L 2 P 51/09

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 3 P 79/06 FdV
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 51/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 P 8/11 B
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Fällt neben der hauswirtschaftlichen Versorgung allein ein allgemeiner Beaufsichtigungsbedarf an, liegt eine Plfegestufe nicht vor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 29. Juli 2009 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Klägerin trägt 225.- EUR Kosten des Verfahrens.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Leistungen der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I.

Die 1986 geborene Klägerin hatte bereits für die Zeit vom 8. September 1999 bis 31. Juli 2002 bei der damals zuständigen AOK Brandenburg die Gewährung der Pflegestufe I beantragt. Das Sozialgericht Frankfurt hatte die Klage mit Urteil vom 5. September 2003 abgewiesen. Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hatte die Berufung mit Urteil vom 6. September 2005 zurückgewiesen.

Am 8. April 2002 beantragte sie bei der Beklagten die Gewährung der Pflegestufe I bei hyperkinetischen Verhaltensstörungen.

Die Beklagte holte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) in Bayern vom 4. Juli 2002 ein, der als pflegebegründende Diagnosen einen Verdacht auf psychische und Verhaltensstörungen sowie auf Essstörungen diagnostizierte. Allerdings sei die Klägerin im Grundpflegebereich völlig selbstständig, so dass kein zeitlicher Grundpflegebedarf anfalle. Im Bereich der Hauswirtschaft sei ein Bedarf von 45 Minuten täglich anzuerkennen.

Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 8. Juli 2002 ab. Auch im Widerspruchsverfahren gelangte der MDK in einem Gutachten nach Aktenlage zu dem Ergebnis, dass ein Betreuungsbedarf allenfalls in hauswirtschaftlichen Verrichtungen und bei der von der Mutter geleisteten umfassenden psychologischen Betreuung anfalle. Diese finde bei der Beurteilung von Pflegebedürftigkeit keine Berücksichtigung. Alltagspflegerelevante geistige oder körperliche Funktionsstörungen seien nicht festzustellen. Die Beklagte wies daraufhin den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 2002 zurück.

Das Sozialgericht Landshut hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt und die Mutter der Klägerin als Pflegeperson angehört. Danach hat die Klägerin ab September 2005 eine eigene Wohnung in R. und seit März 2006 in A-Stadt in der Nähe des Elternhauses bewohnt. Die Mutter hat ferner angegeben, sie habe die Tochter zwei- bis dreimal die Wochen für zwei bis drei Stunden in ihrer Wohnung in R. besucht. Sie helfe ihr beim Haarewaschen und überwache die Kleidung.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 29. Juli 2009 abgewiesen. Aufgrund der vorliegenden Gutachten habe die Klägerin im Bereich der gesetzlich normierten Grundpflege keinen Hilfebedarf. Insbesondere die Befragung der Mutter lasse den geltend gemachten Anspruch als rechtsmissbräuchliche, mutwillige Inanspruchnahme von Verwaltungsbehörden und Gerichten erscheinen.

Zur Begründung der hiergegen gerichteten Berufung hat sich die Klägerin auf die Angaben der Mutter gestützt. Hieraus ergebe sich ein erheblicher Zeitaufwand bei der Grundpflege. Diese hat im Berufungsverfahren ergänzend angegeben, dass sich die Klägerin schwer helfen lasse und renitent sei.

Der gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gehörte Neurologe und Psychiater Dr. D. hat in einem Gutachten vom Januar 2011 (aus organisatorischen Gründen ohne Hausbesuch) Depressionen, Ängste und Halswirbelsäulen-(HWS-)Beschwerden festgestellt. Eine Pflegebedürftigkeit sei nicht gegeben. Bei der Begutachtung habe sich gezeigt, dass eine exakte gutachterliche Beurteilung auch ohne Hausbesuch möglich gewesen sei.

In einem Telefonat vom 17. Februar 2011 hat der Vorsitzende der Prozessbevollmächtigten der Klägerin mitgeteilt, dass der Gutachter mitgeteilt habe, er könne zeitlich den Hausbesuch nachholen; er halte dies jedoch nicht für erforderlich. Er kenne die Klägerin schon länger. Es sei keine Änderung gegenüber dem Gutachten zu erwarten. Auf Anregung der Klägerin mit Schriftsatz vom 7. März 2011, bei dem Sachverständigen nachzufragen, ob in der Zeit von 2002 bis 2008 eine Pflegestufe vorgelegen habe, hat dieser mitgeteilt, die in dem Gutachten abgegebene Einschätzung treffe auch für den Zeitraum von 2002 bis 2008 zu.

Mit Schriftsatz vom 25. März 2011 hat die Klägerin beantragt, den Gutachter zu entbinden, da dieser keinen Hausbesuch abgehalten habe. Ferner solle die Mutter als Zeugin gehört werden. Außerdem hat sie die Einholung eines weiteren Gutachtens nach § 109 SGG auf nervenfachärztlichem Gebiet durch Dr. M., hilfsweise durch Dr. B. beantragt.

