L 20 R 279/07

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 7 R 47/04
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 20 R 279/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Eine Lösung von dem früheren Beruf liegt vor, wenn die Aufgabe der höherwertigen Tätigkeit vom Willen des Versicherten getragen wird, d. h. wenn der Versicherte seiner bisherigen Berufstätigkeit nicht mehr nachgehen will und sich endgültig einer anderen Berufstätigkeit zuwendet. 2. Zu den qualitativen Leistungseinschränkungen bei Ertaubung des Versicherten.
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 30.11.2006 wird zurückgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Kläger einen Anspruch auf Gewährung von Erwerbsminderungsrente aufgrund seines Antrags vom 30.12.2002 hat.

Der 1955 geborene Kläger siedelte am 02.11.1995 von Kasachstan in die Bundesrepublik Deutschland über. Vom 03.11.1995 bis 02.05.1996 war der Kläger arbeitslos, ab Februar 1996 absolvierte er einen Deutschlehrgang, den er am 31.07.1996 mit der Note 2 beendete. Ab dem 01.05.1996 bezog der Kläger Sozialhilfe vom örtlichen Träger Landratsamt Bayreuth. Am 15.05.1997 nahm er eine Tätigkeit als Sägewerksarbeiter auf, die am 17.12.1997 durch arbeitgeberseitige Kündigung wegen Arbeitsmangels beendet wurde. Ab dem 18.12.1997 war der Kläger durchgehend arbeitslos bzw. arbeitsunfähig.

Am 16.11.2001 beantragte der Kläger erstmals die Gewährung von Erwerbsminderungsrente, die nach Einholung eines Gutachtens von Dr.K. vom 11.02.2002 mit Bescheid vom 27.02.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.04.2002 bestandskräftig abgelehnt wurde.

Am 30.12.2002 stellte der Kläger erneut einen Antrag auf Gewährung von Erwerbsminderungsrente und legte hierzu ein ärztliches Attest seines behandelnden Hausarztes Dr.H. vom 24.02.2002 vor. Aus diesem Attest ergaben sich an Erkrankungen ein Zustand nach Nierenzellkarzinom mit Nephrektomie Juli 1998, rezidivierende Lumboischialgien, Schwerhörigkeit bds., Schulter-Arm-Syndrom, chronische Eisenmangelanämie, HWS-Syndrom. Der Kläger klage über rezidivierende Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule. Diese hätten sich im Laufe der Zeit deutlich verstärkt, so dass ihm das Heben und Tragen schwerer Lasten zeitweise nicht möglich sei. Auch sei seit seiner Nierenoperation seine allgemeine Leistungsfähigkeit deutlich gemindert. Die Schwerhörigkeit mache ihm im Alltagsleben ebenfalls Probleme. Es bestehe eine deutliche Schwerhörigkeit, die sich im Vergleich zur letzten Untersuchung im vergangenen Jahr massiv verschlechtert habe. Eine verbale Kommunikation sei nahezu nicht möglich.

Die Beklagte holte daraufhin ein sozialmedizinisches Gutachten von Dr.H. vom 04.04.2003 ein, der folgende Diagnosen stellte: - hochgradige Schwerhörigkeit bds., - Narbenbeschwerden bei Entfernung der linken Niere bei bösartiger Neubildung, ausreichende Funktion der Restniere, - Fehlstellung und Funktionsbehinderung der Brust- und Lendenwirbelsäule mit Neigung zu muskulärer Verspannung, - Körperübergewicht mit ernährungsbedingten Stoffwechselstörungen, - Anpassungsstörung bei sozialer Konfliktsituation.

Gleichwohl sei der Kläger noch in der Lage, seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Helfer in der Industrie mehr als 6 Stunden täglich zu verrichten sowie mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen ebenfalls noch 6 Stunden und mehr. Die Beklagte lehnte daraufhin mit streitgegenständlichem Bescheid vom 11.04.2003 die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente ab.

Hiergegen legte der Kläger am 22.04.2003 Widerspruch ein, den er mit Schreiben vom 07.07.2003 dahingehend begründete, dass er unter massiven Schmerzen an der Wirbelsäule und nach seiner Nieren-OP leide. Die massive Schwerhörigkeit könne durch eine Hörgeräteversorgung nicht ausgeglichen werden. Ferner leide er unter Depressionen. Des Weiteren wurde ein Abhilfebescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung Bayreuth - Versorgungsamt - vom 06.08.2003 übersandt, aus dem sich ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Zuerkennung der Merkzeichen RF und Gl ergab. Er könne keine Sprache mehr verstehen.

