sei, der sich der ASt tatsächlich nicht mehr in der Wohnung A-Straße aufhalte. Ohne die Anordnung des Sofortvollzuges würde der AG als unzuständige Behörde weitere Leistungen erbringen, obwohl ein Ersatzanspruch von Seiten des AG nicht geltend gemacht werden könne. Es sei zweifelhaft, ob der AG die vorzustreckenden Leistungen wieder zurückfordern könne. Die rechtmäßige Verwendung von öffentlichen Geldern des AG entsprechend den Vorschriften des SGB XII sei bei einer Leistungserbringung nicht gegeben. Der tägliche Bedarf des ASt sei durch die zwischenzeitliche Rentenzahlung gedeckt. Der ASt könne jederzeit Hilfe zum Lebensunterhalt beim tatsächlich zuständigen Sozialhilfeträger beantragen.
Hiergegen hat der ASt am 14.05.2008 erneut Widerspruch eingelegt und gleichzeitig beim SG im Wege einer einstweiligen Anordnung beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 14.05.2008 gegen den Bescheid vom 09.05.2008 anzuordnen.
Diesen Antrag hat das SG mit Beschluss vom 13.06.2008 abgelehnt. Zur Überzeugung des SG träfen die Angaben des ASt zu seinem Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt offensichtlich nicht zu. Auch die rückwirkende Aufhebung des Bescheids vom 10.12.2007 mit Bescheid vom 09.05.2008 ab dem 01.02.2008 sei rechtmäßig, wobei dahinstehen könne, ob die Abänderung auf § 48 oder § 45 SGB X zu stützen sei. Der ASt habe grob fahrlässig bzw. vorsätzlich gehandelt. Auch die Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 86a Abs 2 Nr 5 SGG sei rechtmäßig, denn das öffentliche Interesse, Steuermittel nicht zu Unrecht aufzuwenden, überwiege das Interesse des ASt.
Bereits vorher hatte der ASt am 16.05.2008 einen neuen Antrag auf Gewährung von Sozialhilfe gestellt, über den nach Aktenlage noch nicht entschieden ist. Hausbesuche am 19.05.2008 und 28.05.2008, 12.06.2008 und 03.07.2008 verliefen jeweils erfolglos, der ASt konnte jeweils nicht angetroffen werden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 15.05.2008 wies die Regierung von Mittelfranken den Widerspruch des ASt gegen den Bescheid des AG vom 07.02.2008 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 09.05.2008 zurück. Hiergegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Nürnberg erhoben (Az: S 19 SO 106/08).
Gegen den Beschluss des SG vom 13.06.2008 hat der ASt am 23.07.2008 Beschwerde eingelegt und zur Begründung auf die Klageschrift dem Verfahren S 19 SO 106/08 Bezug genommen und ergänzend mitgeteilt, dass beim Hausbesuch am 04.02.2008 sehr wohl eine Zahnbürste vorhanden gewesen sei.
Zur Ergänzung des Sachvortrages wird auf die Akten des AG sowie auf die Gerichtsakten 1. und 2. Instanz ergänzend Bezug genommen.
II.
Die form - und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist zulässig. Eine Abhilfeentscheidung ist nicht erforderlich, § 174 SGG ist mit Wirkung zum 01.04.2008 weggefallen. Das Rechtsmittel erweist sich als begründet. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung (VzA) ist aufzuheben (vgl. Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. Aufl. 2008 Rdnr. 247).
Mit Bescheid vom 09.05.2008 hat der AG die sofortige Vollziehung der Aufhebung des Bescheides vom 10.12.2007 mit Wirkung zum 01.02.2008 und die Einstellung von Leistungen nach dem SGB XII zum 31.01.2008 angeordnet.
Nach § 86a Abs 1 S. 2 Nr 5 SGG kann eine Behörde in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten ist, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnen.
Der Anordnung der sofortigen Vollziehung (VzA) gemäß § 86a Abs 1 S. 2 Nr 5 SGG stand nicht der Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg im Verfahren S 19 SO 63/08 ER entgegen. Zwar ist grundsätzlich die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit durch eine Behörde nicht mehr statthaft, wenn bereits eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung durch ein Gericht vorliegt. Diese sachliche Bindungswirkung tritt jedoch nicht ein, wenn das Gericht, insbesondere ohne Bewertung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, lediglich deklaratorisch feststellt, dass der gesetzlich vorgeschriebene Automatismus des Eintritts der aufschiebenden Wirkung vorliegt (vgl. Krodel, aaO Rdnr. 42).
Die VzA war auch formell rechtmäßig. Vor der Anordnung der sofortigen Vollziehung hat der AG den ASt nicht anhören müssen, da es sich bei der Vollzugsanordnung nicht um einen Verwaltungsakt gehandelt hat, bei dem gemäß § 24 SGB X angehört hätte werden müssen, vgl. Keller in Meyer-Ladewig SGG 8. Aufl. § 86a Rdnr. 22). Soweit man eine Anhörungspflicht aus rechtsstaatlichen Gründen bejahen würde (vgl. insoweit Krasney/
Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Auflage S. 185), wäre eine nachträgliche Heilung durch das durchgeführte gerichtliche Verfahren erfolgt (vgl. zu § 80 VwGO Kopp/Schenke VwGO, 14. Aufl. 2005, Rdnr. 82). Die VzA ist nach § 86a Abs 1 S. 2 Nr 5 SGG auch ausführlich schriftlich begründet worden (vgl. insoweit Keller aaO, § 86a Rdnr. 21b). Sie lässt die für die AG bei der Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte und die Gründe dieser Entscheidung erkennen und erschöpft sich nicht in allgemeinen Wendungen und Wiederholungen des Wortlauts des Gesetzes.
