L 6 R 348/10

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 14 R 218/09 A
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 6 R 348/10
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Arbeitsunfähigkeit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne ist nur ein Indiz zur retrospektiven Feststellung des Leistungsfalles und der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung. Entscheidungserheblich sind im Rahmen einer Gesamtschau daneben die durch medizinische Unterlagen dokumentierte weitere Krankheitsgeschichte, Zeitpunkt und Begründung des Rentenantrages sowie ggf. auch der Beweiswert einer tatsächlichen Arbeitsleistung.
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 12.04.2010 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Streitig ist der Rentenanspruch des Klägers wegen Erwerbsminderung, insbesondere, ob die hierfür erforderlichen beitragsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind.

Der 1949 in P., Bosnien/Herzegowina geborene Kläger war nach den vorliegenden Versicherungsunterlagen vom 09.05.1970 bis 15.09.1970 in Slowenien vom 22.09.1970 bis 11.08.1972 in Kroatien und vom 29.08.1972 bis 30.11.1994 sowie vom 10.12.2003 bis 10.01.2004 jeweils in Bosnien-Herzegowina sozialversicherungspflichtig beschäftigt. In der Zeit vom 28.11.1994 bis 29.10.1997 entrichtete er in Deutschland Pflichtbeiträge zur Beklagten. Nach eigenen Angaben war er seinerzeit als Zimmerer beschäftigt. Insgesamt sind bisher 328 auf die Wartezeit anrechenbare Monate von der Beklagten anerkannt.

Auf Antrag des Klägers vom 05.07.2004 hat ihm der Rentenversicherungsträger in Bosnien/Herzegowina eine Invalidenpension zuerkannt. Hierbei wurde ab dem Tag der Untersuchung am 21.10.2004 eine dauernde Leistungseinschränkung im bisherigen Beruf und am allgemeinen Arbeitsmarkt anerkannt. Maßgebend hierfür waren insbesondere die Folgen eines Gehirnschlages, den der Kläger nach seinen Schilderungen Anfang 2004 erlitten hatte. Der bosnische Gutachter hat als Folge des Schlaganfalles ein "organisches Psychosyndrom" und eine "sensomotorische Dysphasie" diagnostiziert; ferner ist als Diagnose "eine chronische Bronchitis" aufgeführt.

Erst am 09.09.2005 leitete der bosnische Versicherungsträger diesen Rentenantrag vom 05.07.2004- entsprechend dem Sozialversicherungsabkommen - der Beklagten zur weiteren Entscheidung zu. Mit Bescheid vom 30.09.2005 lehnte die Beklagte die Rentengewährung wegen Erwerbsminderung im Wesentlichen mit der Begründung ab, vor Antragstellung seien im Fünfjahreszeitraum vom 05.07.1999 bis 04.07.2004 nur zwei (nach dem deutsch-jugoslawischen Sozialversicherungsabkommen anrechenbare) anstatt der erforderlichen 36 Pflichtbeitragsmonate zurückgelegt worden. Außerdem bestehe weder volle noch teilweise Erwerbsminderung. Dieser Bescheid sowie ein Vormerkungsbescheid über die anerkannten Zeiten - ebenfalls vom 30.09.2005 - ist vom Kläger offenbar nicht angefochten worden.

Am 11.02.2008 stellte der Kläger - vertreten durch seinen (ursprünglichen) Prozessbevollmächtigten - erneut Rentenantrag wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte zog vom bosnischen Versicherungsträger Versicherungsnachweise bei.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 18.06.2008 lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit der Begründung ab, im maßgeblichen Zeitraum vom 11.02.2003 bis 10.02.2008 seien nur zwei Kalendermonate (vom 10.12.2003 bis 10.01.2004) mit anrechnungsfähigen Beiträgen belegt. Bei diesem Sachverhalt sei das Vorliegen von Erwerbsminderung nicht geprüft worden.

Den hiergegen erhobenen Widerspruch begründete der Kläger im Wesentlichen damit, dass er nach einem Autounfall im Jahr 1998 bereits invalide sei und mittlerweile die Schwerbehinderung 100 % betrage. Mit Schreiben vom 10.07.2008 kündigte die Beklagte hierauf an, weitere medizinische Unterlagen vom bosnischen Versicherungsträger beizuziehen.

Nach Auswertung dieser Arztberichte stellte der Sozialmedizinische Dienst der Beklagten am 11.09.2008 für die Zeit ab 10.01.2004 ein "unter dreistündiges Leistungsvermögen" des Klägers fest.

