L 2 U 383/10

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 8 U 16/10
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 383/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 245/11 B
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zum Vorliegen eines posttraumatischen Belastungssyndroms
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 9. August 2010 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund des Arbeitsunfalls vom 21. Februar 2005, d.h., ob eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sowie eine depressive Episode Folgen des Arbeitsunfalls sind und dem Kläger und Berufungsbeklagten ab 1. Januar 2006 eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H. und ab 1. November 2007 in Höhe von 30 v.H. zu bewilligen ist.

Der Kläger verbrühte und verätzte sich am 21. Februar 2005 mit heißer Reinigungslauge an der linken Gesichtshälfte, dem linken Auge, linken Ohr und an der linken Schulter. Es erfolgte eine stationäre Behandlung bis 2. März 2005 im Klinikum B-Stadt, B ... Aus einer Rehabilitationsmaßnahme wegen langjähriger Schmerzen der Wirbelsäule vom 29. Mai bis 19. Juni 2007 wurde der Kläger arbeitsfähig entlassen. Gemäß dem Entlassungsbericht bestanden eine Angst und depressive Störung gemischt, ein Lumbalsyndrom, ein Zervikobrachialsyndrom sowie Übergewicht. Vom 16. bis 22. Oktober 2007 wurde der Kläger stationär wegen eines Hyperventilationssydroms und Depression in den Kreiskliniken O. behandelt. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) stellte in einem Gutachten vom 21. Dezember 2007 ebenfalls eine Angst und depressive Störung gemischt sowie eine Anpassungsstörung bei Arbeitsplatzkonflikt und ein rezidivierendes Lendenwirbelsäulensyndrom fest. Es bestehe Arbeitsunfähigkeit auf Zeit. Auch der behandelnde Neurologe und Psychiater Dr. R. diagnostizierte eine generalisierte Angststörung (F41.1G). In seinem Bericht vom 8. März 2007 gab er an, dass er den Kläger bereits vor zwei Jahren wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung nach Arbeitsunfall behandelt habe.

Der von der Beklagten und Berufungsklägerin beauftragte Neurologe und Psychiater
Dr. B. stellte in seinem Gutachten vom 23. Juni 2008 fest, dass es durch den Unfall zu einer PTBS, einer Anpassungsstörung mit Angstsymptomatik sowie einer depressiven Symptomatik gekommen sei. Zwar lägen keine Folgen der Hautverletzungen mehr vor, im psychischen Bereich bestünden jedoch noch Ängste, Schlafstörungen und eine depressive Verstimmung. Unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit habe vom 21. Februar bis 15. Mai 2005 bestanden. Eine MdE sei nicht gegeben. Eine psychosomatische Behandlung wurde empfohlen.

Der Beratungsarzt Dr. N. empfahl der Beklagten in einer Stellungnahme vom 5. August 2008 eine MdE von 20 v.H. für die Zeit vom 16. Mai bis 31. Dezember 2005. Dabei ging er von einer akuten Belastungsreaktion und nicht von einer PTBS aus. Eine primär psychische Beeinträchtigung durch den Unfall sei bis Ende 2005 abgeklungen.

Im Rahmen einer stationären Behandlung vom 14. Oktober bis 2. Dezember 2008 in der I.-Klinik S. wurde der Kläger nach dem Entlassungsbericht vom 12. Januar 2009 u.a. wegen einer PTBS, einer Anpassungsstörung, Angst und einer depressiven Störung (gemischt) behandelt. Dr. N. vertrat in einer erneuten Stellungnahme vom 2. Juni 2009 die Ansicht, dass die stationäre Behandlung im Zusammenhang mit unfallunabhängigen psychischen Beeinträchtigungen gestanden habe. Die initialen Beeinträchtigungen seien zeittypisch nach dem Unfallgeschehen völlig abgeklungen; es sei eine Ausheilung eingetreten gewesen. Die nunmehr bestehenden psychischen Beeinträchtigungen mit verschiedensten somatischen Beschwerden seien als unfallunabhängig zu bewerten.

Vom 23. April bis 2. Oktober 2009 fand eine psychiatrische Behandlung in der Tagesklinik des Bezirkskrankenhauses A-Stadt statt. Nach dem Arbeitsunfall sei es mit einer gewissen Latenz zu einer deutlichen Veränderung der psychischen Stabilität gekommen. Es seien Verarbeitungsmechanismen aufgetreten, ferner würden glaubhaft Flashback- und Trigger-Situationen beschrieben.

Die Beklagte gewährte daraufhin mit Bescheid vom 13. August 2009 für die Zeit vom
17. Mai bis 31. Dezember 2005 eine Rente nach einer MdE um 20 v.H. Bis Ende 2005 seien unfallbedingte psychische Beeinträchtigungen mit Schlafstörungen abgeklungen. Unfallunabhängig bestünden dissoziative Störungen, eine Panikstörung, ein Bluthochdruck, Übergewicht, ein degeneratives Wirbelsäulensyndrom sowie Kopfschmerzen vom Typ Spannungskopfschmerz. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 2009 zurück.

