L 2 B 330/08 P PKH

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 P 35/07
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 B 330/08 P PKH
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 20. März 2008 aufgehoben.

Dem Kläger wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt R. beigeordnet.



Gründe:

I.

Streitig ist, ob dem Kläger für das Verfahren vor dem Sozialgericht Augsburg Prozesskostenhilfe zu gewähren ist.

Der 1985 geborene Kläger (hier Beschwerdeführer - Bf -) wendet sich im Hauptsacheverfahren S 10 P 35/07 gegen den Bescheid vom 12. Januar 2007 i. d. F. des Widerspruchsbescheids vom 16. März 2007, mit dem die Zahlung von Pflegegeld mit Ablauf des
31. Oktober 2007 eingestellt wurde. Der 1985 geborene Kläger steht laut Beschluss des Amtsgerichts N. vom 27. Mai 2003 unter Betreuung. Er leidet an einer psychomotorischen Retardierung infolge eines frühkindlichen Hirnschadens. Seit 1. April 1995 gewährt ihm die Beklagte Leistungen nach Pflegestufe II. Grundlage hierfür war das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Bayern vom 17. August 1995.

Bei einer Nachbegutachtung am 8. August 2006 stellte der MDK fest, im Bereich der Grundpflege bestehe nur noch ein Hilfebedarf von 28 Minuten pro Tag. Der Bf sei selbstständiger geworden. Er benötige nur noch Hilfe in Form von Aufforderung, Beaufsichtigung und teilweiser Übernahme der Verrichtungen im Bereich der Grundpflege. In einem späteren Gutachten vom 27. Dezember 2006 kam der MDK zu einem ähnlichen Ergebnis. Den Hilfebedarf bei den Verrichtungen der Grundpflege schätzte er sogar nur noch mit
20 Minuten pro Tag ein.

Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 16. März 2007) erhob der Bf Klage zum Sozialgericht Augsburg und beantragte, ihm über den 31. Oktober 2007 hinaus Leistungen der Pflegeversicherung zu gewähren.

Am 8. Mai 2007 beantragte er, ihm Prozesskostenhilfe (PKH) zu bewilligen. Eine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse reicht er am 11. Mai 2007 nach. Noch bevor über seinen PKH-Antrag entschieden worden war, holte das Sozialgericht Befundberichte der behandelnden Ärzte ein. Am 17. Oktober 2007 beauftragte es die Pflegesachverständige H. mit der Erstattung eines Gutachtens zum Umfang der notwendigen Pflege. Am 20. November 2007 ging das Gutachten bei Gericht ein. Es bestätigte eine wesentliche Besserung und einen Hilfebedarf für Grundpflegeverrichtungen von nur noch 26,5 Minuten im Tagesdurchschnitt.

Zuvor hatte das Sozialgericht gebeten, die wirtschaftlichen Verhältnisse der Eltern des Bf darzulegen, da ein Anspruch des Bf auf Prozesskostenvorschuss gegenüber seinen Eltern zu prüfen sei. Die gewünschten Unterlagen gingen am 23. Oktober 2007 beim Sozialgericht ein.

Mit Beschluss vom 20. März 2008 lehnte das Sozialgericht PKH ab. Die Klage habe keine Aussicht auf Erfolg. Durch das Sachverständigengutachten der Pflegefachkraft H. sei eine wesentliche Besserung und ein verringerter Hilfebedarf unterhalb der Zeitvorgabe von Pflegestufe I nachgewiesen. Darüber hinaus sei der Bf nicht bedürftig im Sinne der Vorschriften über PKH. Er habe einen Anspruch auf Prozesskostenvorschuss gegenüber seinem Vater. Danach könnten die Kosten der Prozessführung mit vier Monatsraten beglichen werden.

Der PKH-Beschluss wurde dem Kläger am 27. März 2008 zugestellt. Am 16. April 2008 legte er dagegen Beschwerde ein. Er machte geltend, die Klage sei nicht mutwillig erhoben worden und habe auch hinreichende Aussicht auf Erfolg. Zu Unrecht habe das Sozialgericht bei Prüfung der Erfolgsaussicht auf den 20. März 2008 abgestellt, nachdem bereits eine umfangreiche Beweisaufnahme stattgefunden hatte. Richtigerweise hätte das Sozialgericht auf den Zeitpunkt der Antragstellung abstellen und die Erfolgsaussicht zu diesem Zeitpunkt beurteilen müssen. Darüber hinaus habe der Bf gegen seine Eltern keinen Anspruch auf Prozesskostenvorschuss. Der Bf habe zum Zeitpunkt der Antragstellung auf PKH über Einnahmen in Höhe von 161 EUR aus seiner Tätigkeit bei einer Behinderten-Werkstätte und daneben 154 Euro Kindergeld sowie Grundsicherungsleistungen in Höhe von 250 EUR bezogen. Die Einkommensverhältnisse seines Vaters seien vom Sozialgericht in Bezug auf einen Prozesskostenvorschuss des Bf unrichtig berechnet worden.