Die Beklagte holte daraufhin ein Gutachten von Dr.H. ein, der am 19.08.2003 zu dem Ergebnis kam, dass eine Ertaubung bds. vorliege. Die Ergebnisse der Untersuchung seien in sich allerdings nicht frei von Widersprüchen. Gleichwohl sei der Kläger in der Lage, mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Umfang von mehr als 6 Stunden täglich unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen zu verrichten. Auch seine letzte Tätigkeit könne er noch mehr als 6 Stunden verrichten. Die Beklagte wies daraufhin den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19.12.2003 als unbegründet zurück.

Zur Begründung der hiergegen am 19.01.2004 zum Sozialgericht (SG) Bayreuth erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen, dass seine gesundheitlichen Leiden zu einer schweren Leistungseinschränkung führten. Ferner habe er Berufsschutz als Berufskraftfahrer. Er habe diesen Beruf vom 04.08.1976 bis 24.10.1995 in der Sowjetunion ausgeübt. Hierzu würden Kopien aus seinem Arbeitsbuch vorgelegt. Mit Schreiben vom 30.03.2004 erwiderte die Beklagte, dass beim Kläger unstrittig eine beidseitige Taubheit vorliege. Es könne dahingestellt bleiben, ob es sich hier um eine schwere spezifische Leistungsbehinderung handle, da sich der Kläger selbst dann auf folgende Verweisungsberufe verweisen lassen müsse: Packarbeiter, Montierer, einfacher Kontrolleur/Prüfer, Musterzusammensteller. Es handle sich hierbei durchwegs um leichte Tätigkeiten, die auch mit einem eingeschränkten Hörvermögen ausgeübt werden könnten. Akustische Signale müssten hierbei nicht registriert werden. Es handle sich auch nicht um unfallgefährdete Arbeitsplätze. Auch eine verbale oder akustische Kommunikation werde nicht gefordert. Eine Erwerbsminderung liege daher nicht vor.

In der Zeit vom 04.05.2005 bis 25.05.2005 absolvierte der Kläger eine stationäre medizinische Rehabilitation in der Klinik am S., Bad G., aus der der Kläger als arbeitsunfähig entlassen wurde. Für die letzte berufliche Tätigkeit wurde ihm ein Leistungsvermögen von unter 3 Stunden konstatiert, ebenso für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Es bestünden erhebliche Kommunikationseinschränkungen bei Ertaubung bds. ohne Gebärdensprachkompetenz; Zwangshaltungen, Heben und Tragen schwerer Lasten ohne Hilfsmittel seien bei ausgeprägtem Wirbelsäulensyndrom nicht zumutbar; ebenso wenig Tätigkeiten mit erhöhter Unfall- oder Absturzgefahr bei rezidivierender Schwindelsymptomatik. Die Beklagte wies aufgrund der ärztlichen Stellungnahme von Frau Dr.M. vom 01.07.2005 darauf hin, dass sie der Einschätzung des Leistungsvermögens der Reha-Klinik nicht folge. Aus dem Reha-Bericht ergebe sich, dass der Kläger nicht über die Möglichkeit verfüge, per Gebärdensprache oder per Lippenablesen zu kommunizieren. Er könne sich zwar die Implantation eines Cochlear-Implantates vorstellen, dies gehe aber erst dann, wenn sich seine Gesamtsituation gebessert habe. Dazu wäre eine wichtige Voraussetzung die Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente.

