L 2 P 86/10 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 19 P 173/10 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 86/10 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Zum Fehlen eines Anordnungsgrundes.
2. Im Rahmen der Abwägung der Belange der Beteiligten sind auch die vorliegenden gerichtlichen Gutachten sowie Gutachten des MDK zu berücksichtigen.
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 30. August 2010 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.



Gründe:


I.

Der Antragsteller und Beschwerdeführer (im Folgenden: Bf.) wendet sich im Beschwerdeverfahren gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 30. August 2010, mit dem dieses den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Gewährung von Leistungen aus der Pflegeversicherung zurückgewiesen hat.

Der Bf. bezieht seit 1. Mai 2008 Leistungen der Pflegeversicherung nach der Pflege-
stufe I. Einen Antrag auf Höherstufung vom 15. April 2008 lehnte die Beklagte und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Bg.) mit Bescheid vom 19. Juni 2008 ab. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) in Bayern habe in einem Gutachten vom
10. Juni 2008 einen zeitlichen Bedarf im Bereich der Grundpflege von 85 Minuten festgestellt, so dass die Voraussetzungen der Pflegestufe II nicht gegeben seien. Den Widerspruch wies die Bg. mit Widerspruchsbescheid vom 20. Februar 2009 nach Einholung eines erneuten Gutachtens des MDK vom 22. Dezember 2008 zurück, der den Zeitaufwand im Bereich der Grundpflege auf lediglich 68 Minuten pro Tag einschätzte.

Hiergegen hat die durch Beschluss des Amtsgerichts A-Stadt vom 27. April 2010 entpflichtete frühere Betreuerin des Bf., Frau D., Klage beim Sozialgericht München erhoben (Az.: S 19 P 54/09). Der vom Sozialgericht als Gutachter bestellte R. F. hat in dem Gutachten vom 3. August 2009 einen Grundpflegebedarf von 129 Minuten pro Tag und einen Bedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung von 60 Minuten ermittelt. Damit seien die Voraussetzungen der Pflegestufe II derzeit gegeben - jedoch noch nicht bis Dezember 2008. Die Bg. hat hierzu ein weiteres Gutachten des MDK nach Hausbesuch vom 21. Januar 2010 übersandt, der lediglich zu einem Grundpflegebedarf von 87 Minuten gelangt ist. Der vom Sozialgericht beauftragte Arbeits- und Sozialmediziner Dr. H. hat in seinem Gutachten vom 27. Juli 2010 ausgeführt, dass durchgehend seit Antragstellung und auch weiterhin die Pflegestufe I vorliege. Pflege begründend seien vor allem eine Adipositas permagna mit erheblicher Beeinträchtigung des Geh- und Stehvermögens, eine Persönlichkeitsstörung, eine Depression, ein chronisches Schmerzsyndrom, eine Polyneuropathie der Beine und der linken Hand sowie eine Harninkontinenz. Dabei liege der Zeitansatz für den grundpflegerischen Hilfebedarf mit 104 Minuten höher als im Gutachten des MDK jedoch niedriger als von Herrn F. angenommen. Insbesondere bestehe ein geringerer Hilfebedarf als angenommen beim Wechseln und Entleeren des Urinbeutels und kein Hilfebedarf beim Klistieren.

Die ehemalige Betreuerin hat am 8. Juli 2010 einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Der Bf. sei lebensbedrohlich erkrankt und brauche rund um die Uhr Pflege. Sie hat sich hierbei auf ein nervenärztliches Gutachten des Dr. R. vom 1. Juli 2010, erstellt im Betreuungsverfahren für das Amtsgericht A-Stadt, bezogen. Danach bestehe beim Bf. ein hirnorganisches Psychosyndrom mit paranoider Prägung bei vorbestehender kombinierter Persönlichkeitsstörung mit Somatisierungsstörung und Essstörung mit Adipositas permagna und Diabetes mellitus. Es sei eine Rund-um-die-Uhr-Pflege bzw. vollstationäre Pflege notwendig. Die ehemalige Betreuerin hat ferner ausgeführt, dass ein Härtefall vorliege.

Das Amtsgericht A-Stadt hat mit Beschluss vom 27. April 2010 Herrn C. als Betreuer bestellt, der den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz am 11. August 2010 aufrecht erhalten hat. Mit Beschluss vom 17. August 2010 hat das Amtsgericht als neue Betreuerin die Rechtsanwältin K. bestellt.

Das Sozialgericht hat den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mit Beschluss vom
30. August 2010 abgelehnt. Zum einen liege eine Vertretungsbefugnis der Frau D. nicht vor, zum anderen seien die materiellen Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht gegeben. Das Sozialgericht hat hierzu auf die Feststellungen des medizinischen Sachverständigen Dr. H. verwiesen.

