L 2 U 400/10

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 U 262/09
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 400/10
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Zur Klage auf Feststellung eines Arbeitsunfalls.
2. Ein Tagebuch kann ein geeignetes Beweismittel darstellen; dabei sind die Persönlichkeitsrechte des Verfassers zu beachten.
I. Auf die Berufung wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 5. August 2010 aufgehoben und der Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 30. März 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. August 2009 verurteilt festzustellen, dass der Kläger am 1. Juni 1995 einen Arbeitsunfall erlitten hat.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Streitig ist die Feststellung eines Arbeitsunfalles vom 1. Juni 1995.

Der 1979 geborene Kläger beantragte am 10. Juni 2008 die Feststellung eines Arbeitsunfalles. Am 1. Juni 1995 habe er im Rahmen des Werkunterrichtes an der Städtischen Realschule A-Stadt beim Zerlegen eines Stuhles eine Verletzung am linken Auge erlitten.

Der Augenarzt Dr. L., der den Kläger seit dem 13. September 2004 behandelt, berichtete, der Kläger habe vor zehn Jahren eine Verletzung des linken Auges erlitten. Durch Entzündungen sei es zu einem grauen Star, der 2002 operiert worden sei, gekommen. Die AOK Bayern bestätigte im Zeitraum ab 1. Januar 1992 Arbeitsunfähigkeitszeiten erst ab Oktober 2001, unter anderem wegen Cataracta complicata, Aphakie und infantilem, juvenilem und präsenilem Katarakt. Dr. S., den der Kläger als behandelnden Arzt angegeben hatte, teilte mit, er könne sich nicht an eine unfallbedingte Behandlung des Klägers erinnern. Arbeits- bzw. Schulunfälle seien von seiner Praxis immer möglichst zeitnah dem Unfallversicherungsträger gemeldet worden. Die Augenärztin Dr. B. berichtete, sie habe den Kläger am 25. März 2000 behandelt, über einen Unfall sei ihr nichts bekannt. Im Bundeswehrkrankenhaus U. erfolgte eine Augenoperation am 28. März 2000. Im Operationsbericht ist erwähnt, es bestehe eine Erosio corneae, die nach den Angaben des Klägers durch eine Tropfflasche entstanden sei. Bereits 1996 sei eine Focussuche an der Augenklinik M. durchgeführt worden. Dort sei auch eine Cataracta complicata beschrieben. In der Augenklinik der Universität M. wurde der Kläger im April 2002 am linken Auge operiert. Er habe sich am 15. Oktober 1996 erstmals mit Uveitis vorgestellt, die nicht auf einen Unfall zurückzuführen sei. Im Bericht der Augenklinik über die Behandlung vom 15. März bis 24. September 2002 wird ausgeführt, anamnestisch habe ermittelt werden können, dass der Kläger seit 1995 auf dem linken Auge schlecht sehe. Ein Unfall habe im Gespräch mit dem Kläger nicht ermittelt werden können. Dr. P. vom Medizinischen Versorgungszentrum W. erklärte im Schreiben vom 24. Oktober 2008, er habe den Kläger am 5. Juni 2002 wegen eines traumatischen Kataraktes behandelt. Über den Unfall könne er keine näheren Angaben machen.

Auf Anfrage teilte die Städtische Realschule A-Stadt mit, Aufzeichnungen über einen Unfall vom 1. Juni 1995 existierten nicht. Aus dieser Zeit stünden keine Unterlagen mehr zur Verfügung.

Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 30. März 2009 die Feststellung eines Arbeitsunfalles ab. Den Widerspruch des Klägers wies er mit Widerspruchsbescheid vom 27. August 2009 zurück; nach Auswertung der von der Schule und den behandelnden Ärzten gemachten Angaben sei weder das angeschuldigte Schadensereignis vom 1. Juni 1995, noch eine versicherte Tätigkeit und auch kein Erstkörperschaden mit der erforderlichen, an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit belegt.

Zur Begründung der Klage erklärte der Kläger, seine ehemaligen Mitschüler könnten sich zwar an den Unfall nicht mehr erinnern, das "Verbandbuch" habe sein damaliger Lehrer weder am 30. April 2009 noch später auffinden können, es müsse aber vorliegen. Außerdem könne er das Tagebuch seiner Mutter als Beweis vorlegen.