Im Rahmen des Klageverfahrens hat das Sozialgericht ein Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. vom 5. März 2010 eingeholt, der als Folgen des Arbeitsunfalls eine PTBS sowie eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome beschrieben hat. Hierfür sei der Unfall die alleinige Ursache. Die MdE betrage ab 1. Juni 2006 40 v.H.

Dr. N. hat sich in einer umfangreichen Stellungnahme vom 27. April 2010 gegen das Gutachten gewandt. Es habe nach dem Unfallgeschehen lediglich vorübergehend eine psychische Beeinträchtigung bestanden, die einen unfalltypischen abnehmenden Verlauf gezeigt hätte. Im Rahmen eines Arbeitsplatzkonflikts im Jahre 2007 seien Beschwerden aufgetreten, die als Ausdruck einer psychischen Störung zu interpretieren seien, ohne dass ein Unfallzusammenhang wahrscheinlich zu machen sei.

In einer ergänzenden Stellungnahme vom 7. Juni 2010 hat Dr. H. an seinen
gutachterlichen Ausführungen festgehalten. Der Verweis des Dr. N. auf eine besondere Disposition des Klägers zu neurotischen Störungen sei unzutreffend. Ferner sei auf die primären Befundtatsachen der Erstbehandler abzustellen: Dr. R. habe bereits am 11. März 2005 über eine PTBS berichtet und dies auch später mehrfach bestätigt. Auch sei der Dekreszendoverlauf unfalltypisch zu erklären.

Dr. N. hat sich demgegenüber in einer weiteren Stellungnahme vom 12. Juli 2010 kritisch zu dem Gutachten und dem Gutachtensergebnis geäußert.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 9. August 2010 unter Abänderung des Bescheides vom 13. August 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Dezember 2009 festgestellt, dass die PTBS und die depressive Episode, gegenwärtig schwer, Folgen des Arbeitsunfalls vom 21. Februar 2005 sind; es hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 2006 Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. und ab 1. November 2007 nach einer MdE von 30 v.H. zu bewilligen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Sozialgericht ist dabei weitgehend dem Gutachten des Dr. H. gefolgt. Allerdings sei eine MdE von 40 v.H., die der Sachverständige angenommen habe, zu hoch angesetzt.

Zur Begründung der hiergegen von der Beklagten eingelegten Berufung hat diese ausgeführt, dass die Voraussetzungen für eine PTBS, wie sie Dr. H. als gegeben angesehen hat, nicht vorlägen. Sie hat auf die Ausführungen des Dr. N. verwiesen. Danach hätten die Erkrankungen des Klägers zunächst einen Verlauf genommen, der ab 31. Dezember 2005 keine MdE mehr begründe. Es sei nachgewiesen, dass bis Anfang des Jahres 2007 keine Befundtatsachen mehr bestanden hätten, die auf eine seit Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit fortbestehende, unfallbedingte psychische Beeinträchtigung hinweisen könnten. Das Aufleben der psychischen Beschwerden stehe direkt mit Schwierigkeiten des Klägers am Arbeitsplatz im Zusammenhang. Das Sozialgericht sei dem Gutachten unkritisch gefolgt und habe entgegen den Kriterien für das Vorliegen einer PTBS diese als durchgängig dokumentiert angesehen.

Der Kläger hat eine Erklärung des Bezirkskrankenhauses A-Stadt (Dr. E.) vom
3. November 2010 vorgelegt. Es gebe danach eine Reihe von Hinweisen darauf, dass Symptome einer PTBS durchgehend seit dem Unfall bestanden. Ferner hat der Kläger weitere Arztberichte vorgelegt.

Die Beklagte hat eingewandt, dass sich Dr. E. ausschließlich auf die subjektiven Angaben des Klägers stütze. Die PTBS sei bis Ende 2005 abgeklungen. Bis Anfang 2007 hätten sich keine objektiven Befundtatsachen ergeben, die auf ein Fortbestehen einer psychischen Störung hinweisen könnten.

Einen Antrag der Beklagten auf Aussetzung der Vollstreckung hat der Senat mit Beschluss vom 2. November 2010 abgelehnt (Az.: L 2 U 380/10 ER).

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 9. August 2010 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 13. August 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Dezember 2009 abzuweisen, hilfsweise eine weitere Begutachtung auf neurologisch/psychiatrischem Fachgebiet durchzuführen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Im Übrigen wird gemäß § 136 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf den Inhalt der Akte der Beklagten sowie die Klage- und Berufungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), aber unbegründet; auch war dem Hilfsantrag nicht statt zu geben. Das Sozialgericht hat zutreffend als weitere Folgen des Arbeitsunfalls vom 21. Februar 2005 eine PTBS und depressive Episoden, gegenwärtig schwer, festgestellt und die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine Verletztenrente nach
§ 56 des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VII) nach einer MdE um 20 v.H. vom 1. Januar 2006 bis 31. Oktober 2007 und um 30 v.H. ab 1. November 2007 zu gewähren.