Zur Begründung der hiergegen eingelegten Beschwerde hat der Prozessbevollmächtigte des Bf. ausgeführt, dass der Bf. aufgrund seines gesundheitlichen Zustands dringend die geltend gemachten Leistungen benötige. Auch verschlechtere sich der gesundheitliche Zustand laufend. Es bestehe erhebliche Pflegebedürftigkeit, wobei eine Pflege rund um die Uhr bzw. vollstationär notwendig sei. Er hat ein Attest der Internistin Dr. S. vom 3. Dezember 2009 vorgelegt sowie mitgeteilt, dass der Bf. sich inzwischen in einem Pflegeheim befindet.

Die Bg. hat die Ansicht vertreten, dass ein Antragsanspruch und ein -grund nicht glaubhaft gemacht seien. Nach dem Gutachten des Dr. H. bestehe weiterhin Pflegebedürftigkeit im Rahmen der Pflegestufe I. Unstreitig sei eine erhebliche Pflegebedürftigkeit im Sinne des § 15 Abs. 1 Nr. 1 des Elften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XI) gegeben, jedoch kein Härtefall mit einem Leistungsanspruch nach der Pflegestufe III. Den Begriff der Rund-um-die-Uhr-Pflege kenne das SGB XI nicht. Ob der Pflegebedürftige Leistungen eines ambulanten Pflegedienstes oder durch vollstationäre Pflege in Anspruch nehme, stehe weitgehend in seinem Ermessen. Darüber hinaus seien Maßnahmen der Behandlungspflege sowie allgemeine Betreuung und Beaufsichtigung im Rahmen der Beurteilung der Voraussetzungen der Pflegestufe grundsätzlich nicht zu berücksichtigen.

Das Sozialgericht hat mitgeteilt, dass die derzeitige Betreuerin am 13. Dezember 2010 einen Antrag auf Höherstufung bei der Bg. gestellt hat. Dieser Antrag solle nicht Gegen-stand des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes werden.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist gemäß §§ 172 ff SGG zulässig, jedoch nicht begründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind nach § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dabei hat das Gericht die Belange der Öffentlichkeit und des Antragstellers abzuwägen. Wenn eine Klage keine Aussicht auf Erfolg hätte, ist ein Recht, das geschützt werden muss, nicht vorhanden (Bayer. Landessozialgericht, Az.: L 2 B 354/01 U ER).

Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass sowohl der Anordnungsgrund als auch der Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht worden sind (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. §§ 290 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung - ZPO). Die Glaubhaftmachung begnügt sich bei der Ermittlung des Sachverhaltes im Gegensatz zum Vollbeweis mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Dagegen dürfen die Anforderungen an die Erkenntnis der Rechtslage, d.h. die Intensität der rechtlichen Prüfung, grundsätzlich nicht herabgestuft werden. Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab für das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs ist das materielle Recht, das vollumfänglich zu prüfen ist. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, und ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so verlangt der Anspruch des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz eine Eilentscheidung anhand einer umfassenden Güter- und Folgenabwägung (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005, Az.: 1 BvR 569/05).

Zwar wurde der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz von der damals bereits entpflichteten, ehemaligen Betreuerin gestellt, wobei vom Vorliegen einer fehlenden Prozessfähigkeit des Bf. im Sinne des § 71 SGG auszugehen ist, doch ist die im Antragsverfahren durch Erklärung des damaligen Betreuers erfolgte nachträgliche Genehmigung der bisherigen Prozessführung ausreichend (vgl. auch Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG,
9. Aufl., § 71 Rdnr. 8 e). Gemäß Mitteilung im Hauptsacheverfahren ist auch von einer Genehmigung durch die jetzige Betreuerin auszugehen.

Materiell fehlt es bereits am Vorliegen eines Anordnungsanspruchs. Im Rahmen der Auslegung des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz ist zum einen zu prüfen, ob das Vorliegen eines Härtefalls gegeben ist, zum anderen, ob vorläufig Leistungen nach der Pflegestufe II - wie im Hauptsacheverfahren beantragt - zu gewähren sind. Unstreitig ist zwischen den Beteiligten, dass jedenfalls die Voraussetzungen der Pflegestufe I nach §§ 14, 15 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB XI vorliegen. Mit dem streitgegenständlichen Bescheid ist damit das Vorliegen einer erheblichen Pflegebedürftigkeit (§ 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB XI) anerkannt. Eine Härtefallregelung kennt das SGB XI zum einen im Rahmen von Leistungen bei häuslicher Pflege nach § 36 Abs. 4 S. 1 SGB XI, zum anderen bei vollstationärer Pflege nach § 43 Abs. 3 S. 1 SGB XI. Voraussetzungen ist dabei jedoch stets, dass im Falle des § 36 Abs. 4 S. 1 SGB XI eine Pflegestufe III im Sinne des § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 3
SGB XI vorliegt bzw. dass für die Heimpflege über den normalen Pflegesatz der Pflegestufe III hinaus zusätzliche Kosten aufzubringen sind. Dies ist nach den vorliegenden Gutachten des MDK, des Dr. H. sowie auch des Herrn F. bei Weitem nicht der Fall, nach denen lediglich die Voraussetzungen der Pflegestufe I bzw. II gegeben sind.