Der Bf beantragte, den Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 20. März 2008 aufzuheben, ihm Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Sozialgericht zu bewilligen und Rechtsanwalt R. beizuordnen.

II.

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgericht Augsburg vom 20. März 2008, zugestellt am 27. März 2008, ist statthaft nach §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
i. d. F. vom 23. September 1975, geändert durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993. Im hier zu entscheidenden Rechtsstreit gilt § 172 SGG in der vor dem SGG- und ArbGG- Änderungsgesetz vom 26. März 2008 geltenden Fassung, weil Beschlüsse ohne mündliche Verhandlung mit ihrer Zustellung wirksam werden (§ 133 SGG). Der ablehnende PKH-Beschluss des Sozialgerichts wurde dem Kläger am
27. März 2008 zugestellt und damit noch vor den Zeitpunkt des Inkrafttretens der geänderten Fassung des § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG zum 1. April 2008. Nach der bis zum
31. März 2008 geltenden Fassung des § 172 Abs. 1 SGG war eine Beschwerde gegen einen ablehnenden Prozesskostenhilfebeschluss uneingeschränkt zulässig. Seit 1. April 2008 hängt die Statthaftigkeit der Beschwerde davon ab, ob sich die Ablehnung ausschließlich auf die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen bezieht (§ 172
Abs. 3 Nr. 2 SGG). Zwar enthält das Gesetz zur Änderung des SGG und des ArbGG vom 26. März 2008 keine Übergangsvorschrift. Jedoch folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem daraus resultierenden Schutz des Vertrauens eines Rechtsmittelführers, dass ein vor der Gesetzesänderung, mögliches Rechtsmittel nach bisher geltenden Rechts zulässig bleibt, selbst wenn das Rechtsmittel erst nach Inkrafttreten der Gesetzesänderung, wie hier am 16. April 2008 eingelegt wird (so auch Bay LSG Beschluss vom 11. August 2008 - L 2 B 970(07 U PKH). Im Übrigen kann der Senat dahinstehen lassen, ob überhaupt der Ausschluss des § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG n. F. eingreift und die Beschwerde unzulässig wäre, weil das Sozialgericht in der Beschlussbegründung in erster Linie auf die Erfolgsaussicht der Klage im Hauptsacheverfahren abgestellt und nur hilfsweise angeführt hat, der Bf sei nicht bedürftig. Demnach sieht der Senat auch aus diesem rechtlichen Gesichtspunkt die Beschwerde als statthaft und zulässig an.

Nach § 73 a SGG i. V. m. §§ 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe. Voraussetzungen sind die Glaubhaftmachung der Bedürftigkeit, der Ausschluss der Mutwilligkeit der Rechtsverfolgung und eine hinreichende Aussicht auf Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung. Ist, wie im sozialgerichtlichen Verfahren, eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht vorgeschrieben, wird der Partei auf ihren Antrag ein zur Vertretung bereiter Rechtsanwalt ihrer Wahl beigeordnet, wenn die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint oder der Gegner durch einen Rechtsanwalt vertreten ist (§ 121 Abs. 2 ZPO). In seiner Entscheidung vom 22. Juli 2007 führte das Bundesverfassungsgericht (1 BvR 681/07) aus, ob die Beiordnung eines Rechtsanwalts erforderlich sei, beurteile sich u.a. auch nach der Fähigkeit des Beteiligten sich mündlich oder schriftlich auszudrücken. Auch im sozialgerichtlichen Verfahren, das vom Amtsermittlungs- grundsatz beherrscht werde, müsse das Prinzip der Rechtsschutzgleichheit i.S. der "Waffengleichheit" gewahrt und einem Beteiligten die Vertretung durch einen Rechtsanwalt zugestanden werden.

Entgegen der Ausführungen des Sozialgerichts im angefochtenen Beschluss ist der Bf bedürftig. Er kann nicht auf einen Anspruch auf Zahlung eines Prozesskostenvorschuss gegen seine Eltern verwiesen werden. In der höchstrichterlichen zivilgerichtlichen und verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wird zwar davon ausgegangen, dass auch volljährigen Kindern grundsätzlich ein Anspruch auf Zahlung eines Prozesskostenvorschuss gegen ihre Eltern nach § 1610 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in entsprechender Anwendung des § 1360 a BGB zu stehen kann ( BGH NJW 2005, 1722, m.w.N.). Ein derartiger Anspruch setzt in analoger Anwendung des § 1360 a BGB voraus, dass die Situation des bedürftigen volljährigen Kindes derjenigen eines unterhaltsberechtigten Ehegatten vergleichbar ist. Das ist nur dann der Fall, wenn das volljährige Kind wegen der Fortdauer seiner Ausbildung noch keine eigene Lebensstellung erworben hat und deswegen übergangsweise wie ein minderjähriges Kind noch der Unterstützung durch seine Eltern bedarf. Die Betonung liegt dabei auf der übergangsweisen Situation der Bedürftigkeit (so auch BayVGH Beschluss vom 27. März 2007 - 5 C 06.2392, OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. März 2008 - 9 M 17.08).