Das SG hat nach Beiziehung ärztlicher Befundberichte ein HNO-ärztliches Gutachten von Dr.D. eingeholt, der am 05.01.2006 zu dem Ergebnis kam, dass beim Kläger eine Taubheit bds., ein Wirbelsäulensyndrom, ein Schultersyndrom rechts sowie ein Z.n. Nephrektomie 1998 bei bösartigem Nierentumor ohne Anhalt für Rezidiv oder Metastasierung vorliege. Während kurz nach der Übersiedlung im Dezember 1995 ein Audiogramm erstellt worden sei, das links nur eine geringfügige pancochleäre Innenohrschwerhörigkeit nachgewiesen habe, habe auf der rechten Seite bereits eine hochgradige kombinierte Schwerhörigkeit bestanden. Es sei dann zu einer progredienten Hörverschlechterung bds. gekommen. Im Jahr 2000 seien Hörgeräte angepasst worden, die jedoch kaum benutzt worden seien. Es sei nicht festzustellen, ob jetzt noch geringfügige Hörreste vorhanden seien oder nicht. Der Kläger habe kein verwertbares Hörvermögen mehr, auch nicht mit der besten Hörgeräteversorgung. Die einzig sinnvolle Lösung sei eine CI-Implantation. Dabei handle es sich bei dem Cochlear-Implantat um eine Elektrode, die in die Hörschnecke eingeführt werde und mit der modernen Technik bei fast allen Patienten wieder zu einem Sprachverstehen führe, was teilweise ausreiche, wieder einen Beruf mit geringen Ansprüchen an die Kommunikationsfähigkeit auszuüben. Der Kläger stehe dieser Operation jedoch nach wie vor negativ gegenüber. Begründet werde dies mit einer gewissen Angst vor der Operation. Im Kurentlassungsbericht sei erwähnt worden, dass eine CI-Implantation erst nach Abschluss dieses Rentenverfahrens infrage käme. Die Gutachter der Beklagten hätten Recht damit, dass es tatsächlich ungewöhnlich sei, wenn ein innerhalb weniger Jahre ertaubender Patient das Lippenlesen nicht lerne. Außerdem sei es auch erstaunlich, dass der Patient relativ leise rede, was bei Personen ohne akustische Kopplung eher selten der Fall sei. Trotzdem gebe es keine Zweifel darüber, dass der Patient unter einer Schwerhörigkeit leide, die auch mit den besten Hörgeräten nicht für eine soziale Kommunikation kompensierbar sei. Die nicht teilkompensierte Taubheit verhindere sämtliche Berufe mit auch nur geringfügigen Anforderungen an die Kommunikationsfähigkeit. Dies seien nicht nur Berufe mit notwendiger ständiger Kommunikation mit Mitarbeitern, Vorgesetzten oder Kunden, sondern auch Tätigkeiten, die das Wahrnehmen von akustischen Signalen innerhalb von kürzester Zeit erforderten. Es bestünden grundsätzlich keine Bedenken, dass ein völlig ertaubter Patient privat einen Pkw führe, da die fehlende akustische Rückkopplung kompensierbar sei durch eine visuelle Aufmerksamkeit, die manchmal besser sei als bei normal hörenden Personen, die weniger aufpassen würden und akustisch durch laute Musik oder ähnliches abgelenkt sein könnten. Dagegen sei das berufsmäßige Fahren von LKW höchst bedenklich. Die Tätigkeit mit Gefahrguttransporten und bei der Personenbeförderung sei absolut verboten. Theoretisch seien teilweise Ausliefertätigkeiten möglich, vor allem dort, wo keine ergänzende Kommunikation mit Kundschaft notwendig sei, z.B. bei regelmäßigen Lieferungen in Betriebe etc. Neben der HNO-ärztlichen Problematik lägen nur Verschleißerscheinungen im Bereich der Wirbelsäule und der rechten Schulter vor. Sofern es gelinge, dem Kläger unter Beachtung der qualitativen Leistungseinschränkungen geeignete Arbeitsplätze anzubieten, sei er noch mindestens 6 Stunden täglich einsetzbar. Die letzte Tätigkeit im Sägewerk sei jedoch nicht mehr möglich, da es sich bei diesen Tätigkeiten häufig um schwere Tätigkeiten handle und auch teilweise um Tätigkeiten im Umgang mit Gefahrensituationen.

Das SG holte des Weiteren ein orthopädisches Gutachten von Amts wegen von Dr.R. ein, der am 16.10.2006 folgende Gesundheitsstörungen des Klägers auf orthopädischem Fachgebiet feststellte: - Funktionseinschränkung der Wirbelsäule bei Verschleißerscheinungen ohne akute cervikale oder lumbale Wurzelreizsymptomatik, - Funktionseinschränkung der rechten Schulter bei Sehnenreizerscheinungen, anamnestisch Z.n. Schulterluxation, - geringe Funktionseinschränkung der beiden Kniegelenke bei Verschleißerscheinungen, - geringe Funktionseinbuße des rechten Ellbogengelenkes bei Sehnenreizerscheinungen.