Es liegt aber auch kein Anordnungsanspruch für die vorläufige Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe II vor, bei der der zeitliche Aufwand im Bereich der Grundpflege mindestens 2 Stunden betragen muss, auch wenn dies von dem Sachverständigen F. mit 129 Minuten angenommen wird. Dies wird nämlich zuletzt durch das Gutachten des Dr. H. nicht bestätigt, der sich eingehend auch mit diesem Ergebnis des Vorgutachters auseinandergesetzt hat. Im Rahmen der gebotenen summarischen Prüfung überzeugt das Gutachten des Dr. H., der darlegt, dass der Hilfebedarf beim Wechseln und Entleeren des Urinbeutels mit 16 Minuten deutlich zu hoch angesetzt ist. Soweit sich der Bf. auf das Gutachten des Dr. R. bezieht, der einen Pflegebedarf rund um die Uhr annimmt, vermag dies nicht einen Anordnungsanspruch zu begründen. Es handelt sich bei dem Gutachten um eine Einschätzung im Rahmen eines Unterbringungs- bzw. Betreuungsverfahrens. Davon zu unterscheiden ist der Pflegebegriff in der sozialen Pflegeversicherung. Pflegebedürftigkeit richtet sich danach, inwieweit die Ausführung der gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens krankheits- oder behinderungsbedingt eingeschränkt oder aufgehoben ist und ein Bedarf an Hilfeleistungen besteht. Für die Beurteilung sind jedoch nur bestimmte elementare Lebensbereiche maßgebend. Dabei unterscheidet § 14 Abs. 4 SGB XI abschließend nach den Bereichen Körperpflege, Ernährung, Mobilität und hauswirtschaftliche Versorgung (zum Ganzen: Udsching, SGB XI, 3. Aufl., § 14 Rdnrn. 3 und 4). Nicht zu berücksichtigen ist insbesondere ein allgemeiner Aufsichts- und Betreuungsbedarf sowie Maßnahmen der Behandlungspflege.

Soweit eine laufende Verschlechterung des Gesundheitszustandes vorgebracht wird, der sich auch in der Unterbringung in ein Pflegeheim ausdrücken könnte, ist dies im Rahmen des am 13. Dezember 2010 gestellten Höherstufungsantrags bzw. im Rahmen des Hauptsacheverfahrens zu prüfen. Es widerspräche aufgrund der vom Bf. angenommenen Eilbedürftigkeit, im Rahmen des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes ein Gutachten einzuholen. Im Übrigen ergibt sich aus dem im Beschwerdeverfahren vorgelegten Attest der Dr. S. keine aktuelle Verschlechterung, da dieses bereits vom 3. Dezember 2009 datiert, sich auch in der Klageakte befindet und in der Zwischenzeit Begutachtungen durch den MDK und durch den gerichtlichen Sachverständigen erfolgt sind, die durchgehend vom Vorliegen der Pflegestufe I ausgehen.

Im Übrigen ist selbst bei bloßer Abwägung der Interessen der Beteiligten dem Antrag nicht stattzugeben. Zum einen sind bei der Bg. die Belange der Öffentlichkeit und der Versichertengemeinschaft, hier an der Nichtleistung von Pflegeleistungen und somit am wirtschaftlichen und sparsamen Umgang mit den Haushaltsmitteln des Sozialversicherungsträgers, zu berücksichtigen, zum anderen vor allem finanzielle Belange des Bf. Die Abwägung fällt, auch unter Würdigung der möglichen Durchsetzbarkeit von eventuellen Rückforderungsansprüchen gegen den Bf. bei vorläufiger Leistungsgewährung, zu Gunsten der Bg. aus. Dabei verkennt der Senat nicht, dass durch pflegerische Maßnahmen nicht unbedeutende finanzielle Belastungen auf den Bf. zukommen können. Im Rahmen der Abwägung ist jedoch auch zu beachten, dass, wie dargelegt, lediglich der Sachverständige F. die Voraussetzungen der Pflegestufe II als derzeit knapp erreicht angesehen hat und dieses Gutachten gemäß dem Gutachten des Dr. H. kritisch zu hinterfragen ist. Ferner kann sich die Bg. auf mehrere, für den Bf. nachteilige Gutachten des MDK beziehen. Schließlich erhält der Bf. wenigstens seit Mai 2008 Pflegeleistungen nach der Pflegestufe I.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wurde somit vom Sozialgericht zu Recht abgewiesen.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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