Im hier zu entscheidenden Rechtsstreit ist der Kläger aufgrund seiner Behinderung dauerhaft nicht in der Lage eine eigene Lebensstellung zu erwerben, die seinen Unterhalt gewährleistet. Vielmehr ist er aufgrund seiner Behinderung lediglich in der Lage, eine gering entlohnte Tätigkeit in einer Behindertenwerkstatt ausüben zu können. Daneben ist er auf den Bezug von Grundsicherungsleistungen angewiesen. Ein volljähriges behindertes Kind ist nicht ohne zeitliche Begrenzung auf einen Prozesskostenvorschuss gegen seine Eltern verweisbar (BGH-Urteil vom 18. April 1984, NJW 1984,1813 und Palandt 68. Aufl., § 1603 Rn. 56). Einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe gegenüber seinen Eltern hat der Bf somit nicht. Seine Einkünfte, bestehend aus Kindergeld, Grundsicherung und Einnahmen aus nichtselbstständiger Arbeit liegen unter Berücksichtigung der zulässigen Abzüge gem. § 115 ZPO unterhalb der Einkommensgrenze, ab der zumindest Ratenzahlungen zu leisten wären. Der Bf ist somit bedürftig; ihm steht dem Grunde nach Prozesskostenhilfe zu.

Die Rechtsverfolgung ist nicht mutwillig und hat hinreichende Aussicht auf Erfolg. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung dieser Voraussetzungen ist grundsätzlich der der Beschlussfassung. Als früherer Zeitpunkt kann die Antragstellung in Betracht kommen, sofern zu diesem Zeitpunkt die erforderlichen Erklärungen und Unterlagen vorliegen bzw. sobald diese Unterlagen nachgereicht worden sind. In diesem Falle kann ein Prozesskostenhilfe bewilligender Beschluss Rückwirkungen erhalten (Thomas/Putzo, ZPO, 24. Aufl., § 119 Rn. 2 und 3). Eine Verzögerung der Beschlussfassung soll sich nicht zum Nachteil des Rechtsuchenden auswirken. Aus der Sicht des Sozialgerichts war der maßgebende Zeitpunkt erst dann eingetreten, als der Bf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse seines Vaters bzw. seiner Eltern offen gelegt hatte. Nach der hier vom Senat vertretenen Auffassung kommt es jedoch auf einen Anspruch auf Prozesskostenvorschuss gegen die Eltern des Bf nicht an. Das Sozialgericht hätte demnach bereits über PKH entscheiden können, nach dem der Kläger seine eigenen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse offengelegt hatte. Dies war der 11. Mai 2007. Zu diesem Zeitpunkt bestand hinreichende Erfolgsaussicht.

Die hinreichende Aussicht auf Erfolg der Rechtsverfolgung beurteilt sich hier danach, ob diese am 11. Mai 2007 bejaht werden konnte. Für die Bewertung der Erfolgsaussicht darf und muss sich das Gericht mit einer vorläufigen Prüfung begnügen. Der Erfolg braucht nicht gewiss zu sein, muss aber nach den bisherigen Umständen eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich haben (Thomas/Putzo a.a.O. § 114 Rn. 3). Allein die Tatsache, dass ein Gericht ein medizinisches Sachverständigengutachten für notwendig hält und in Auftrag gibt, spricht dafür, dass der geltend gemachte Anspruch noch ungewiss ist und von einer weiteren Sachaufklärung abhängt. Dies reicht aus, um eine gewisse Erfolgsaussicht wahrscheinlich erscheinen zulassen (Meyer-Ladewig, Keller, Leitherer, SGG, 9. Aufl. § 73 a Rn. 7a).

Es steht fest, dass das Sozialgericht erst am 17. Oktober 2007 ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben und davor Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt hat. Zum frühestens Zeitpunkt, am 11. Mai 2007 war damit noch offen, ob der Bf mit seinem Begehren Erfolg haben würde. Dies hing vom Ergebnis des Sachverständigengutachtens, das erst am 20. November 2007 beim Sozialgericht einging, ab. Damit steht fest, dass zum Zeitpunkt der vollständigen Antragstellung auf Prozesskostenhilfe am 11. Mai 2007 jedenfalls eine gewisse Erfolgsaussicht nicht hätte verneint werden dürfen.

Der Senat kommt damit zum Ergebnis, dass dem Kläger für das Verfahren vor dem Sozialgericht Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt R. beizuordnen ist. Der anders lautende Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 20. März 2008 war aufzuheben.

Dieser Beschlusses ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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