Die VzA ist aber materiell rechtswidrig, der AG hat zu Unrecht die sofortige Vollziehung des Bescheides vom 07.02.2008 idF des Bescheides vom 09.05.2008 im öffentlichen Interesse angeordnet. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung ist dabei mehr als das für den Erlass des VA erforderliche Interesse (vgl. Keller aao Rdnr. 20). Dieses fehlt vorliegend.
Notwendig ist nämlich in der Regel ein zusätzliches öffentliches Interesse an dem sofortigen Vollzug, so dass die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass des Verwaltungsaktes nicht zur Begründung der Vollzugsanordnung ausreichen (vgl. BVerfGE 35, 383). Das besondere öffentliche Interesse ist - soweit es vorliegt - mit dem Interesse des Betroffenen abzuwägen, wobei maßgeblich die Folgen sind, die eintreten würden, wenn die sofortige Vollziehung angeordnet und ein Rechtsbehelf Erfolg haben würde, gegenüber den Nachteilen, die entstehen, wenn die sofortige Vollziehung nicht angeordnet und ein Rechtsbehelf keinen Erfolg haben würde. Die VzA ist gerechtfertigt, wenn eine umfassende Abwägung aller öffentlicher und privater Belange zum Ergebnis kommt, dass das Vollziehungsinteresse überwiegt (vgl. Keller aaO § 86a Rdnr. 21)
Dies entspricht dem Grundsatz, dass die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs die Regel und die Anordnung der sofortigen Vollziehung die Ausnahme ist (Regel - Ausnahme - Verhältnis). Bei der Interessenabwägung sind die mit dem Gesetz verfolgten Ziele zu berücksichtigen, die Behörde muss den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten (vgl. zu allem Keller aaO § 86a Rdnr. 20, 20a).
Bei der Frage der Verhältnismäßigkeit steht die drohende Rechtsverletzung des ASt mit den zu prüfenden Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs und des besonderen Vollzugsinteresses in einer Wechselbeziehung. Je schwerer die im Interimszeitraum bis zur Hauptsacheentscheidung drohende Beeinträchtigung der Rechte des ASt ist, umso geringer sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit einer solchen Rechtsverletzung und der Wahrscheinlichkeit des Hauptsacherfolgs und umso höher sind die Anforderungen an das besondere Vollzugsinteresse.
Das besondere Vollzugsinteresse des AG ist hier nicht erkennbar. Die Tatsache, dass eine Rückforderung einer unrechtmäßigen Auszahlung an den ASt aufgrund dessen Vermögensverhältnissen praktisch nicht durchführbar ist, ist kein besonderes Vollzugsinteresse, sondern ein regelmäßiges Problem bei der Auszahlung von existenzsichernden Leistungen an Hilfeempfänger (vgl. LSG Niedersachsen - Bremen Beschluss vom 10.08.2006, L 8 SO 69/06 ER).
Auch die Tatsache, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit von einem Obsiegen des AG im Hauptsacheverfahren auszugehen ist, vermag hieran nichts zu ändern. Von einer offensichtlichen Rechtmäßigkeit der Entscheidung kann nicht ausgegangen werden (für diesen Fall Keller aaO, § 86a Rdnr. 20b). Hierbei ist zu beachten, dass der AG eine Sorgfaltspflichtverletzung im Sinne einer groben Fahrlässigkeit nachzuweisen hat, wobei ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab anzulegen ist (vgl. Schütze in von Wulffen SGB X 6. Aufl. 2008 § 48 Rdnr. 28 mwN). Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen und der beim ASt nach dem Gutachten von Dr. L. vom 04.09.2007 bestehenden drogenindizierten mittelschweren bis schweren depressiven Entwicklung, Angststörung und psychotische Störung wäre es denkbar, dass ein Hauptsacheverfahren für den ASt erfolgreich verläuft. Ebenfalls ist ein tatsächlicher Aufenthalt außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des AG und damit das Vorliegen einer wesentlichen Änderung bislang nicht nachgewiesen. Es kann vermutet werden, dass sich der ASt nicht gewöhnlich in der angegebenen Wohnung aufhält.
Insbesondere aber steht dem nachrangig verpflichteten AG ein Erstattungsanspruch gegen den Rentenversicherungsträger nach § 104 SGB X zu, so dass sich das Ausfallrisiko des AG bei einem Obsiegen in der Hauptsache minimiert.
Mangels Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses ist eine Abwägung mit den Interessen des ASt nicht vorzunehmen. Die VzA war aufzuheben und der Beschwerde stattzugeben. Es verbleibt bei der grundsätzlichen Regelung des § 86a Abs 1 S. 1 SGG. Mit der Aufhebung der sofortigen Vollziehung des Bescheides tritt die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage wieder ein, § 86a Abs 1 S. 1 SGG.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
-
Rechtskraft
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