L 6 R 643/11 B PKH

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 3 R 1116/10
Datum
-
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 6 R 643/11 B PKH
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
wegen Prozesskostenhilfe
- zu den Voraussetzungen der Bewilligung einer Drogenentwöhnungstherapie bei Erkrankungen im Wege einer einstweiligen Anordnung
- Haftaussetzung zur Bewährung unter der Auflage der Durchführung einer Suchttherapie
- Kostenübernahme durch die erstangegangene gesetzliche Rentenversicherung
I. Auf die Beschwerde der Klägerin und Beschwerdeführerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 25. Mai 2011 aufgehoben.
II. Der Klägerin und Beschwerdeführerin wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Augsburg Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwältin I. M., A-Stadt, beigeordnet.



Gründe:


I.

Zwischen den Beteiligten ist die Verpflichtung der Beklagten zur Bewilligung einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme für Abhängigkeitserkrankte streitig.

Der 1961 geborene, alkoholabhängige Kläger ist türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Deutschland. Er bezieht derzeit Leistungen nach dem SGB II. Seit 1991 wurden bereits vielfach ambulante wie stationäre Maßnahmen der Alkoholentwöhnung durch die Beklagte gewährt, welche - soweit sie nicht schon vorzeitig abgebrochen wurden - allenfalls kurzfristig zu Alkoholabstinenz führten. Am 09.08.2010 beantragte der Kläger erneut die Übernahme der Kosten einer Alkoholentwöhnungsmaßnahme durch die Beklagte. Mit Bescheid vom 19.08.2010 und Widerspruchsbescheid vom 07.10.2010 lehnte die Beklagte nach medizinischen Ermittlungen eine Kostenübernahme ab, da nach den eingeholten ärztlichen Prognosen weitere Maßnahmen aufgrund der fehlenden Eigenmotivation keinen dauerhaften Erfolg gewährleisten würden.

Gegen diese Entscheidung erhob der Kläger am 03.01.2010 Klage zum Sozialgericht Augsburg (SG) und stellte Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Mit Schriftsatz vom 05.11.2010, bei Gericht eingegangen am 08.11.2010 bestellte sich die Bevollmächtigte des Klägers und übermittelte die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie einen Bescheid der ARGE für Beschäftigung A-Stadt-Stadt vom 31.06.2010, wonach der Kläger zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie für Unterkunft und Heizung Leistungen nach dem SGB II in Höhe von insgesamt Euro 727 monatlich bezieht.

Das SG zog die Akten der Beklagten bei und übermittelte dem Kläger einen Fragebogen zu aktuellen ärztlichen Behandlungen, Sozialleistungsbezug sowie beruflichen Verhältnissen. Der ausgefüllte Fragebogen wie auch die angeforderte Schweigepflichtenbindungserklärung gingen am 20.01.2011 bei Gericht ein. Da der Kläger angegeben hatte, im Jahr 2011 stationär im Bezirkskrankenhaus Sch. (A-Stadt) behandelt worden zu sein, forderte das Gericht mit Schreiben vom 26.01.2011 einen Befundbericht der Klinik an. Am 15.03.2011 wurde die Erstellung des Befundberichtes angemahnt. Nachdem immer noch kein Eingang zu verzeichnen war, mahnte SG mit Schreiben vom 27.04.2011 den Befundbericht letztmals an und teilte mit, dass anderenfalls im Rahmen einer mündlichen Verhandlung zu den entsprechenden Beweisfragen Zeugen zu vernehmen seien. In diesem Zusammenhang äußerte das Gericht wörtlich, "es ist auszuschließen, dass sich aus den Befundbericht für das Verfahren wesentliche Gesichtspunkte ergeben." Mangels Eingangs kündigte das SG dem BKH Sch. mit Schreiben vom 23.05.2011 an, nunmehr den Leiter der Klinik, Herrn Prof. Dr. Sch., als Zeugen zu vernehmen. Mit Telefax vom 22.05.2011 übermittelte das BKH Sch. einen ausführlichen, insgesamt sechsseitigen Befundbericht über zwei abgeschlossene und eine aktuell noch andauernde stationäre Behandlung des Klägers. Aus diesem Bericht ergaben sich neben der fehlenden Kooperationsbereitschaft des Klägers auch eindeutige Hinweise auf seine fehlende Motivation bezüglich abstinenzerhaltender Maßnahmen.