Das Sozialgericht zog die Unterlagen des Kreiswehrersatzamtes von 1998 bei. Darin wird auf eine Sehschwäche durch grauen Star, die seit 1996 bekannt sei, hingewiesen. Auf Anfrage teilte der Betriebsarzt der Ausbildungsfirma des Klägers mit, Unterlagen über den Kläger hätten sich nicht finden lassen.

Das Sozialgericht wies die Klage mit Gerichtsbescheid vom 5. August 2010 ab. Es blieben Zweifel, dass der Kläger am 1. Juni 1995 einen Arbeitsunfall erlitten habe. Die Städtische Realschule A-Stadt habe keine Aufzeichnungen mehr über einen möglichen Unfall. Die Augenklinik M., in der der Kläger ab 15. Oktober 1996 in Behandlung gewesen sei, könne nicht bestätigen, dass von einem Unfallereignis berichtet worden sei. Gegenüber den Ärzten des Bundeswehrkrankenhauses U. habe der Kläger nur einen Unfall mit einer Tropfflasche angegeben. Auch aus den beigezogenen Unterlagen des Kreiswehrersatzamtes ergäben sich keine Hinweise auf ein traumatisches Geschehen als Ursache der Uveitis bzw. des Catarakts. Augenzeugen des Unfalles habe der Kläger nicht benennen können. Die bloße Möglichkeit, dass am 1. Juni 1995 ein Arbeitsunfall zu einer Verletzung geführt habe, genüge nicht zum Beweis.

Im Berufungsverfahren hat der Kläger auf seine Schilderung des Arbeitsunfalles hingewiesen, außerdem auf die Tagebuchaufzeichnungen seiner Mutter, das Verbandbuch der Städtischen Realschule und benannte seinen Vater als Zeugen. Er habe ihn bei zahlreichen Arzt- und Klinikbesuchen begleitet und könne bezeugen, dass einige Ärzte als Auslöser des Augenleidens einen Schlag vermutet hätten.

In der mündlichen Verhandlung vom 13. April 2010 hat der Vater des Klägers als Zeuge angegeben, er könne sich an den Unfalltag nicht mehr erinnern. Er könne aber bestätigen, dass bei den Untersuchungen der Augenerkrankung des Klägers die Ärzte stets von einer Stoßverletzung als Ursache gesprochen hätten. Zu dem im Bericht des Bundeswehrkrankenhauses U. angegebenen Ereignis mit einer Tropfflasche könne er nichts sagen. Zu der Erkenntnis, dass es sich um einen Unfall gehandelt haben müsse, sei seine Frau gekommen, als sie in einem alten Tagebuch nachgelesen habe. Auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung wird verwiesen.

Der Vorsitzende hat die Passage des vom Zeugen und Kläger vorgelegten Tagebuchs unter dem Datum vom 5. Juni 1995 vorgelesen, in dem die Mutter des Klägers schreibt, am Donnerstag habe sich der Kläger in der Schule beim Werkunterricht einen "ordentlichen Kratzer" zugezogen, unterhalb vom Auge bis zum Mund, auch das Auge sei rot gewesen.

Der Kläger stellt den Antrag,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 5. August 2010 sowie den Bescheid vom 30. März 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. August 2009 aufzuheben und festzustellen, dass er am 1. Juni 1995 einen Arbeitsunfall erlitten hat.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit zu vertagen und eine Frist zur Äußerung einzuräumen.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die beigezogene Akte des Beklagten sowie die Klage- und Berufungsakten Bezug genommen.



Entscheidungsgründe:


Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und sachlich begründet.

Der Senat hat nur darüber zu befinden, ob ein Arbeitsunfall vorgelegen hat; erst wenn dies zu bejahen ist, ist durch den Beklagten zu prüfen, ob daraus folgend auch ein Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung besteht. Die Klage ist deshalb als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage auf Vorliegen eines Arbeitsunfalls gemäß §§ 54 Abs. 1, 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG zulässig (vgl. BSG SozR 4-2700
§ 8 Nr. 12).