Auch der Senat folgt dem schlüssigen Gutachten des Dr. H ... Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird abgesehen, da der Senat die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist (§ 153
Abs. 2 SGG).

Ergänzend ist noch darauf hinzuweisen, dass auch das Vorbringen der Beklagten im Berufungsverfahren zu keiner anderen Beurteilung der Sach- und Rechtslage führen konnte. Insbesondere liegt eine unfallbedingte PTBS vor. Nach den anerkannten Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) muss hierfür ein "belastendes außergewöhnliches Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde", vorliegen (ICD 10 F 43.1). Ein derartiges schwerwiegendes Ereignis ist in dem Unfall beim Öffnen der unter Druck stehenden Rohrverschraubung am Kocher mit heißer Reinigungslauge zu sehen, als die heiße Lauge den Kläger in der linken Gesichtshälfte einschließlich dem Auge und Ohr sowie an der linken Schulter verätzte und verbrühte.

Der behandelnde Psychiater Dr. R. hat bereits am 11. März 2005 eine PTBS diagnostiziert. Auch in der Folgezeit liegen diesbezüglich objektive Befunde vor. Das psychosomatische Konzil während der Reha-Maßnahme im Mai/Juni 2007 ergab, dass seit dem Arbeitsunfall eine Ängstlichkeit besteht. Auch bei Dr. R. schilderte der Kläger dieselben Symptome wie 2005, wie sich aus dem Befundbericht vom 8. März 2007 ergibt.
Dr. B. diagnostizierte in dem Gutachten vom 23. Juni 2008 ebenfalls eine PTBS, ferner eine Anpassungsstörung mit Angstsymptomatik und depressiver Symptomatik. Die psychischen Beschwerden, insbesondere die Angst, Schlafstörungen mit Träumen vom Unfall, Ängste bei Kontakt mit heißem Wasser und auch die depressive Symptomatik sind auch nach Ansicht des Dr. B. Folgen des Unfalls.

Zutreffend weist die Beklagte allerdings unter Bezug auf die Stellungnahmen des
Dr. N. darauf hin, dass zwischen 2005 und 2007 eine Besserung der psychischen Beschwerden aufgetreten ist. Üblicherweise dauert der akute Verlauf einer PTBS weniger als drei Monate. Eine längere Dauer ist jedoch nicht ausgeschlossen: bei längerer Dauer ist von einer chronischen PTBS auszugehen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl., S. 144). Dabei belegt Dr. H. glaubhaft, dass auch der beim Kläger zu beobachtende Dekreszendoverlauf unfalltypisch zu erklären ist. Die PTBS, die nicht ausgeheilt war, sondern sich nur gebessert hatte, wurde durch das Erfordernis, wieder mit heißem Wasser arbeiten zu müssen, wieder aktiviert. Es kam zu einer Retraumatisierung mit der Aktivierung der Kernsymptome einer PTBS. Auch nach den klinischen Berichten sind Flashback- und Trigger-Symptome belegt. Hierin liegt nach Überzeugung des Senats die Ursachenkette für die Probleme am Arbeitsplatz mit Arbeitsunfähigkeitszeiten und Kündigung begründet.

Die Festlegung der Höhe der MdE auf zunächst 20 v.H. und ab 1. November 2007 auf
30 v.H. durch das Sozialgericht entspricht einem üblicherweise zu beobachtenden Störungsbild (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 157), zumal als Unfallfolge auch begleitend eine sich entwickelnde depressive Episode, gegenwärtig schwer, anzuerkennen und zu berücksichtigen war. Eine Anschlussberufung des Klägers liegt insoweit nicht vor.

Auch dem allgemein gehaltenen Hilfsantrag der Beklagten auf Einholung eines weiteren Gutachtens auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet war nicht statt zu geben. Der medizinische Sachverhalt war auf diesem Fachgebiet durch die Gutachten des Dr. B. und Dr. H. umfassend aufgeklärt. Diese berücksichtigten die umfangreichen ärztlichen Berichte, die den Ablauf der psychischen Beschwerden dokumentieren. Vor allem das Gutachten des Dr. H. würdigt diese Befunde. Dabei steht das Gutachten im Einklang mit der Ansicht der behandelnden Ärzte und Kliniken, dass die Symptome einer PTBS seit dem Unfallgeschehen durchgehend vorhanden waren. Dies bestätigte sich zuletzt durch die im Berufungsverfahren vorgelegte Bescheinigung des Bezirkskrankenhauses A-Stadt. Weitere medizinische Ermittlungen waren daher weder aufgrund des Hilfsantrags noch von Amts wegen nach § 106 SGG veranlasst.

Die Kostenfolge stützt sich auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Berufung durch die Beklagte ohne Erfolg geblieben ist.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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