Mit Beschluss vom 25.05.2011 lehnte das SG die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab. Die Rechtsverfolgung biete im gegenwärtigen Zeitpunkt keine hinreichende Erfolgsaussicht. Für deren Beurteilung komme es auf den Zeitpunkt der Entscheidung an. Eine andere Betrachtungsweise würde sozialhilferechtlichen Grundsätzen widersprechen, wonach Leistungen nicht für die Vergangenheit und nur bei Vorliegen einer Bedarfslage erbracht werden dürften. Der Befundbericht zeige neben der Tatsache, dass der Kläger bereits in diesem Jahr wieder mehrfach rückfällig geworden war auch die sehr schlechte Veränderungsmotivation. In der Zusammenschau würde durch diese Fakten die Einschätzung der Beklagten untermauert.

Gegen die Entscheidung des SG legte die Bevollmächtigte des Klägers am 07.07.2011 Beschwerde beim Bayerischen Landessozialgericht ein. Der Kläger habe immer wieder aus freien Stücken versucht, vom Alkohol los zu kommen. Für einen langfristigen Erfolg benötige er jedoch professionelle Hilfe. Auch die Suchtberatung der Caritas A-Stadt halte eine Entzugsbehandlung für geboten und den Kläger für fähig, eine Therapie motiviert und erfolgreich zu Ende zu bringen.

Die Beklagte hält die Beschwerde im Hinblick auf die Ausführungen ihres Widerspruchsbescheids vom 07.10.2010 und den angegriffenen Beschluss des Sozialgerichts Augsburg für unbegründet.

II.

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

Nach § 73 a Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit den §§ 114 f Zivilprozessordnung (ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe. Voraussetzungen sind dabei neben einem Antrag, der Glaubhaftmachung der Bedürftigkeit und dem Ausschluss der Mutwilligkeit der Rechtsverfolgung eine hinreichende Aussicht auf Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung, § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Ist, wie im sozialgerichtlichen Verfahren, eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht vorgeschrieben, wird der Partei auf ihren Antrag ein zur Vertretung bereiter Rechtsanwalt ihrer Wahl beigeordnet, wenn die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint oder der Gegner durch einen Rechtsanwalt vertreten ist, § 121 Abs. 2 ZPO. Hinreichende Erfolgsaussicht ist gegeben, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Klägers aufgrund der Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit einer Beweisführung überzeugt ist. Das Gericht muss sich hierbei mit einer vorläufigen Prüfung der Erfolgsaussicht begnügen. Der Erfolg braucht zwar nicht gewiss zu sein, muss aber nach den bisherigen Umständen eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich haben. Ist der geltend gemachte Anspruch noch ungewiss und bedarf er einer weiteren Sachverhaltsaufklärung, ist dies ausreichend, um eine gewisse Erfolgsaussicht wahrscheinlich erscheinen zu lassen. Werden also weitere Ermittlungen von Amts wegen für notwendig erachtet, kann in der Regel Prozesskostenhilfe nicht verweigert werden (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 73a Nr. 7 ff. m.w.N.).