Mit weiterem Bescheid vom 16.09.2008 änderte die Beklagte den Bescheid vom 18.06.2008 insoweit ab, dass der Kläger zwar ab 12.01.2004 bereits voll erwerbsgemindert sei, jedoch im Anrechnungszeitraum vom 12.01.1999 bis 11.01.2004 anstatt der erforderlichen 36 ebenfalls nur 2 Kalendermonate Pflichtbeiträge vorweisen könne.

Der hierauf mit der Begründung aufrecht erhaltene Widerspruch, die volle Erwerbsminderung sei seit 1998 bzw. 1999 nachgewiesen, ist nach Auswertung weiterer Arztberichte mit Widerspruchsbescheid vom 10.02.2009 im Wesentlichen mit der Begründung zurückgewiesen worden, es seien keinerlei ärztliche Unterlagen vorgelegt worden, die eine Erwerbsminderung bereits im Jahr 1998 belegen könnten.

Die hiergegen am 04.03.2009 zum Sozialgericht Landshut erhobene Klage wurde unter Vorlage eines allgemeinärztlichen Attestes über eine Behandlung des Klägers am 30.11.1998 wegen "Kopfschmerzen, Niedergeschlagenheit, Schweigsamkeit und schwarzen Gedanken" sowie einem Bluthochdruck (RR 190/110) begründet.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht die Klage mit dem angefochtenen Gerichtsbescheid vom 12.04.2010 im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien nicht nachweislich erfüllt. Denn im November 1999, als die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen letztmalig erfüllt gewesen seien, sei der Kläger noch nicht erwerbsgemindert gewesen. Die bescheinigte ärztliche Behandlung ab 30.11.1998 belege allenfalls vorübergehende Arbeitsunfähigkeit, nicht aber Erwerbsminderung. Auch der Zeitpunkt der erstmaligen Antragstellung erst im Jahr 2004 sei Indiz dafür, dass der Leistungsfall nicht bereits 1998 eingetreten sei. Zudem sei der Kläger nach seinem beruflichen Werdegang uneingeschränkt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar. Dieser Gerichtsbescheid ist dem Klägerbevollmächtigten am 06.05.2010 zugestellt worden.

Die hiergegen am 11.05.2010 beim Bayer. Landessozialgericht eingelegte Berufung ist im Wesentlichen damit begründet worden, dass der Kläger 100 % schwerbehindert und in Pflegestufe II eingestuft sei. Mit weiterem Schreiben vom 25.05.2010 ist ferner die Vollendung des 60.Lebensjahres geltend gemacht worden. Hierzu hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 29.06.2010 ausgeführt, der Kläger habe die für eine "Altersrente für schwerbehinderte Menschen" erforderliche Wartezeit von 420 Monaten nicht erfüllt. Denn bisher seien nur 328 nach dem Sozialversicherungsabkommen anrechenbare Monate belegt; hinzu könnten allenfalls noch fünf weitere - in Slowenien zurückgelegte Monte - Berücksichtigung finden.

Der Senat hat den Prozessbevollmächtigten des Klägers um Nachweis gebeten, dass er über die Voraussetzungen für eine Prozessvertretung verfüge (Schr. vom 11.11.2010).Hierzu hat der Prozessbevollmächtigte mitgeteilt, dass dies nicht der Fall sei, er aber um Übersendung des Urteils an seine Adresse bitte.
Mit Beschluss vom 20.05.2011 ist die Berufung dem Berichterstatter übertragen worden.

Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Beklagte, unter Aufhebung des Gerichtsbescheides vom 12.04.2010 und der Bescheide der Beklagten vom 18.06.2008 und 16.09.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.02.2009, zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsminderung ab Beginn des Antragsmonats zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie macht geltend, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

Im Übrigen wird auf den Inhalt der Akte der Beklagten, der Akte des Sozialgerichts sowie der Akte des Landessozialgerichts Bezug genommen.



Entscheidungsgründe:


Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz
- SGG -) ist auch im Übrigen zulässig, sachlich aber nicht begründet. Das Sozialgericht und die Beklagte haben zu Recht entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung habe, da die hierfür erforderlichen beitragsrechtlichen Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 Nr. 2 sowie des § 241 Abs. 2 Sozialgesetzbuch, 6. Buch - SGB VI - nicht erfüllt sind.