Im Vergleich zu dem zuletzt von der Beklagten eingeholten Gutachten von Dr.H. vom 04.04.2003 habe sich keine wesentliche Änderung ergeben. Die zusätzlich aufgenommenen beidseitige Kniegelenks- und rechtsseitige Ellbogengelenksproblematik führe lediglich zu qualitativen Leistungseinschränkungen, jedoch nicht zu einer untervollschichtigen Erwerbsfähigkeit. Der Kläger könne unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes leichte Tätigkeiten im Wechselrhythmus in geschlossenen Räumen vollschichtig verrichten. Nicht zugemutet werden sollten Arbeiten mit Heben, Tragen und Bewegung von Lasten ohne Hilfsmittel, mit Bücken, mit Zwangshaltungen, mit Überkopf- und Überschulterarbeiten, an unfallgefährdeten Arbeitsplätzen sowie mit häufigem Hocken und Knien. Auszuschließen seien auch Arbeiten unter ungünstigen äußeren Einflüssen wie Nässe, Kälte und Zugluft. Einschränkungen hinsichtlich des zeitlichen Umfangs der Arbeitstätigkeit bestünden nicht. Die beidseitige Taubheit sei bereits im HNO-ärztlichen Gutachten von Dr.D. vom 05.01.2006 gewürdigt worden. Das Einholen weiterer Gutachten sei nicht erforderlich.

Das SG hat sodann mit Urteil vom 30.11.2006 die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 11.04.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.12.2003 abgewiesen. Der Kläger sei noch in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Umfang von mindestens 6 Stunden unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen zu verrichten, so dass ihm eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) nicht zustehe. Das Gericht stütze sich bei seiner Entscheidung insbesondere auf die gutachterlichen Äußerungen von Dr.D. und Dr.R ... Ein Berufsschutz im Sinne des § 240 SGB VI stehe dem Kläger nicht zu, da er nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland als Sägewerksarbeiter und somit als ungelernter Arbeiter tätig gewesen sei. Er sei deshalb auf die Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Der Kläger habe seinen früher ausgeübten Beruf als Kraftfahrer nicht aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben, sondern wegen der Umsiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. Nachdem er offensichtlich in Deutschland keine geltende Fahrerlaubnis für die Führerscheinklasse 2 gehabt habe, habe er aus diesem Grund nicht als Kraftfahrer tätig sein können. Der Kläger habe nach seinen Angaben erst ab Januar 1997 eine Fahrschule in Bayreuth besucht, vermutlich um einen Führerschein der Klasse 3 oder 2 zu erwerben.

Zur Begründung der hiergegen am 27.03.2007 beim SG Bayreuth eingelegten Berufung hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 15.12.2007 vorgetragen, dass die gesundheitlichen Leistungseinschränkungen des Klägers unzureichend berücksichtigt würden. Der Kläger leide unter einer schweren spezifischen Leistungseinschränkung, so dass eine konkrete Betrachtungsweise angezeigt sei. Der Kläger könne keinen Beruf mehr ausüben. Ferner sei zu berücksichtigen, dass dem Kläger Berufsschutz als Berufskraftfahrer zustehe. Diesen Beruf habe er vom 04.08.1976 bis 24.10.1995 ausgeübt, zunächst als LKW-Fahrer, ab dem 10.09.1983 auch als Busfahrer, voll wettbewerbsfähig. Er habe in seiner Heimat eine Ausbildung zum "Kraftfahrer der 3.Klasse", "Kraftfahrer der 2.Klasse" und "Kraftfahrer der 1.Klasse" bis hin zum "Kraftfahrer der Kategorie D" zurückgelegt und habe als Busfahrer ab dem 10.09.1983 insgesamt mehr als 12 Jahre Versicherungszeiten zurückgelegt. Hierfür werde auf das Arbeitsbuch des Klägers verwiesen. Aufgrund der Dauer und des Umfangs seiner absolvierten Ausbildung sowie seines bisher ausgeübten Berufes habe der Kläger daher auch am 25.02.1997 ohne Weiteres die deutsche Fahrerlaubnis der Klasse 2 erhalten. Es handle sich deshalb um eine Qualifikation, die nach dem Mehrstufenschema mindestens dem Leitberuf des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf) mit einer Regelausbildungs- oder Anlernzeit von über 12 bis zu 24 Monaten im oberen Bereich zuzuordnen sein dürfte, wenn nicht sogar dem eines voll ausgebildeten Facharbeiters. Von diesem Beruf habe sich der Kläger auch nicht im rentenrechtlichen Sinne gelöst. Eine berufliche Lösung sei immer dann zu bejahen, wenn der rentenrechtlich relevante Berufswechsel freiwillig erfolge. Der Kläger habe aber den Beruf des Sägewerksarbeiters nicht freiwillig ergriffen, sondern er sei nach §§ 2, 18 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) dazu verpflichtet gewesen, seine Arbeitskraft zur Beschaffung des notwendigen Unterhalts für sich und seine Familie einzusetzen. Bei einer Weigerung, diese Arbeit anzunehmen, hätte der Kläger seinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt verloren und keine Hilfe mehr erhalten können. Aus diesem sozial adäquaten Verhalten des Klägers, seinen Lebensunterhalt nach Kräften zu verdienen und so der Arbeitslosigkeit oder der Sozialhilfebedürftigkeit zu entgehen, dürfe ihm kein Nachteil erwachsen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 30.11.2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11.04.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.12.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit aufgrund seines Antrags vom 30.12.2002 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 30.11.2006 zurückzuweisen.