Der Kläger hat zur Überzeugung des Senats am 1. Juni 1995 einen Arbeitsunfall erlitten. Ein Arbeitsunfall setzt gemäß § 8 Abs. 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) einen Unfall voraus, den ein Versicherter bei einer den Versicherungsschutz gemäß §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleidet. Der Begriff des Unfalls erfordert ein zeitlich begrenztes, von Außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, das zu einem Gesundheitsschaden geführt hat (vgl. BSGE 23, 139). Das äußere Ereignis muss mit der die Versicherteneigenschaft begründenden Tätigkeit rechtlich wesentlich zusammenhängen. Dabei bedürfen alle rechtserheblichen Tatsachen des vollen Beweises, das heißt, sie müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorgelegen haben (vgl. BSGE 45, 285). Die Beweiserleichterung der hinreichenden Wahrscheinlichkeit gilt nur insoweit, als der ursächliche Zusammenhang im Sinn der wesentlichen Bedingung zwischen der der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden und zum Unfall führenden Verrichtung und dem Unfall selbst sowie der Zusammenhang betroffen ist, der im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität zwischen dem Arbeitsunfall und der maßgebenden Verletzung bestehen muss (vgl. Krasney, VSSR 1993, 81, 114).

Das Unfallereignis am 1. Juni 1995 ist zur Überzeugung des Senats nachgewiesen. Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 8 b SGB VII sind Schüler während des Besuchs von allgemeinbildenden Schulen kraft Gesetzes versichert. Der Kläger hat vorgetragen, dass er als Schüler der Städtischen Realschule A-Stadt während des Werkunterrichts beim Zerlegen eines Stuhles eine Verletzung am linken Auge erlitten hat. Dieser Vortrag wurde in der mündlichen Verhandlung vom 13. April 2011 durch die Vorlage des Tagebuches der Mutter des Klägers bewiesen. Der Eintrag der Mutter unter dem Datum vom 5. Juni 1995 (Pfingstmontag), der Kläger habe am Donnerstag zuvor (1. Juni 1995) in der Schule beim Zerlegen eines Stuhles eine Verletzung im Gesicht und am Auge erlitten, bestätigt überzeugend das Vorbringen des Klägers. Damit ist auch ein Primärschaden belegt.

Das handschriftlich geschriebene Tagebuch der Mutter des Klägers stellt eine Urkunde und somit ein geeignetes Beweismittel im Sinne des § 118 SGG dar. Die Tagebuchaufzeichnung ist aufgrund des versicherten Einverständnisses der Mutter auch verwertbar, so dass deren Persönlichkeitsrechte nach Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 des Grundgesetzes nicht entgegenstehen.

Der Vollbeweis wird nicht dadurch erschüttert, dass Aufzeichnungen der Schule über einen Unfall im Werkunterricht nicht existieren, da keinerlei Unterlagen mehr aus dieser Zeit zur Verfügung stehen. Aus der Aussage des Vaters als Zeugen vermag der Senat ebenfalls keine Erkenntnisse über das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Arbeitsunfalls abzuleiten. Dieser bestätigte lediglich den bereits bekannten Vortrag, dass bei den Untersuchungen der Augenerkrankung die Ärzte stets von einer Stoßverletzung als Ursache gesprochen hätten. Dabei bleibt jedoch unklar, um welche Stoßverletzung es sich gehandelt hat. An den Unfalltag selbst konnte sich der Zeuge nicht erinnern.

Schließlich ist die Anamnese der behandelnden Ärzte zum Vorliegen eines Unfallereignisses unterschiedlich und vor allem in Hinblick auf die in diesem Verfahren nicht maßgebliche Frage der Kausalität zwischen dem Unfallereignis und den später aufgetretenen Augenschäden von Bedeutung. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass eine innere Ursache maßgeblich ist oder ein weiteres Stoßereignis vorliegt.

Dem hilfsweise vom Beklagten gestellten Antrag auf Vertagung und Einräumung einer Äußerungsfrist war nicht zu entsprechen. Zum einen war die Zeugenaussage des Vaters für die Urteilsfindung nicht von Bedeutung, zum anderen war dem Beklagtenvertreter aufgrund des bereits im sozialgerichtlichen Verfahren geäußerten Klägervortrages bekannt, dass das Tagebuch der Mutter einen entsprechenden Hinweis auf ein Unfallereignis am
1. Juni 1995 im Werkunterricht enthält. Dies wurde lediglich durch die Vorlage des Tagebuchs in der Sitzung belegt. Der Rechtsstreit hat somit keine unerwartete Wendung genommen mit der Folge, dass eine Vertagung zur Wahrung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) gewährt werden musste.

Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved