L 5 KR 391/10 B PKH

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 12 KR 51/10
Datum
-
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KR 391/10 B PKH
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Prozesskostenhilfe - Erfolgsaussicht - off - label - use
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 23. August 2010 aufgehoben und Prozesskostenhilfe ab Antragstellung unter Beiordnung von Rechtsanwalt B., B-Straße, A-Stadt, ohne Ratenzahlung bewilligt.



Gründe:

I.
In dem vor dem Sozialgericht anhängigen Rechtsstreit ist streitig ein Anspruch des Klägers gegen die Beklagte auf Leistung des Arzneimittels "Seroquel Prolong".
Mit Schreiben an die Beklagte vom 13. August 2009 teilte der behandelnde Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Notfallmedizin Dr. W. mit, er beabsichtige die Anwendung des Arzneimittels Seroquel Prolong. Das Arzneimittel sei für die beim Kläger gestellten Diagnosen "Störungen des Sozialverhaltens", "leichte Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung, die Beobachtung oder Behandlung erfordert" nicht zugelassen. Die Beklagte beauftragte daraufhin den Medizinischen Dienst der Krankenkassen in Bayern (MDK Bayern) mit einer Begutachtung nach Aktenlage. Im seinem Gutachten vom 2. September 2009 kam der MDK Bayern zu dem Ergebnis, die Anwendung von Seroquel Prolong stelle bei dem Kläger einen Off-Label-Use dar. Die engen Voraussetzungen eines Einsatzes auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung seien nicht gegeben. Der MDK Bayern konnte den vorgelegten Unterlagen insbesondere nicht entnehmen, dass sich die beim Kläger vorliegende Erkrankung durch Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebe. Auch stünden ausreichend alternative Behandlungsmethoden zur Verfügung. In einem mit "Vorbemerkung" überschriebenen Text des Gutachtens verwies der MDK Bayern darauf, die Ausführlichkeit seiner Begutachtung sei dadurch limitiert, dass der medizinische Akteninhalt im Gegensatz zu der ausführlichen und differenzierten Fragestellung der Beklagten "eher marginal" sei. Mit Schreiben an den Kläger vom 8. Oktober 2009 lehnte die Beklagte mit Hinweis auf das Ergebnis der Begutachtung vom 2. September 2009 den Antrag auf Kostenübernahme für das Arzneimittel Seroquel Prolong ab. Auf den vom Betreuer des Klägers erhobenen Widerspruch vom 13. Oktober 2009 wurde von der Beklagten eine weitere Stellungnahme des MDK Bayern in Auftrag gegeben. Neben dem Schriftwechsel zwischen den Beteiligten lag der Begutachtung als weiterer medizinischer Befund lediglich ein Schreiben von Dr. W. vom 12. Oktober 2009 vor, in dem sich der behandelnde Arzt nochmals ausdrücklich für den Einsatz des begehrten Medikamentes ausgesprochen und alternative Behandlungsmöglichkeiten ausgeschlossen hatte. In einem ebenfalls nach Aktenlage erstellten Sozialmedizinischen Gutachten vom 4. Dezember 2009 kam der MDK Bayern zu dem Ergebnis, der begehrte Off-Label-Use könne nur im Rahmen einer klinischen Studie, keinesfalls im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung befürwortet werden, da es an ausreichenden Daten aus klinischen Studien fehle. Mit Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 2010 lehnte die Beklagte erneut die Kostenübernahme für das Arzneimittel Seroquel Prolong ab.
Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 11. Februar 2010 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht erhoben und zugleich die Gewährung von Prozesskostenhilfe beantragt. Zur weiteren Aufklärung des Sacherhalts hat das Sozialgericht die Schwerbehinderten-Akten des Zentrums Bayern Familie und Soziales beigezogen und Befundberichte von Dr. W. und dem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. R. angefordert. Mit Beschluss vom 23. August 2010 hat das Sozialgericht den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Das Sozialgericht hat eine hinreichende Erfolgsaussicht der Klage verneint. Bei der Anwendung des Medikaments Seroquel Prolong handele es sich um keinen durch Gesetzesrecht und untergesetzliche Regelungen gedeckten Off-Label-Use. Die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts erforderlichen Voraussetzungen für einen Off-Label-Use zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung seien nicht gegeben. Fraglich sei schon das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung. Zudem existierten alternative Therapiemöglichkeiten. Das Sozialgericht hat insoweit auf die im Gutachten des MDK Bayern vom 2. September 2009 aufgeführten Behandlungsalternativen verwiesen. Zudem fehle es an der dritten Voraussetzung für eine Kostenübernahme bei Off-Label-Use. Aufgrund der Datenlage bestehe nicht die begründete Aussicht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden könne. Es lägen derzeit keine Forschungsergebnisse vor, die erwarten ließen, dass das begehrte Arzneimittel für die Behandlung der Krankheit F91.8 (sonstige Störung des Sozialverhaltens) zugelassen werden könne. Auch angesichts der vom Prozessbevollmächtigen des Klägers vorgelegten Aufsätze und Summaries sei festzustellen, dass die Mindestvoraussetzungen für eine Zulassung für diese Erkrankung nicht vorliegen. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98) ergebe sich kein anderes Ergebnis. Es bestehe bei dem Kläger keine lebensbedrohliche Erkrankung.
Gegen den am 27. August 2010 beim Prozessbevollmächtigten des Klägers eingegangenen Beschluss hat der Kläger mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 24. September 2010 (eingegangen am Bayerischen Landessozialgericht am selben Tag) Beschwerde erhoben.
Der Kläger macht insbesondere geltend, Erfolgsaussichten seien der Klage nicht völlig abzusprechen, wenn Ermittlungen angezeigt seien. In diesen Fällen müsse Prozesskostenhilfe bewilligt werden. Das Sozialgericht habe selbst Ermittlungen zur Aufklärung des Sachverhalts für notwendig gehalten und bereits Befundberichte der behandelnden Ärzte angefordert.
Der Kläger beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 23. August 2010 aufzuheben und Rechtsanwalt B. für das erstinstanzliche Verfahren im Rahmen der Prozesskostenhilfe beizuordnen.
Die Beklagte beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Zu den Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt aller Akten, insbesondere der Akten des Sozialgerichts und der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.
II.
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig und auch begründet. Der Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 23. August 2010 ist aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe.