In der mündlichen Verhandlung vom 30. März 2011 hat der Vorsitzende die Verhängung von Kosten nach § 192 SGG in Höhe von 225.- EUR angedroht.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 29. Juli 2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8. Juli 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. September 2002 aufzuheben und ihr Leistungen nach der Pflegestufe I ab 8. April 2002 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Im Übrigen wird auf den Inhalt der Akte der Beklagten sowie der Klage- und Berufungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), jedoch unbegründet.

Pflegebedürftige können nach § 37 Abs. 1 S. 1 bis 3 des Elften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XI) Pflegegeld erhalten, wenn sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch eine Pflegeperson (§ 19 S. 1 SGB XI) in geeigneter Weise sowie dem Umfang des Pflegegeldes entsprechend selbst sicherstellen und mindestens die Pflegestufe I vorliegt.

Maßgebend für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den einzelnen Pflegestufen ist der Umfang des Pflegebedarfs bei denjenigen gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, die in § 14 Abs. 4 SGB XI aufgeführt und dort in die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Nrn. 1 bis 3), die zur Grundpflege gehören, sowie den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (Nr. 4) aufgeteilt sind. Der in diesen Bestimmungen aufgeführte Katalog der Verrichtungen stellt eine abschließende Regelung dar (BSGE 82, 27), die sich am üblichen Tagesablauf eines gesunden bzw. nicht behinderten Menschen orientiert (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 3).

Nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI muss zur Erlangung der Pflegestufe I der Zeitaufwand für die erforderlichen Hilfeleistungen der Grundpflege täglich mehr als 45 Minuten (Grundpflegebedarf), für solche der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung zusammen mindestens 90 Minuten (Gesamtpflegebedarf) betragen. Unter Grundpflege ist die Hilfe bei gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nrn. 1 bis 3 SGB XI), unter hauswirtschaftlicher Versorgung die Hilfe bei der Nahrungsbesorgung und -zubereitung, bei der Kleidungspflege sowie bei der Wohnungsreinigung und -beheizung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4
SGB XI) zu verstehen.

Zur Grundpflege zählen:
1. im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung;
2. im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung;
3. im Bereich der Mobilität das selbstständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung.

In keinem dieser Bereiche ist ein Hilfebedarf der Klägerin gegeben. Der MDK stellte nach Hausbesuch im Jahre 2002 fest, dass die Klägerin im Grundpflegebereich völlig selbstständig ist. Auch Dr. D. bestätigt diese Einschätzung in seinem Gutachten; wegen der psychischen Gesundheitsstörungen besteht keine Pflegenotwendigkeit. Dies gilt nach der ergänzenden Feststellung des Sachverständigen auch für den gesamten Zeitraum seit der Antragstellung.

Das Gutachten des Dr. D. ist auch zu verwerten. Der schriftsätzliche Antrag vom
25. März 2011, den Sachverständigen zu "entbinden", ist nicht mit einer Befangenheit des Gutachters gemäß § 118 SGG in Verbindung mit §§ 406, 411 der Zivilprozessordnung (ZPO) begründet, sondern mit dem Verzicht auf einen Hausbesuch, so dass es eines gesonderten Beschlusses hierüber nicht bedurfte. Dass Dr. D., der zunächst aus organisatorischen Gründen auf den Hausbesuch verzichtet, da er die Klägerin seit Längerem kenne und diesen auch medizinisch nicht für notwendig erachtete, im Februar die Nachholung des Hausbesuchs anbot, war der Prozessbevollmächtigten der Klägerin seit
17. Februar 2011 bekannt. Der daraufhin mit Schriftsatz vom 7. März 2011 lediglich aufgeworfenen Frage, wie die Einschätzung des Gutachters für die Zeit von 2002 bis 2008 ist, ist der Senat durch Einholung einer ergänzenden Äußerung des Dr. D. nachgekommen. Damit wäre im Übrigen auch bei Annahme eines Antrags auf Ablehnung des Gutachters wegen Besorgnis der Befangenheit der Antrag als verspätet und somit unzulässig zu verwerfen (§§ 406 Abs. 2 S. 2 ZPO), da die Ablehnung unverzüglich, spätestens jedoch in dem Schriftsatz vom 7. März 2011 hätte geltend gemacht werden müssen.

