L 19 R 184/10 B

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 20 R 607/06
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 R 184/10 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Der Rechtsbehelf einer Untätigkeitsbeschwerde kann nicht im Wege richterrechtlicher Rechtsfortbildung geschaffen werden.
I. Die Beschwerde der Klägerin wird als unzulässig verworfen.

II. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.



Gründe:


I.

Die Klägerin hat am 11.09.2006 vor dem Sozialgericht (SG) Augsburg Klage erhoben. Das SG hat sich für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit mit Beschluss vom 05.10.2006 an das SG Nürnberg verwiesen. Nach Erwiderungen der Beklagten zum Berufungsvorbringungen und Ergänzungen der Klägerin hat diese mehrfach beim SG um eine Terminierung nachgesucht. Zuletzt hat das SG am 07.08.2009 mitgeteilt, dass entgegen einer Ankündigung des Gerichts vom 08.04.2009 ein Erörterungstermin bis Ende August 2009 nicht durchgeführt werden könne. Grund hierfür sei ein bevorstehender Zuständigkeitswechsel. Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 24.11.2009 nochmals gebeten, dem Verfahren Fortgang zu geben, wenigstens mit Anberaumung eines Erörterungstermins. Dieses Anliegen sei als Untätigkeitsbeschwerde zu verstehen, falls bis zum 31.01.2010 keine Terminierung erfolge.

Unter dem 02.12.2009 hat das SG darauf hingewiesen, dass aufgrund der Änderung der Geschäftsverteilung die Kammerzuständigkeit für den Rechtsstreit gewechselt habe. Der nunmehr zuständige Kammervorsitzende hat der Klägerin mit Schreiben vom 04.12.2009 mitgeteilt, dass er versuchen werde, das Verfahren baldmöglichst zu Ende zu bringen.

Mit Schriftsatz vom 02.03.20109 hat die Klägerin eine Untätigkeitsbeschwerde erhoben und beantragt, dem SG aufzugeben, das Klageverfahren mit besonderem Vorrang zu bearbeiten und insbesondere unverzüglich einen nahe liegenden Termin zur mündlichen Verhandlung anzuberaumen. Das SG habe den Vorgaben des Art 6 Abs 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention -EMRK-) nicht Rechnung getragen, da es den Rechtsstreit nicht innerhalb einer angemessenen Frist entschieden habe. Nach dem Beschluss des Bundessozialgerichts vom 13.12.2005 sei als generelle zeitliche Grenze, bei deren Überschreiten ein Konventionsverstoß zu vermuten sei, eine Dauer von drei Jahren je Gerichtsinstanz anzunehmen. Die Missachtung des Anspruches auf Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist könne mit einer Beschwerde gerügt werden; insoweit seien die Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Beschwerde entsprechend anzuwenden. Dies gebiete auch die Verpflichtung der staatlichen Organe und Gerichte, im Rahmen ihrer Zuständigkeit einen fortdauernden Verstoß gegen die EMRK zu beenden und einen konventionsgemäßen Zustand herstellen.

Die Beklagten haben sich geäußert. Die Beklagte zu 1) hat sinngemäß beantragt, die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen. Eine Untätigkeitsklage sei im Gesetzt nicht vorgesehen und könne nicht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung geschaffen werden.

II.

Die Untätigkeitsbeschwerde der Klägerin ist als unzulässig zu verwerfen.

Nach § 172 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) findet die Beschwerde gegen die Entscheidungen der Sozialgerichte mit Ausnahme der Urteile und gegen Entscheidungen der Vorsitzenden dieser Gerichte an das Landessozialgericht statt, soweit nicht in dem SGG etwas anderes bestimmt ist. Eine in diesem Sinne beschwerdefähige Entscheidung des SG liegt nicht vor. Die bloße Untätigkeit eines SG in Form der Nichtterminierung eines Rechtsstreits oder das "Nichtentscheiden" des Rechtsstreits können nicht Gegenstand einer Beschwerde nach § 172 SGG sein, so dass für die erhobene Untätigkeitsbeschwerde keine gesetzliche Rechtsgrundlage existiert.

Der Rechtsbehelf einer Untätigkeitsbeschwerde kann auch nicht im Wege richterrechtlicher Rechtsfortbildung geschaffen werden, da es gegen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit verstößt, wenn von der Rechtsprechung außerordentliche Rechtsbehelfe außerhalb des geschriebenen Rechts geschaffen werden, um tatsächliche oder vermeintliche Lücken im bisherigen Rechtsschutzsystem zu schließen (vgl. BVerfG Beschlüsse vom 16.01.2007 - 1 BvR 2803/06 = NJW 2007, 2538 und vom 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02 = BVerfGE 107, 395, 416; BSG Beschlüsse vom 19.01.2010 - B 11 AL 13/09 C, 28.02.2008 - B 7 AL 109/07 B, 06.02.2008 - B 6 KA 61/07 B, 04.09.2007 - B 2 U 208/06 B = SozR 4-1500 § 160a Nr 18, 21.05.2007 - B 1 KR 4/07 S = SozR 4-1500 § 106a Nr 17; LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 17.09.2009 - L 13 R 3984/09 B, L 13 R 4253/09 W-A = JurBüro 2010, 45; LSG Schleswig- Holstein Beschluss vom 27.04.2009 - L 11 B 45/09 AS; LSG Bayern Beschluss vom 05.02.2009 - L 16 B 1068/08 AS; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, Rz 2c, 6c, 8 zu § 172 SGG).

Entsprechend geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte davon aus, dass eine richterrechtlich begründete außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde kein wirksamer Rechtsbehelf gegen eine überlange Verfahrensdauer ist (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 08.06.2006 - 75529/01 = EuGRZ 2007, 255 = NJW 2006, 2389).

Dies zugrunde gelegt verbleibt kein Raum für die Schaffung einer durch Richterrecht begründeten Untätigkeitsbeschwerde, um auf ein laufendes Verfahren einzuwirken. Aufgrund der genannten späteren Rechtsprechung insbesondere des BVerfG sind Ausführungen zu dem von der Klägerin genannten Beschluss des BSG vom 13.12.2005 (B 4 RA 220/04 B = SozR 4-1500 § 160a Nr 11) nicht veranlasst. Die Untätigkeitsbeschwerde der Klägerin war daher mangels Rechtsgrundlage als unzulässig zu verwerfen. Demnach ist nicht darüber zu entscheiden, ob eine Verletzung des Anspruches auf Rechtsschutz in angemessener Zeit vorliegt, wobei allerdings der nach Änderung der Geschäftsverteilung jetzt zuständige Kammervorsitzende unter dem 04.12.2009 angekündigt hat, in dem Verfahren alsbald eine Entscheidung herbeizuführen.

Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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