Bezüglich der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Rentenakten der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Sie ist jedoch unbegründet, da das SG Bayreuth zu Recht mit dem Urteil vom 30.11.2006 einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsminderung abgelehnt hat. Auch ein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI steht dem Kläger nicht zu.

Gemäß § 43 Abs 1 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersrente Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie 1. teilweise erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbei- träge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben nach § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Der Senat ist zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger trotz der bei ihm bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen noch in der Lage ist, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung weiterer qualitativer Leistungseinschränkungen mindestens 6 Stunden täglich zu verrichten. Der Senat stützt dabei seine Überzeugung auf die im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholten Gutachten von Dr. D. auf HNO-ärztlichem Fachgebiet und von Dr. R. auf orthopädischem Fachgebiet. Die Einholung weiterer Gutachten von Amts wegen hält der Senat aufgrund der beigezogenen ärztlichen Befundberichte und des Umstandes, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente längstens bis 30.04.2008 vorliegen, nicht für erforderlich.

Im Mittelpunkt der gesundheitlichen Einschränkungen stehen die beiderseitige Ertaubung des Klägers und seine fehlenden kommunikativen Fähigkeiten, da er diese Ertaubung weder durch Gebärdensprache noch durch Lippenablesen kompensieren kann. Ein Ausgleich der Hörbeeinträchtigung durch eine Hörgeräteversorgung ist nach den vorliegenden HNO-ärztlichen Stellungnahmen und Gutachten nicht möglich. Die einzige mögliche und wohl auch grundsätzlich erfolgversprechende Behandlung in Form der Implantation eines Cochlearimplantates hat der Kläger bislang abgelehnt, er sah sich hierzu allenfalls im Falle der Gewährung einer Erwerbsminderungsrente in der Lage. Trotz der bestehenden Ertaubung - wobei durchaus Anhaltspunkte für ein zumindest minimales Resthörvermögen des Klägers bestehen - ist der Kläger noch in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Umfang von mindestens 6 Stunden zu verrichten, sofern keine besonderen Anforderungen an sein Hörvermögen und seine Kommunikationsfähigkeit gestellt werden und sofern keine Tätigkeiten verrichtet werden müssen, die gefahrbelastet sind und bei denen deshalb die Wahrnehmung von Warnsignalen oder Geräuschen möglich sein muss. Der HNO-ärztliche Gutachter Dr. D. kam sogar zu der Überzeugung, dass der Kläger noch als Lieferfahrer eingesetzt werden könne, z. B. bei einem festen Kundenstamm. Anhaltspunkte, dass Arbeitsplätze, die dem Kläger trotz seiner Behinderung zugewiesen werden können, nur vereinzelt vorkommen könnten, bestehen nicht. Der Kläger kann in einem weiten Feld der industriellen Fertigung tätig werden, einschließlich Prüf- und Kontrolltätigkeiten.

Sofern die Ertaubung des Klägers als schwere spezifische Leistungseinschränkung einzustufen wäre, was nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) unter Beachtung der konkreten Umstände des Einzelfalles dann anzunehmen wäre, wenn eine schwerwiegende Behinderung ein weites Feld von Verweisungstätigkeiten versperren würde (BSG Urteil vom 10.12.2003 - B 5 RJ 64/02 R = SozR 4-2600 § 44 Nr 1; BSG Urteil vom 23.05.2006 - B 13 RJ 38/05 R = SozR 4-2600 § 43 Nr 9) und deshalb eine Benennung von konkreten Verweisungstätigkeiten durch die Beklagte erfordern würde, ist gleichwohl davon auszugehen, dass der Kläger die von der Beklagten vorsorglich benannten Verweisungstätigkeiten trotz seiner gesundheitlichen Einschränkungen auch ausüben kann. Bei den benannten Tätigkeiten als Packarbeiter, Montierer, einfacher Kontrolleur/Prüfer und Musterzusammensteller können die festgestellten qualitativen Leistungseinschränkungen des Klägers angemessen berücksichtigt werden, besondere Anforderungen an Kommunikations- und Hörvermögen bestehen hierbei nicht. Auch kommen diese Tätigkeiten nicht nur vereinzelt auf dem Arbeitsmarkt vor.

Dem SG ist des Weiteren dahingehend zu folgen, dass ein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI wegen fehlenden Berufsschutzes nicht in Betracht kommt. Der Kläger hat zwar in seiner Heimat die Tätigkeit eines Kraftfahrers ausgeübt, entsprechende Qualifikationen offenbar erworben und zuletzt die Tätigkeit als Busfahrer ca. 12 Jahre bis zu seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland auch ausgeübt, so dass er insoweit Berufsschutz erworben hatte (vgl. §§ 15, 16 Fremdrentengesetz - FRG - ; BSG SozR 3-220 § 1246 Nr 9, 38 und 49). Diesen Beruf hat er jedoch nach Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland am 02.11.1995 nicht mehr ausgeübt, obwohl er bereits am 25.02.1997 vom Landratsamt Bayreuth wieder einen Führerschein der Klasse 2 ausgestellt bekommen hatte, der ihn zum Führen eines LKW in Deutschland berechtigt hätte. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger nach Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland nachhaltig versucht hätte, die erforderlichen Qualifikationen im Bereich der Personenbeförderung zu erwerben oder eine Tätigkeit zumindest als LKW-Fahrer aufzunehmen. Insoweit hat sich der Kläger von seinem erlernten Beruf gelöst.

Offenbar hat der Kläger über das Arbeitsamt Bayreuth an einer sog. "Requalifizierungsmaßnahme für Spätaussiedler mit Führerschein Klasse BC im Herkunftsland zu LKW-Fahrern mit Perfektionstraining" teilgenommen und bei der Fahrschule Franz in Bayreuth einen entsprechenden Kurs absolviert, aufgrund dessen ihm am 25.02.1997 vom Landratsamt Bayreuth der Führerschein Klasse 2 zuerkannt wurde. Weitere Qualifikationsmaßnahmen hat der Kläger nicht absolviert. Vielmehr hat der Kläger dann am 15.05.1997 die Tätigkeit als Arbeiter in einem Sägewerk in P. aufgenommen und diese dann auch bis zur arbeitgeberseitigen Kündigung wegen Arbeitsmangel im Dezember 1997 ausgeübt. Der Kläger hat damit - selbst wenn er nach Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland im November 1995 noch Versuche unternommen hätte, seinen bisherigen Beruf wieder auszuüben - freiwillig ein geringerwertige Tätigkeit als Arbeiter im Sägewerk aufgenommen und sich damit spätestens zu diesem Zeitpunkt vom Beruf des Kraft- bzw. Busfahrers gelöst. Eine Lösung in diesem Sinne liegt nach der Rechtsprechung des BSG dann vor, wenn die Aufgabe der höherwertigen Tätigkeit vom Willen des Versicherten getragen wird, d. h. wenn der Versicherte seiner bisherigen Berufstätigkeit nicht mehr nachgehen will und sich endgültig einer anderen Berufstätigkeit zuwendet (BSG Urteil vom 25.04.1978 - 5 RKn 9/77 = SozR 2600 § 45 Nr 22). Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger nur vorübergehend die Tätigkeit im Sägewerk aufgenommen haben könnte, bestehen nicht. Es handelte sich nicht um eine befristete Tätigkeit. Bestrebungen zur Weiterqualifizierung oder zur Aufnahme einer Tätigkeit als Kraftfahrer während dieser Tätigkeit hat der Kläger nach eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung vom 28.06.2011 nicht unternommen. Nach der arbeitgeberseitigen Kündigung hat er sich lediglich arbeitslos gemeldet, aber sich nicht aktiv um eine entsprechende Tätigkeit bemüht. Die Aufgabe seiner höherwertigen Tätigkeit als Kraft- bzw. Busfahrer in der Sowjetunion war ebenfalls nicht aus gesundheitlichen Gründen erfolgt, sondern durch die Übersiedlung nach Deutschland bedingt. Auch hier unterblieb die Aufnahme dieser Tätigkeit nicht aus gesundheitlichen Gründen, sondern zunächst wegen des fehlenden Nachweises der entsprechenden Qualifikation. Die Beeinträchtigung des Hörvermögens hat sich nach den vorliegenden ärztlichen Befundberichten und HNO-ärztlichen Gutachten erst später rapide verschlechtert. Im Zeitpunkt der Aufnahme der Tätigkeit im Sägewerk im Mai 1997 wäre noch ein ausreichendes Hörvermögen für eine Tätigkeit als Kraftfahrer vorhanden gewesen. Soweit der Prozessbevollmächtigte des Klägers darauf hinweist, dass der Kläger gehalten gewesen sei, die Tätigkeit im Sägewerk aufzunehmen, um nicht die Leistungen der Sozialhilfe zu verlieren, von denen er und seine Familie leben mussten, ist dies sachlich unzutreffend. Der Sozialhilfeträger hatte den Kläger (und seine Ehefrau) seit Beginn des Leistungsbezuges im Mai 1996 angehalten, Nachweise über Eigenbemühungen zur Arbeitsaufnahme zu erbringen. Im Mai 1997 wurde ihm unter Androhung des Leistungsverlustes eine Tätigkeit im Bauhof der Stadt P. im Umfang von 20 Wochenstunden für "Garten- und Reinigungsarbeiten öffentlicher Verkehrsflächen in der Stadt P." angeboten. Hierfür war eine Vergütung von 2,00 DM pro Stunde vorgesehen. Diese zugewiesene Tätigkeit hat der Kläger nicht angetreten, weshalb dann mit Schreiben des Landratsamtes Bayreuth vom 04.06.1997 eine Anhörung wegen beabsichtigter Kürzung der Hilfe zum Lebensunterhalt erfolgte. Im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang steht die Aufnahme der Tätigkeit des Klägers im Sägewerk.

Aufgrund der Lösung vom qualifizierten Beruf des Kraftfahrers ist der Kläger im Rahmen des § 240 SGB VI auf Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verweisen, wobei ebenfalls die von der Beklagten vorsorglich benannten Verweisungstätigkeiten zu beachten wären. Aufgrund der im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholten Gutachten ist davon auszugehen, dass der Kläger zum Zeitpunkt des letztmöglichen Eintritts des Leistungsfalls der vollen oder teilweisen Erwerbsminderung am 30.04.2008 trotz der bei ihm bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen noch in der Lage gewesen ist, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen zu verrichten. Die vom Senat beigezogenen Befundberichte haben im Hinblick auf die Ertaubung des Klägers keine neuen Erkenntnisse gebracht, die Ertaubung war bereits zu Beginn des Rentenverfahrens vorgetragen und nachgewiesen worden. Eine wesentliche Änderung ist nicht eingetreten. Hinsichtlich der orthopädischen Leiden ist bis April 2008 keine wesentliche Verschlimmerung zu konstatieren. Der mit Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 27.06.2011 vorgelegte Befundbericht von Dr. B., wonach der Kläger im Juni 2010 einen Bandscheibenvorfall in der Lendenwirbelsäule (L5/S1) erlitten und sich deswegen in ärztlicher Behandlung befunden hat, belegt eine gesundheitliche Verschlimmerung außerhalb der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente, sowohl auf der Grundlage des § 43 SGB VI als auch des § 240 SGB VI, und vermag deshalb einen Rentenanspruch nicht mehr zu begründen.

Nach alledem war die Berufung gegen das Urteil des SG Bayreuth vom 30.11.2006 als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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