L 2 P 35/10 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 14 P 30/10 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 35/10 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Ein Anspruchsanspruch auf Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung besteht im einstweiligen Rechtsschutz jedenfalls dann nicht, wenn der Eintritt des Leistungsfalls bislang nicht dokumentiert ist und sich aus aktuellen ärztlichen Berichten ein gebesserter Allgemeinzustand ergibt.
2. Die Stufen der Pflegebedürftigkeit verstoßen nicht gegen das verfassungsrechtliche Verbot der Benachteiligung von Menschen mit Behinderung.
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 30. März 2010 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.



Gründe:

I.
Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (im Folgenden: Bf.), die von ihrer Betreuerin vertreten wird, begehrt die Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe I. Einen Antrag vom 25. Januar 2008 lehnte die Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Bg.) nach Einholung von Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) mit Bescheid vom 10. April 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Juni 2009 ab. Sie bezog sich dabei auf die Feststellungen des MDK vom 20. März 2008, dass trotz bestehender chronischer Polyarthritis und Gon-arthrose keine Pflegestufe (Grundpflege 10 Minuten, hauswirtschaftliche Versorgung
30 Minuten, Gesamtzeitbedarf 40 Minuten) vorliege. Mit Gutachten vom 26. März 2009 bestätigte der MDK diese Einschätzung, gelangte jedoch zu einem Bedarf in der Grundpflege von 30 Minuten und in der Hauswirtschaft von 45 Minuten.
In dem beim Sozialgericht Würzburg durchgeführten Klageverfahren (Az.: S 14 P 46/09) hat das Sozialgericht den Internisten und Sozialmediziner Dr. G. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Dieser ist in dem Gutachten vom 8. Februar 2010 zu dem Ergebnis gelangt, dass bei der Bf. ein Hilfebedarf in der Grundpflege von 38 Minuten (Körperpflege 20 Minuten, Ernährung 6 Minuten, Mobilität 12 Minuten) bestehe. Mit Gerichtsbescheid vom 17. Mai 2010 hat das Sozialgericht die Klage daraufhin abgewiesen. Hiergegen ist derzeit eine Berufung beim Bayer. Landessozialgericht anhängig (Az.: L 2 P 55/10).
Am 26. März 2010 ist beim Sozialgericht Würzburg ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz eingegangen, mit dem die Bf. für die Dauer von zunächst fünf Monaten die Gewährung einer Grundpflege durch einen Pflegedienst begehrt. Seit dem Gutachten des
Dr. G. habe sich der Gesundheitszustand verschlechtert. Hierzu hat die Bf. eine eidesstattliche Versicherung von Herrn M. P. vom 25. März 2010, einen ärztlichen Bericht des Universitätsklinikums A-Stadt vom 17. März 2010 sowie einen Bericht des Chirurgen Dr. F. vom 4. März 2010 vorgelegt.
Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sowie der Gewährung von Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom 30. März 2010 abgelehnt. Es läge weder ein Anordnungsanspruch noch ein Anordnungsgrund vor. Nach dem für das Gericht bei summarischer Prüfung überzeugenden und schlüssigen Gutachten des Dr. G. lägen die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I nicht vor. Die von der Bf. vorgebrachte notwendige Hilfe bei der Wundversorgung gehöre nicht zur Grundpflege im Sinne des Elften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XI), sondern zum Behandlungspflege, die von der gesetzlichen Krankenversicherung zu leisten wäre. Im Übrigen sei nicht glaubhaft gemacht, dass sich der Hilfebedarf signifikant erhöht habe. Aufgrund der finanziellen Situation sei auch ein Anordnungsgrund nicht ersichtlich.
Gegen diesen Beschluss hat die Bf. Beschwerde eingelegt. Sie hat hierbei bestritten, dass es sich bei den Begutachtungen durch den MDK um Gutachten handele. Ferner hat sie Einwendungen gegen das Gutachten des Dr. G. vorgebracht. Die Weigerung, ihr ein wöchentliches häusliches Bad anzuerkennen, wie dies von Dr. G. geschehen sei, verstoße gegen Art. 118 a der Bayerischen Verfassung (BV). Die Bg. habe sich mit der gefährlichen Erkrankung und der dadurch entstandenen erheblichen Verschlechterung der Lebenssituation nicht auseinandergesetzt oder berücksichtigt. Sie habe sich krankheitsbedingt vom 25. Mai bis 2. Juni 2010 im Universitätsklinikum A-Stadt stationär behandeln lassen müssen. Anschließend sei bis 12. Juni 2010 die Antibiotikatherapie mit einer täglichen Infusion zuhause fortgesetzt worden. Die Bf. hat hierzu einen Bericht des Universitätsklinikums A-Stadt vom 25. Mai 2010 vorgelegt.
Die Bg. hat darauf hingewiesen, dass die Gewährung von Pflegeleistungen im Rahmen einer Pflegestufe nicht zulässig sei, solange die Voraussetzungen für eine Pflegestufe nicht durch eine Stellungnahme des MDK oder durch ein gerichtliches Gutachten nachgewiesen seien. Eine Auseinandersetzung mit dem Gutachten des Dr. G. müsse im Hauptsacheverfahren erfolgen. Auch bei Berücksichtigung eines Vollbades pro Woche würde die Voraussetzung der Pflegestufe I nicht erreicht. Schließlich seien verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Regelungen des SGB XI nicht ersichtlich. Im Rahmen des Berufungsverfahrens hat die Bg. ausgeführt, dass die Einschätzungen des Dr. G. zutreffend und teilweise sogar großzügig bemessen seien.
Die Bf. hat die Gewährung von Prozesskostenhilfe und die Beiordnung des Rechtsanwalts G. M. beantragt; mit Beschluss vom 19. Juli 2010 hat der Senat den Antrag abgelehnt.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist gemäß §§ 172 ff Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, jedoch nicht begründet. Zu Recht lehnte das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sowie auf Gewährung von Prozesskostenhilfe einschließlich der Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten ab.

Gemäß § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dabei hat das Gericht die Belange der Öffentlichkeit und des Antragstellers abzuwägen. Wenn eine Klage keine Aussicht auf Erfolg hätte, ist ein Recht, das geschützt werden muss, nicht vorhanden (Bayer. Landessozialgericht,
Az.: L 2 B 354/01 U ER).

Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass sowohl der Anordnungsgrund als auch der Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht worden sind (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. §§ 290 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung - ZPO). Die Glaubhaftmachung begnügt sich bei der Ermittlung des Sachverhaltes als Gegensatz zum Vollbeweis mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Dagegen dürfen die Anforderungen an die Erkenntnis der Rechtslage, d.h. die Intensität der rechtlichen Prüfung, grundsätzlich nicht herabgestuft werden. Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab für das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs ist grundsätzlich das materielle Recht, das vollumfänglich zu prüfen ist. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, und ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so verlangt der Anspruch des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz eine Eilentscheidung anhand einer umfassenden Güter- und Folgenabwägung (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005, Az.: 1 BvR 569/05).

Die Bf. begehrt die Gewährung von Leistungen aus der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I. Pflegebedürftige können nach § 37 Abs. 1 S. 1 bis 3 SGB XI Pflegegeld erhalten, wenn sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch eine Pflegeperson (§ 19 S. 1 SGB XI) in geeigneter Weise sowie dem Umfang des Pflegegeldes entsprechend selbst sicherstellen und mindestens die Pflegestufe I vorliegt.

Maßgebend für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den einzelnen Pflegestufen ist der Umfang des Pflegebedarfs bei denjenigen gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, die in § 14 Abs. 4 SGB XI aufgeführt und dort in die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Nrn. 1 bis 3), die zur Grundpflege gehören, sowie den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (Nr. 4) aufgeteilt sind. Der in diesen Bestimmungen aufgeführte Katalog der Verrichtungen stellt, nach Ergänzung um die im Gesetz offenbar versehentlich nicht ausdrücklich genannten Verrichtungen Sitzen und Liegen (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 14), eine abschließende Regelung dar (BSGE 82, 27), die sich am üblichen Tagesablauf eines gesunden bzw. nicht behinderten Menschen orientiert (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 3).

Nach § 15 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB XI muss zur Erlangung der Pflegestufe I der Zeitaufwand für die erforderlichen Hilfeleistungen der Grundpflege täglich mehr als 45 Minuten (Grundpflegebedarf), für solche der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung zusammen mindestens 90 Minuten (Gesamtpflegebedarf) betragen. Unter Grundpflege ist die Hilfe bei gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nrn. 1 bis 3 SGB XI), unter hauswirtschaftlicher Versorgung die Hilfe bei der Nahrungsbesorgung und -zubereitung, bei der Kleidungspflege sowie bei der Wohnungsreinigung und -beheizung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4
SGB XI) zu verstehen.

Nach den vorliegenden Gutachten des MDK sowie des Dr. G. sind diese Voraussetzungen der Pflegestufe I nicht erfüllt. Zwar wird aus dem im Widerspruchsverfahren eingeholten Gutachten des MDK und dem sozialgerichtlichen Gutachten deutlich, dass eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes eingetreten ist. Davon ist wohl auch zukünftig auszugehen. Dennoch liegt auch nach diesen Gutachten der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege noch unter 45 Minuten. Der Eintritt des Leistungsfalls ist bislang nicht dokumentiert. Aus dem Bericht des Universitätsklinikums A-Stadt vom 25. Mai 2010 ergibt sich vielmehr, dass die Bf. in deutlich gebessertem Allgemeinzustand in die hausärztliche Betreuung entlassen wurde. Eine osteoporotische Fraktur bestätigte sich nicht. Eine initiierte Schmerzmedikation hat die Bf. gut vertragen. Es obliegt nicht dem grundsätzlich nur summarischen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, den Vortrag der Bf. darüber hinaus durch Einholung eines weiteren Gutachtens medizinisch abzuklären, zumal es der Bf. auf eine zügige Entscheidung ankommt.

Der geltend gemachte Verstoß gegen Art. 118 a BV liegt nicht vor. Danach dürfen Menschen mit Behinderung nicht benachteiligt werden. Der Staat setzt sich für gleichwertige Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung ein. Soweit die Bf. einen Verstoß mit der Nichtberücksichtigung eines wöchentlichen häuslichen Bades begründet, wird auch bei einem anzusetzenden Hilfebedarf von vier Minuten/täglich die Voraussetzung der Pflegestufe I nach § 15 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB XI nicht erreicht. Darüber hinaus hat Dr. G. einen täglichen Hilfebedarf beim Waschen (5 Minuten) und Duschen
(12 Minuten) berücksichtigt.

Der Senat hat schließlich keine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Regelung der §§ 14, 15 SGB XI. Insbesondere vermag er darin keinen Verstoß gegen das Verbot der Benachteiligung von Menschen mit Behinderung, wie es in Art. 118 a BV bzw. in Art. 3 Abs. 3 S. 2 des Grundgesetzes (GG) verankert ist, zu erkennen, zumal auch dieses Grundrecht nicht uneingeschränkt gilt. Eine rechtliche Schlechterstellung Behinderter ist zulässig, wenn zwingende Gründe dafür vorliegen (VerfGH vom 9. Juli 2002 = VerfGH 55, 85/92; VerfGH vom 23. August 2006 = VerfGH 59, 200/205; VerfGH, BayVBl. 2009,
173 ff; BVerfG, BVerfGE 99, 341/357). Dabei ist vorliegend eine abgestufte Leistungsgewährung im Hinblick auf die finanziellen Grenzen einer sozialen Pflegeversicherung, der Ausgestaltung als Teilabsicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit und der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit nicht zu beanstanden (siehe auch Nichtannahmebeschluss des BVerfG, FamRZ 2003, 1084 f zu Art. 3 Abs. 1 GG).
Es scheidet damit bereits ein Anordnungsanspruch und somit eine Anordnung gemäß § 86 b Abs. 2 SGG musste somit ausscheiden.
Soweit sich die Bf. ferner gegen die Ablehnung der Prozesskostenhilfe vor dem Sozialgericht und die Beiordnung eines Rechtsanwalts wendet, ist die Beschwerde ebenfalls unbegründet. Nach § 73 a SGG in Verbindung mit den §§ 114 f Zivilprozessordnung (ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe. Voraussetzungen sind dabei neben einem Antrag, der Glaubhaftmachung der Bedürftigkeit und dem Ausschluss der Mutwilligkeit der Rechtsverfolgung eine hinreichende Aussicht auf Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung, § 73 a Abs. 1 S. 1 SGG, § 114 Abs. 1 S. 1 ZPO. Ist, wie im sozialgerichtlichen Verfahren, eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht vorgeschrieben, wird der Partei auf ihren Antrag ein zur Vertretung bereiter Rechtsanwalt ihrer Wahl beigeordnet, wenn die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint oder der Gegner durch einen Rechtsanwalt vertreten ist, § 121 Abs. 2 ZPO.
Das Sozialgericht ging, gestützt auf das Gutachten des Dr. G. sowie des MDK, aus den oben dargelegten Gründen zu Recht davon aus, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Antrag auch im Beschwerdeverfahren nicht erfolgreich war.
Der Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
Saved