Zutreffend weist das Sozialgericht darauf hin, dass sich eine Pflegebedürftigkeit auch nicht aus den Angaben der Mutter ergibt, die zu Art und Umfang der Hilfeleistungen bereits gehört wurde - eine erneute Anhörung durch den Senat, wie dies lediglich im Schriftsatz vom 25. März 2011 vorgebracht wurde, konnte daher unterbleiben. Die Klägerin, die selbstständig in einer eigenen Wohnung lebt, wird von der Mutter - in R. zwei- bis dreimal die Woche für zwei bis drei Stunden - besucht. Der Schwerpunkt der Besuche liegt offensichtlich darin, bei der Klägerin nach dem Rechten zu sehen. Das Bundesssozialgericht (hier zitiert aus: BSG, Beschluss vom 8. Mai 2001, Az.: B 3 P 4/01 B) hat bereits mehrfach entschieden, dass eine allgemeine Aufsicht, die darin besteht zu überwachen, ob die erforderlichen Verrichtungen des täglichen Lebens von dem Pflegebedürftigen ordnungsgemäß ausgeführt werden, und dazu führt, dass dieser gelegentlich - auch wiederholt - zu bestimmten Handlungen aufgefordert werden muss, nicht ausreicht, weil eine nennenswerte Beanspruchung der Pflegeperson damit nicht verbunden ist. Ein Beaufsichtigungsbedarf ist nur zu berücksichtigen, wenn die Pflegeperson dabei nicht nur verfügbar und einsatzbereit, sondern durch die notwendigen Aufsichtsmaßnahmen - wie bei der Übernahme von Verrichtungen - auch zeitlich und örtlich in der Weise gebunden ist, dass sie vorübergehend an der Erledigung anderer Dinge gehindert ist, denen sie sich widmen würde bzw. könnte (z.B. Arbeiten aller Art im Haushalt oder Freizeitgestaltung), wenn die Notwendigkeit der Hilfeleistung nicht bestünde (Urteile vom 24. Juni 1998 - B 3 P 4/97 R - SozR 3-3300 § 14 Nr. 5 und 6. August 1998 - B 3 P 17/97 R - SozR
3-3300 § 14 Nr. 6). Dementsprechend wurde eine Beaufsichtigung und Kontrolle bei der Nahrungsaufnahme als berücksichtigungsfähige Hilfe eingestuft, wenn sie von einer solchen Intensität ist, dass die Pflegeperson - wie beim Füttern - praktisch an der Erledigung anderer Aufgaben gehindert ist bzw. diese, wenn auch möglicherweise nur kurzzeitig, unterbrechen muss, die Hilfe also über das - gewissermaßen "nebenbei" erfolgende - bloße "Im-Auge-Behalten" des Pflegebedürftigen und das nur vereinzelte, gelegentliche Auffordern bzw. Ermahnen hinausgeht (Urteil des 10. Senats vom 27. August 1998 - B 10 KR 4/97 R - SozR 3-3300 § 14 Nr. 7). Dies ist jedoch bei der Klägerin gerade nicht der Fall; die Mutter leistet vielmehr eine psychologische Betreuung und allgemeine Beaufsichtigung.

Darüber hinaus fällt unstreitig ein Hilfebedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung an, den der MDK auf 45 Minuten täglich einschätzt. Gemäß § 15 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB XI ist neben diesem Bedarf aber zusätzlich ein Grundpflegebedarf von mehr als 45 Minuten pro Tag und somit ein Gesamtpflegebedarf von mindestens 90 Minuten täglich erforderlich, der wie oben dargelegt nicht gegeben ist. Im Übrigen ergibt sich auch nach den Angaben der Mutter kein Gesamtpflegebedarf von mindestens 90 Minuten im Tagesdurchschnitt, wenn sie tatsächlich dreimal die Woche die Klägerin für drei Stunden in ihrer Wohnung in R. besuchte. Hätte sie in dieser Zeit die Klägerin nur gepflegt, fielen 540 Minuten in der Woche bzw. lediglich 77 Minuten im Tagesdurchschnitt an.

Durch die Einholung des nervenärztlichen Gutachtens des Dr. D. ist das Antragsrecht der Klägerin nach § 109 SGG auf diesem Fachgebiet verbraucht, so dass das weiter beantragte Gutachten des Dr. M., hilfsweise der Dr. B., nicht einzuholen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass auch die Berufung ohne Erfolg geblieben ist.

Das Gericht kann darüber hinaus gemäß § 192 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG einem Beteiligten ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass dieser den Rechtsstreit fortführt, obwohl ihm vom Vorsitzenden, wie geschehen, in einem Termin die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung oder -verteidigung dargelegt und er auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreits hingewiesen worden ist. Nach § 192 Abs. 1 Satz 2 SGG steht dem Beteiligten sein Bevollmächtigter gleich. Aufgrund der gutachterlichen Äußerungen des MDK im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren sowie dem Ergebnis des nach § 109 SGG beauftragten Dr. D. war die Aussichtslosigkeit der Fortführung des Berufungsverfahrens offensichtlich. Als verursachter Kostenbetrag gilt dabei nach § 192 Abs. 1 S. 3 SGG mindestens der Betrag nach § 184 Abs. 2 SGG für die jeweilige Instanz - für das Verfahren vor dem Landessozialgericht somit in Höhe von 225,00 EUR. Der Senat setzte diesen Mindestbetrag an.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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