Unbeschadet der Frage, ob zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts bzw. der Motivation des Klägers neben der Einholung des Befundberichtes noch weitere Ermittlungen erforderlich sind - zu denken ist insbesondere an die Einholung eines Gutachtens nach § 106 SGG - wäre PKH bereits aus anderen Gründen zu gewähren gewesen. Entgegen der Auffassung des SG war nämlich vorliegend für die geforderte Erfolgsprognose nicht auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts abzustellen. Dies ist zwar regelmäßig der Fall (vgl. Thomas/Putzo, ZPO, 27. Aufl. 2005, § 119 Rdnr. 4; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, Rdnr. 7d zu § 73a m.w.N.), gilt jedoch dann nicht, wenn die Entscheidung durch das Gericht grundlos verzögert wird und sich zwischenzeitlich die Sach- oder Rechtslage beispielsweise - wie vorliegend - durch entsprechende Ermittlungen von Amts wegen zum Nachteil des Antragstellers geändert hat. In diesem Falle kommt es auf den Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Bewilligungsgesuches an (Hennig, SGG, § 73a Rdnr. 15; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, Kapitel VI Rdnr. 71; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 16.12.2001, L 8 B 71/01 RA PKH; BVerfG, Beschluss v. 26. Juni 2003, 1 BvR 1152/02). Die Entscheidungsreife ist i.d.R. gegeben, wenn der Antragsteller alle für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe erforderlichen Unterlagen übermittelt hat, insbesondere den vollständig ausgefüllten Vordruck über die Erklärung seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie die entsprechenden Belege (vgl. § 117 Abs. 2 und 4 ZPO).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend mit Eingang des Schriftsatzes der Klägerbevollmächtigten vom 05.11.2010 nebst Anlagen am 08.11.2010 erfüllt gewesen. Das SG hätte für die Frage, ob die Klage hinreichend Aussicht auf Erfolg bietet, den Sach- und Streitstand zu diesem Zeitpunkt zu Grunde legen müssen und nicht die bis Mai 2011 - also über ein halbes Jahr später - durch Ermittlungen von Amts wegen hinzugewonnenen Erkenntnisse berücksichtigen dürfen. Im November 2010 war gerade auch im Hinblick auf den vom SG zitierten Vortrag des Klägers im Widerspruchsverfahren - seine Situation habe sich geändert, es sei nun aus freien Stücken und eigenem Antrieb heraus für eine Therapie motiviert; er habe sich selbstständig entgiftet und möchte sein Leben grundlegend ändern - die fehlende Erfolgsaussicht einer weiteren Alkoholentwöhnungsmaßnahme noch nicht hinreichend klar erkennbar. Dementsprechend hielt es auch das SG für erforderlich, weitere Ermittlungen durchzuführen, insbesondere Auskünfte des Klägers einzuholen und einen Befundbericht anzufordern. Das Gericht selbst hat mit Schreiben vom 27.04.2011 die Auffassung vertreten, dass dieser Befundbericht wesentliche Gesichtspunkte zur Entscheidung des Rechtsstreits beitragen wird. Gerade auch vor diesem Hintergrund handelte sich bei der Einholung des Befundberichtes nicht um unerhebliche, weil lediglich ergänzende Erhebungen, um letzte Zweifel an der Unbegründetheit des Klageanspruches zu zerstreuen (vergleiche LSG BW; Beschluss vom 01.12.2005, Az.: L 10 R 4283/05 PKH B), sondern um entscheidungserhebliche Ermittlungen in der Sache.

Festzuhalten bleibt, dass unter Berücksichtigung des maßgeblichen Sach- und Streitstandes im Zeitpunkt der Entscheidungsreife des PKH-Antrags im November 2010 das SG dem Kläger Prozesskostenhilfe hätte gewähren müssen. Der Beschluss vom 25.05.2011 war dementsprechend aufzuheben. Da Anhaltspunkte für eine fehlende Bedürftigkeit aufgrund des nachgewiesenen Bezug von Arbeitslosengeld II nicht bestehen, wird Prozesskostenhilfe nunmehr im Rahmen der Beschwerdeentscheidung durch den Senat gewährt und die Prozessbevollmächtigte des Klägers beigeordnet.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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