Prozesskostenhilfe erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, sofern die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§ 73a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz, SGG, § 114 Satz 1 Zivilprozessordnung, ZPO). Erscheint die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich, wird ihm auf seinen Antrag ein zur Vertretung bereiter Rechtsanwalt seiner Wahl beigeordnet (§ 121 Abs. 2 ZPO).

Bei der Anwendung der Vorschriften der § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO ist die in Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verbürgte Rechtsschutzgleichheit zu beachten. Diese erfordert eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Zwar ist es verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint.

Dagegen darf die Prüfung der Erfolgsaussichten nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (vgl. BVerfGE 81, 347 ). Insbesondere läuft es dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, wenn der unbemittelten Partei wegen Fehlens der Erfolgsaussichten ihres Rechtsschutzbegehrens Prozesskostenhilfe verweigert wird, obwohl eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zu ihrem Nachteil ausgehen würde (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. Senat 2. Kammer vom 29. Oktober 2009, 1 BvR 2237/09, Rz. 5 - zitiert nach juris m.w.N.).

Wie auch im Beschluss des Sozialgerichts vom 23. August 2010 aufgeführt, ist maßgeblich für die Entscheidung des vor dem Sozialgericht anhängigen Rechtsstreits, ob die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts entwickelten Voraussetzungen eines Off-Label-Uses auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung gegeben sind. Ein Off-Label-Use kommt danach nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (vgl. BSG Urteil vom 30. Juni 2009, B 1 KR 5/09 R, Rz. 30- zitiert nach juris m.w.N.). Schon zur Beantwortung der vom Sozialgericht noch offen gelassenen Frage, ob die Lebensqualität des Klägers aufgrund seiner Erkrankung auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt ist, ist medizinischer Sachverstand erforderlich. Die gilt umso mehr für die Beurteilung, ob der Kläger mit alternativen Behandlungsmethoden therapiert werden kann. Insbesondere im Hinblick auf das vom Sozialgericht Augsburg zitierte Gutachten des MDK Bayern vom 2. September 2009 erscheint die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens durch das Sozialgericht unverzichtbar. Der MDK Bayern konnte sich bei seiner - nur nach Aktenlage erfolgten - Begutachtung lediglich auf einen nach eigenen Angaben "eher marginalen" medizinischen Akteninhalt stützen. Dem zweiten Gutachten des MDK Bayern vom 4. Dezember 2009 lag ein nur unwesentlich umfangreicherer Akteninhalt zugrunde. Auch hinsichtlich der letzten Voraussetzung eines Off-Label-Use zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung, einer begründeten Aussicht, dass mit dem Medikament Seroquel Prolong ein Behandlungserfolg erzielt werden kann, wird ein Arzt gutachtlich gehört werden müssen. Dabei werden sämtliche einschlägigen Fachveröffentlichungen - auch über die vom Kläger vorgelegten Publikationen hinaus - zu prüfen sein. Der Ausgang der ärztlichen Begutachtung erscheint offen. Insbesondere liegen keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgehen wird.

Die sich in Rechtsstreitigkeiten über den Off-Label-Use stellenden Fragen sind nicht einfach zu beantworten. Daher erscheint die Zuziehung eines Rechtsanwalts geboten.

Der Kläger ist nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen auch nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung aufzubringen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO)
Dieser Beschluss ist nach § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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