L 2 P 69/10 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 14 P 50/10 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 69/10 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Zum Fehlen eines Anordnungsanspruches und -grundes auf vorläufige Gewährung von Pflegeleistungen.
2. Sagt der Antragsteller wiederholt Termine zur Begutachtung durch den MDK ab, kann dies zur Ablehnung eines Anordnungsgrundes führen.
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 27. Juli 2010 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.



Gründe:


I.

Der Antragsteller und Beschwerdeführer (im Folgenden: Bf.) begehrt die vorläufige Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe II, hilfsweise nach der Pflegestufe I.

Der Bf. beantragte am 30. April 2009 bei der Antrags- und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Bg.) Pflegeleistungen. Die Bg. holte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) in Bayern vom 10. Juli 2009 ein, der als pflegebegründende Diagnosen Blindheit und Sehschwäche sowie einen nicht primär insulinabhängigen Diabetes mellitus mit Folgeerkrankungen feststellte. Im Bereich der Grundpflege bestehe allerdings lediglich ein Hilfebedarf von fünf Minuten pro Tag, für hauswirtschaftliche Versorgung von 25 Minuten. Mit Bescheid vom 21. August 2009 lehnte die Bg. daraufhin Pflegeleistungen ab.

Über den hiergegen gerichteten Widerspruch hat die Bg. bislang noch nicht entschieden. Sie holte jedoch eine erneute Stellungnahme nach Aktenlage des MDK vom 22. Februar 2010 ein, der an der Einschätzung festhielt, es liege keine Pflegestufe vor. Der Bf. hielt seinen Widerspruch mit Schreiben vom 28. März 2010 aufrecht.

Am 14. Juli 2010 ging ein Antrag des Bf. auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Würzburg ein. Nach seiner Entlassung aus der Klinik bestehe eine Notlage; die Kosten u.a. eines Pflegers nach der Pflegestufe II seien von der Bg. zu erstatten. Zugleich stellte er am 19. Juli 2010 einen Neufeststellungsantrag auf Gewährung der Pflegestufe II. Die Bg. stellte mit Schreiben vom 4. August 2010 eine erneute Begutachtung durch den MDK in Aussicht, stellte diese jedoch im Hinblick auf den stationären Krankenhausaufenthalt und die im Anschluss daran geplante Reha-Maßnahme zunächst zurück. Nach einer Gesprächsnotiz vom 21. September 2010 sagte der Bf. stets Termine zur Begutachtung durch den MDK ab.

Das Sozialgericht wies den Antrag mit Beschluss vom 27. Juli 2010 ab. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei nicht begründet, da aufgrund der gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage kein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht worden sei. Das Sozialgericht verwies zur Begründung auf die Gutachten des MDK. Es lägen ferner keine aktuellen Angaben über den Krankenhausaufenthalt und die weitere Behandlung vor. Die Krankenhausbehandlung sei am 20. Juli 2010 abgeschlossen worden. Es sei davon auszugehen, dass diese jedenfalls nicht zur Verschlechterung des Gesundheitszustandes geführt habe. Es sei ferner weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht, dass die Voraussetzungen, die zur Gewährung einer Pflegestufe führen, voraussichtlich für mindestens sechs Monate gegeben seien (§ 14 Abs. 1 des Elften Buchs Sozialgesetzbuch - SGB XI). Im Übrigen fehle es auch an einem Anordnungsgrund, denn es sie nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass dem Bf. wesentliche Nachteile drohen, wenn ihm die beantragten Leistungen der Pflegeversicherung im Eilverfahren nicht zumindest einstweilen zuerkannt würden. Es sei keine drohende Gefahr für Leib und Leben oder eine Verwahrlosungstendenz zu erkennen. Schließlich sei die Pflege tatsächlich nicht sichergestellt im Sinne des § 37 Abs. 1 S. 2 SGB XI.

Beim Sozialgericht ist ferner eine Klage gegen die Bg. sowie den Sozialhilfeträger anhängig gemacht, mit der der Bf. Leistungsgewährung nach der Pflegestufe II begehrt (Az.: S 14 P 51/10).

Zur Begründung der Beschwerde hat der Bf. vorgebracht, dass sich sein Gesundheitszustand seit November 2005, bis zu diesem Zeitpunkt er Pflegegeld durch das Landratsamt erhalten habe, konstant verschlechtert habe. Auch seit der letzten Begutachtung durch den MDK aus dem Jahre 2008 hätten sich die Folgen des Diabetes rapide verschlechtert. Es hätten weitere Ermittlungen erfolgen müssen, insbesondere hätte der Hausarzt sowie die Universitätsklinik W. angehört werden müssen.

Die Bg. hat beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist gemäß §§ 172 ff Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, jedoch nicht begründet. Zu Recht lehnte das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab.

Gemäß § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dabei hat das Gericht die Belange der Öffentlichkeit und des Antragstellers abzuwägen. Wenn eine Klage keine Aussicht auf Erfolg hätte, ist ein Recht, das geschützt werden muss, nicht vorhanden (Bayer. Landessozialgericht, Az.: L 2 B 354/01 U ER). Dabei kann der Antrag auch bereits vor Erlass des Widerspruchsbescheides gestellt werden.

Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass sowohl der Anordnungsgrund als auch der Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht worden sind (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. §§ 290 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung - ZPO). Die Glaubhaftmachung begnügt sich bei der Ermittlung des Sachverhaltes als Gegensatz zum Vollbeweis mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Dagegen dürfen die Anforderungen an die Erkenntnis der Rechtslage, d.h. die Intensität der rechtlichen Prüfung, grundsätzlich nicht herabgestuft werden. Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab für das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs ist grundsätzlich das materielle Recht, das vollumfänglich zu prüfen ist. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, und ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so verlangt der Anspruch des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz eine Eilentscheidung anhand einer umfassenden Güter- und Folgenabwägung (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005, Az.: 1 BvR 569/05).

Zutreffend verneinte das Sozialgericht das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs, da die Voraussetzungen für die Gewährung der Pflegestufe II, aber auch der Pflegestufe I bei gebotener summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht gegeben sind. Umfangreiche medizinische Sachverhaltsermittlungen wie die Einholung diverser Befundberichte und die erneute Begutachtung des Bf. müssen dem Widerspruchs- bzw. Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, da es dem Bf. erkennbar auf eine zügige Entscheidung über seinen Antrag ankommt.

Pflegebedürftige können nach § 37 Abs. 1 S. 1 bis 3 SGB XI Pflegegeld erhalten, wenn sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch eine Pflegeperson (§ 19 S. 1 SGB XI) in geeigneter Weise sowie dem Umfang des Pflegegeldes entsprechend selbst sicherstellen und mindestens die Pflegestufe I vorliegt.

Maßgebend für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den einzelnen Pflegestufen ist der Umfang des Pflegebedarfs bei denjenigen gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, die in § 14 Abs. 4 SGB XI aufgeführt und dort in die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Nrn. 1 bis 3), die zur Grundpflege gehören, sowie den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (Nr. 4) aufgeteilt sind. Der in diesen Bestimmungen aufgeführte Katalog der Verrichtungen stellt, nach Ergänzung um die im Gesetz offenbar versehentlich nicht ausdrücklich genannten Verrichtungen Sitzen und Liegen (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 14), eine abschließende Regelung dar (BSGE 82, 27), die sich am üblichen Tagesablauf eines gesunden bzw. nicht behinderten Menschen orientiert (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 3).

Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss nach § 15 Abs. 3 Nr. 2 SGB XI wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen, hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen - für die Pflegestufe I betragen die zeitlichen Grenzen 90 Minuten; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen, § 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB I. Unter Grundpflege ist die Hilfe bei gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nrn. 1 bis 3 SGB XI), unter hauswirtschaftlicher Versorgung die Hilfe bei der Nahrungsbesorgung und -zubereitung, bei der Kleidungspflege sowie bei der Wohnungsreinigung und -beheizung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI) zu verstehen.

Nach den vorliegenden medizinischen Gutachten des MDK, die nicht aus dem Jahre 2008, sondern aus 2009 und 2010 stammen, sind diese zeitlichen Vorgaben derzeit auch für die Pflegestufe I deutlich unterschritten. Der MDK stellte lediglich einen Hilfebedarf in der Grundpflege von fünf Minuten, für Hauswirtschaft von 25 Minuten fest. Zutreffend weist der MDK ferner darauf hin, dass für die Einschätzung des Hilfebedarfs allein auf den Fremdhilfebedarf, nicht jedoch auf die Schwere der Erkrankung oder den Grad der Behinderung nach dem Schwerbehindertengesetz abzustellen ist. Auch ist nicht maßgebend, dass der Bf. in früheren Zeiten Pflegeleistungen bezogen hatte; abzustellen ist vielmehr allein auf den maßgeblich zu beurteilenden Zeitraum, der sich durch die Antragsstellung bestimmt.

Dabei berücksichtigte der MDK als pflegerelevante Diagnosen sowohl die Sehschwäche bzw. Blindheit als auch die Folgen des Diabetes mellitus wie Polyneuropathie, periphere Durchblutungsstörungen sowie diabetische Retionopathie.

Eine relevante Zunahme der Pflegebedürftigkeit während des Verfahrens ist nicht belegt, insbesondere stehen die stationären Behandlungen mit der Grunderkrankung Diabetes mellitus in unmittelbarem Zusammenhang. Soweit der Bf. vorbringt, dass nach dem 1. August 2010 die Sach- und Rechtslage neu bedacht werden müsse, ist auf den Neuantrag vom 13. Juli 2010 abzustellen. Nach einer Aktennotiz vom 21. September 2010 konnte allerdings eine Begutachtung durch den MDK bislang nicht erfolgen, da der Bf. die Begutachtungstermine stets absagte. Auch daraus ergeben sich erhebliche Zweifel, dass eine Zunahme des Hilfebedarfs gegenüber der letzten Begutachtung in Höhe von mindestens 41 Minuten im Bereich der Grundpflege und 20 Minuten im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung stattgefunden hat; ferner wird dadurch die Ansicht des Sozialgerichts, auf die der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen insoweit verweist, bekräftigt, dass auch kein Anordnungsgrund vorliegt.

Die Beschwerde war daher zurückzuweisen.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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