Der Nachweis, dass Erwerbsminderung spätestens bis zum 30.11.1999 eingetreten sei und daher die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Ziffer 2 des § 43 Abs. 1 SGB VI noch erfüllt seien, ist nicht erbracht.

Versicherte haben gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 bzw. Abs. 1 Satz 1 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
1. voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben - bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen - bis zum Erreichen der Regelaltersrente auch Versicherte die,
1. vor dem 01.01.1961 geboren und
2. berufsunfähig sind.
Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 240 Abs. 1 und 2 SGB VI).

Nach § 241 SGB VI verlängert sich der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung bzw. der Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI), in dem Versicherte für einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben müssen, u.a. um Ersatzzeiten. Nach Abs. 2 des § 241 SGB VI sind Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit vor Eintritt der Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit für Versicherte nicht erforderlich, die vor dem 01.01.1984 die allgemeine Wartezeit erfüllt haben, wenn jeder Kalendermonat vom 01.01.1984 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit mit Anwartschaftserhaltungszeiten belegt ist. Nach dem zwischenstaatlichen Abkommen zwischen Deutschland und Bosnien/Herzegowina steht eine Pflichtbeitragsleistung im Herkunftsland einer entsprechenden Beitragsleistung in Deutschland gleich. Im Übrigen ist eine Gleichstellung von Zeiten (z. B. Anrechnungs- bzw. Ersatzzeiten) durch das Sozialversicherungsabkommen nicht erfolgt.

Der Kläger erfüllt diese versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht. Denn eine ununterbrochene Belegung der Zeit ab 01.01.1984 liegt nicht vor und zur Überzeugung des Senats steht fest, dass er erst nach seinem Schlaganfall im Januar 2004 maßgebend in seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigt war. Dies gilt sowohl für seinen zuletzt in Deutschland ausgeübten Beruf als auch für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Neben den vorliegenden medizinischen Unterlagen sprechen auch der Beweiswert der tatsächlichen Arbeitsleistung vom 10.12.2003 bis 10.01.2004 sowie der Zeitpunkt der erstmaligen Rentenantragstellung gegen den Eintritt eines früheren Leistungsfalles.

Bereits mit Bescheid vom 30.09.2005 hatte die Beklagte den erstmaligen Rentenantrag vom 05.07.2004 u.a. mit der Begründung abgelehnt, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung seien nicht erfüllt. Gegen diesen Bescheid hatte der Kläger seinerzeit nicht Widerspruch und Klage erhoben, so dass dieser Bescheid nach § 77 SGG bindend geworden ist. Eine ausdrückliche Neufeststellung nach § 44 Sozialgesetzbuch, 10. Buch (SGB X) ist nicht erfolgt; vielmehr hat die Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden vom 18.06.2008 sowie 16.09.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.02.2009 nur über den neuen Antrag vom 11.02.2008 entschieden. Nur dieser Antrag ist für den Beginn des erhobenen Anspruches (§§ 99 SGB VI,123 SGG) daher maßgebend.

In diesem neuen Verfahren, das den streitgegenständlichen Verwaltungsakten zugrunde liegt, sind von der Beklagten weitere Befundberichte über die ärztlichen Behandlungen des Klägers ab November 1998 ausgewertet worden. Zu Recht ist aufgrund dieser Befundberichte seitens der Beklagten und vom Sozialgericht festgestellt worden, dass die erstmals für 30.11.1998 bescheinigte ärztliche Behandlung allenfalls vorübergehende Arbeitsunfähigkeit, nicht jedoch Erwerbsminderung zu belegen vermag. Auf die zutreffenden Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils wird insoweit Bezug genommen und von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe nach § 153 Abs. 2 SGG abgesehen.

Nicht entscheidend ist dagegen, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers seit Januar 2004 weiter verschlechtert hat. Denn es ist nicht der Grad der Leistungseinschränkung maßgebend, sondern der Zeitpunkt, zu dem die maßgebliche Leistungseinschränkung eingetreten ist. Für eine Altersrentengewährung wegen Schwerbehinderung -die im übrigen nicht streitgegenständlich ist - ist zudem die erforderliche Wartezeit von 35 Jahren nicht erfüllt (§ 236 a Abs.1 Nr. 3 SGB VI). Dem Kläger kann somit nur dringend anheimgestellt werden, rechtzeitig bei Vollendung des 65 Lebensjahres Regelaltersrente (§ 235 SGB VI) zu beantragen.

Der Berufung war nach alldem der Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG sind nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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